Presse 18. 05. 2014

Was Kinder krank macht – Zum dritten Todestag von Wolfgang Bergmann

Am 18. Mai 2011 starb der Pädagoge und Familientherapeut Wolfgang Bergmann, überregional bekannt geworden für den Einsatz für kinderzentrierte und bindungsorientierte Erziehung. Seitdem fehlt seine Stimme sehr, denn Wolfgang Bergmann sah die seelische und körperliche Gesundheit von Kindern gefährdet. Er kritisierte die Politk, die bis dato die gesundheitlichen Folgen verkannt bzw. ignoriert hatte. Was hat sich in der vergangenen drei Jahren getan?

Mitte März 2014 zitiert die Süddeutsche einen Vertreter der Kinderärzte: „Unser Problem ist die zunehmende Zahl der sogenannten neuen Kinderkrankheiten“, klagt Uwe Büsching, Kinderarzt in Bielefeld und Vorstand im Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). Nicht mehr akute Kinderkrankheiten wie Masern, Röteln und Mumps seien heute das Problem, sondern die steigende Zahl an Depressionen, Angst- und Schlafstörungen sowie psychosomatischen Störungen (1).  Dass endlich auch die Kinderärzte auf den besorgniserregenden Gesundheitsstatus unserer Kinder aufmerksam geworden sind, würde Begmann begrüßt haben nach dem Motto: Besser spät als nie.

Der Zusammenhang  zwischen der kurzen Gymnasialzeit, dem steigenden Leistungsdruck und den o.g. Erkrankungen von Kindern, liegt auch für Bildungs- und Gesundheitswissenschaftler Klaus Hurrelmann von der Hertie School of Governance in Berlin auf der Hand.  Als Motive für Verkürzung und Verdichtung von Bildung auf allen Ebenen, in Schulen in Form des sog. „G8“, nennt Hurrelmann zwei Faktoren, den Nachwuchskräftemangel der Wirtschaft, sowie die Versorgungsansprüche der Generation 60 plus, die auf eine stabile Zahl von Beitragszahlern angewiesen ist.  Wenn Jahrgänge schrumpfen, die Zahl der Kinder abnimmt, dann muss die nächste Generation  mit Schule und Ausbildung eben zügiger durch sein, früher berufstätig werden und schneller in ein Alterssicherungssystem einzahlen, Geld, von dem nicht sie selbst in der Zukunft profitieren, sondern welches die jetzigen Alten versorgt.

Und weil das alles noch nicht reicht, hat man durch Einführung und Subventionierung der frühen Gruppentagesbetreuung dafür gesorgt, dass auch die Mütter kleiner Kinder weniger Zeit in innerfamiliäre Arbeit investieren, sondern schnellstens in Erwerbstätigkeit zurückkehren. Die gesundheitlichen Negativfolgen zeigen sich nicht nur in der Statistik von Mütterdepressionen sondern auch in den oben genannten „neuen Kinderkrankheiten“ mit entsprechend ansteigenden Fallzahlen unter immer jüngeren Kindern.  Ganz abgesehen von dem individuellen Leid, wie groß ist die Chance, dass Menschen, die schon als Kinder und Jugendliche an Depressionen, Angst- und Schlafstörungen leiden, früh und lange in Alterssicherungssysteme einzahlen?

Wolfgang Bergmann hatte diesen gesellschaftlichen Erosionsprozess seit langem erkannt und angemahnt. Er forderte mehr Anerkennung, Zeit und Geld für Familien  als unersetzliche Instanz der Kinderentwicklung im Kleinkindalter und mehr Raum für die freie Entfaltung der kindlichen Eigenheiten und Stärken, für Kreativität und Phantasie statt staatlich reguliertes „Streamlining“.

Heute, drei Jahre nach seinem Tod, wäre zwar kein früher aber ein guter Zeitpunkt, sich auf Bergmanns Worte zu besinnen und Konsequenzen für eine Neuausrichtung der Politik zu ziehen.

Dr. Dorothea Böhm

(1)  Jugendmedizin – Die Schule macht die Schüler krank, Süddeutsche