Presse 28. 02. 2016

Kindergesundheit und Finanzgerechtigkeit für Familien!

an die Mitglieder des Deutschen Ethikrats

Sehr geehrte Frau Professorin Woopen, sehr geehrte Damen und Herren,

Gesundheit, Entwicklung und Wohlergehen von Kindern sind elementare ethische Anliegen und von dem Geschick der Eltern nicht zu trennen, dies gilt umso stärker, je jünger Kinder sind. Statt mit der Förderung von kindlichem Wohlergehen beschäftigt sich die Bundesfamilienpolitik fast ausschließlich mit der sog. Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dabei wird als „Familienförderung“ etikettiert, was die familiäre Beziehungszeit verknappt und das Familiengefüge unter Kraftverlust- und Zeitnot setzt.

Es gibt inzwischen etliche Daten zu den Auswirkungen der U3-Betreuung, z.B. die sog. Quebec-Studie von Baker, Gruber und Milligan (www.nber.org/papers/w11832.pdf und https://www.nber.org/papers/w21571.pdf) oder auch die sog. NICHD-Studie (Zusammensfassung), beides riesige Langzeitstudien. Verweisen möchte ich hierzu auf den Essay „Die dunkle Seite der Kindheit„, FAS April 2012 bzw. den analogen pädiatrischen Fachartikel „Auswirkungen frühkindlicher Gruppenbetreuung auf die Entwicklung und Gesundheit von Kindern von 2011.

Es gilt als erwiesen, dass psychosoziale Belastungsfaktoren in Kindheit und Jugend (Adverse Childhood Experiences (ACE), Felitti 2002, PDF-Anhang 2) als ernste und lebenslang wirksame Risiken für die psychische und körperliche Gesundheit in Form der sog. Zivilisationskrankheiten (Depression, Übergewicht, Bluthochdruck, psychosomatische und (auto)immunologische Krankheiten etc.) anzusehen sind. (Gerade wurde der Bestseller des international renommierten Traumaforschers Bessel van der Kolk „The body keeps the score“ ins Deutsche übersetzt: „Verkörperter Schrecken„).

Jeder Einflussfaktor, der im Altersbereich U3 zu chronischer Stressbelastung führt, erfüllt die ACE-Kriterien, und dazu gehören nicht nur die „Klassiker“ (Misshandlung, Vernachlässigung, Drogensucht, Haft oder Tod von Bezugspersonen), sondern auch der Faktor regelmäßige stundenlange Trennungen von der primären Bezugsperson. Physiologisch objektivierbar werden ACE-Effekte durch die pathologischen Veränderungen der Cortisol-Tagesprofile der Kinder, und die treten sogar in „qualitativ guter“ U3-Betreuung auf, wie unter anderem in der sog. Wiener Krippenstudie (Datler, Ahnert, Eckstein 2010) gefunden wurde (Bericht in Frankfurter Rundschau).

Im Endbericht des Moduls Wohlergehen von Kindern 2013 (erstellt im Auftrag des Bundesfamilienministeriums) stellen die Autoren fest, dass „ökonomische Belastung…einen vergleichsweise deutlichen Zusammenhang mit dem Wohlergehen von Kindern“ zeigt (S. 156), und zwar einen negativen. Eine Reduktion der ökonomischen Belastung von Familien bei gleichzeitiger Anhebung der intragenerationalen Gerechtigkeit wäre durch finanzielle Gleichstellung von Eltern und Kinderlosen zu erreichen.

Der Sozialrichter a.D. Jürgen Borchert beklagt seit Jahrzehnten doppelte Kinderarmut (Armut an Kindern, Armut von Kindern) und mahnt finanzielle Gerechtigkeit für Familien an, zuletzt in seinem Buch „Sozialstaatsdämmerung„. In 2015 initiierte er mit dem Deutschen Familienverband die Aktion Elternklagen.de („Wir jammern nicht, wir klagen!“)

Gesellschaftliches Wohlergehen und allgemeine Gesundheit könnten mit Finanzgleichstellung von Eltern und Kinderlosen rasch angehoben werden, die jahrzehntelange (bedauerlich effektive) Kinderzahlreduktionspolitik (Messwert: Geburtenrate!) würde prompt korrigiert (angesichts der Demografiesituation überfällig!), innerfamiliäre Care-Arbeitsleistungen würden nicht mehr an die Gesellschaft verschenkt werden müssen, es würde echte Wahlfreiheit bestehen und der grundgesetzliche Auftrag von §6 GG erfüllt werden.

Weil die genannten Ziele – mit ernsten Auswirkungen für Demografie und Gesundheit – nicht nur verfehlt sondern systematisch konterkariert werden, möchte ich hiermit anregen, dass der Ethikrat sich so bald wie möglich an die Seite der Kinder und Eltern stellt und die Themen Finanzgerechtigkeit für Familien sowie Förderung von Kinderwohlergehen auf die Agenda setzt.

Mit Dank und freundlichen Grüßen,

Dr. med. Dorothea Böhm