Presse 11.10.2012
Sehr geehrte Damen und Herren,
Sie haben als Unterzeichnende in der ZEIT, Ausgabe 40 vom 13.9.2012, den Appellcharakter-Beitrag „Zurück in die Vergangenheit“ veröffentlicht, einen Tag vor der entsprechenden Anhörung im Deutschen Bundestag. Im Umkehrschluss lautet Ihre Forderung, man solle „weiter in die Zukunft“ gehen, nicht wahr? Genau welche Zukunft meinen Sie? Die mit noch weniger Kindern, oder die mit noch mehr Scheidungen, mehr Übergewichtigen, mehr Depressionen und mehr Menschen mit Burn-Out?
Die finanzielle Situation von Müttern und Vätern ist in der Tat beklagenswert und muss dringend verbessert werden, aber doch bitte nicht dadurch, dass man Eltern weiter ausbeutet. Selbsterziehende Eltern leisten wertvolle Arbeit, die der Gesellschaft zwangsweise gespendet wird. Weiterhin müssen Eltern die (immer weiter gestiegenen) Alltagsverbrauchskosten für ihre Kinder fast alleine bestreiten. Das Ergebnis: Selbsterziehende Eltern sind zu jeder Zeit im Leben ärmer als gleichaltrige Kinderlose. Mit jedem Kind wächst die Familienarmut. Das ist nichts anderes als Beraubung, und es schadet Eltern und Kindern. Die Lebens- und Entwicklungschancen von Kindern armer Eltern sind stark gemindert, siehe die im Mai 2007 veröffentlichte Basispublikation der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, KIGGS.
Einfacher und schneller Ausgleich der finanziellen Schieflage zu Lasten von Familien wäre z.B. durch ein ausreichend dimensioniertes Kindergrundeinkommen erreichbar. Es könnte durch Umlenkung überflüssiger Subventionen finanziert werden, Krippensubventionen etwa. Man würde damit drei Ziele erreichen: Familien wären finanziell nicht länger die Kirchenmäuse der Gesellschaft, Mütter und Väter hätten mehr zeitlichen und kräftemäßigen Spielraum für die Kindererziehungsarbeit, und sie bekämen, was jedem zusteht, einen finanziellen Gegenwert für ihre Arbeitsleistung. Gleichzeitig entsteht Gestaltungsfreiraum: Eltern, die ab einem bestimmten Zeitpunkt einer Berufstätigkeit nachgehen wollen, hätten ausreichende Mittel zur Verfügung, eine andere Person oder auch Institution mit der Betreuung ihrer Kinder zu beauftragen und diese externe Arbeitsleistung zu finanzieren.
Beim Absatz über „gute pädagogische Kindertagesbetreuung“ lassen Sie unerwähnt, dass dieses Argument nur für den Ü3-Bereich greift, also für Kinder ab 3. Geburtstag in Kindergärten, und natürlich auch nur, wenn diese Einrichtungen sehr gut ausgestattet und geführt sind.
Für die U3-Kinder, also für die ersten drei Lebensjahre, sind Ihre Argumente rundheraus unzutreffend und irreführend. Der kognitive Nutzen von Krippenbetreuung ist – sofern überhaupt vorhanden – erschütternd winzig, und Krippenbetreuung wirkt sich außerdem auch noch negativ auf die psychoemotionale Entwicklung aus. Diese Zusammenhänge dürfen Sie keinesfalls unterschlagen, wenn Sie einen solchen Aufruf unterschreiben und veröffentlichen! (Ich gräme mich darüber, dass Sie sich als Mitglieder der Bildungsoberschicht vor Ihrer Unterschrift offenbar so wenig über den aktuellen Stand der Stressforschung informiert haben, und noch mehr schmerzt mich, dass sogar einige wenige Entwicklungspsychologen unter Ihnen sind, die die genannten Zusammenhänge kennen mussten und wider besseres Wissen unterschrieben haben).
Eltern müssen dem Stand der Wissenschaft entsprechend über die Risiken von Krippenbetreuung aufgeklärt werden. Mütter und Väter müssen vor der Betreuungsentscheidung erfahren, dass ihre Kinder, je früher und länger sie sich in Tagesgruppenbetreuung befinden, lebenslang umso reizbarer, stressanfälliger, aggressiver und impulsiver werden, weil sie während einer sensiblen Hirnentwicklungsphase unter dem Einfluss von massivem chronischem Stress gestanden haben werden. Objektivierbar wird dieser Stress anhand der in Speichelproben messbaren Cortisoltagesprofilwerte, die für Krippenkinder sehr ähnlich verändert sind wie bei Kindern, die misshandelt, missbraucht oder grob vernachlässigt werden. Wenn man die physiologischen Werte vergleicht, dann muss man schlussfolgern: Krippenbetreuung ist Kindesmisshandlung.
Nicht alle Menschen sind angemessen fürsorgliche Eltern, aber 98% sind es, auch in den sog. bildungfernen Schichten. Statistisch gesehen sind U3-Kinder in den ersten drei Lebensjahren mit Abstand am besten in ihren Familien aufgehoben. (Zu den Details der diesbezüglichen Forschung möchte ich Sie auf das Fachportal Bildung und seelische Gesundheit verweisen). Wir sollten aufhören zu subventionieren, was Kindern schadet. Nach dem Suffizienzprinzip müssten finanzielle Mittel deutlich verstärkt in den Arbeitsbereich Familie fließen.
Das Betreuungsgeld ist nur insofern falsch, als es viel zu niedrig ist und zu kurz gezahlt wird. Selbsterziehende Eltern in Vollzeit verrichten eine wertvolle Arbeit, die allen, auch Kinderlosen, zugute kommt, weil Kinder später nicht (wie vormals) nur ihre Eltern versorgen sondern die späteren Rentenerwirtschafter für die gesamte Gesellschaft sind. Familiäre Erziehungsarbeit gehört aufwandsangemessen finanziert und Kinderalltagsverbrauchskosten gehören gesamtgesellschaftlich getragen.
Das wäre gerecht, familienfreundlich und kinderförderlich.
So geht moderne Familienpolitik.
Mit Dank für die Kenntnisnahme und freundlichen Grüßen,
Dorothea Böhm