In einem Festakt an der Goethe Universität Frankfurt wurde am 26. Mai 2013 der Matějček Preis an Dr. Norbert Blüm verliehen.
Er untersuchte speziell Kinder, die einen großen Teil des Tages in öffentlichen Tageseinrichtungen verbrachten und stellte bei diesen Kindern schwerwiegende psychische Fehlentwicklungen fest, die er auf eine fehlende Zuwendung und mangelnde Bindung an eine Bezugsperson, vor allem die Mutter, zurückführte.
Norbert Blüm als Anwalt von Familie, Ehe und Kindern
In seiner Laudatio betonte Dr. Christean Wagner, Vorsitzender der CDU im Hessischen Landtag, das vielfältige ehrenamtliche Engagement Norbert Blüms für Kinder und Familien. Er habe immer vom Menschen aus gedacht und den Mut, die zunehmende Verstaatlichung der Kindheit zu thematisieren.
Familie als „Bastion der Freiheit“
An den Beginn setze ich ein herzliches Dankeschön, Ihnen, die Sie mir diesen Preis verleihen und Ihnen, Herr Wagner, dass Sie so schön über mich geredet haben – herzlichen Dank.
Ich möchte Ihnen für diesen Preis nochmal meine Vorstellungen von Ehe und Familie vortragen.
Ehe und Familie sind der Stabilisator der menschlichen Entwicklung.
Ehe und Familie sind der Stabilisator des menschlichen Zusammenlebens.
Ehe und Familie sind Bedingungen der Humanität.
Der Mensch ist das schwächste unter allen Lebewesen, er kommt zu früh zur Welt, wie Portmann (1) nachgewiesen hatte. Er ist noch gar nicht fertig, kein Instinkt sichert unser Überleben, wir sind wie kein anderes Lebewesen auf andere angewiesen, auf die Familie. Deshalb hat René König (2), einer der bedeutendsten Soziologen, gesagt: „Die Familie ist die zweite Geburtsstätte des Menschen“. Der Mensch besteht nämlich nicht nur aus Natur, da hätte er das Neandertal nicht verlassen, er wäre damals dort schon umgekommen, nur mit Hilfe des Nests ‚Familie‘ überlebte er.
Diese unsere Schwäche, diese Unangepasstheit, ist ja gleichzeitig auch unsere Stärke. Denn wie kein anderes Lebewesen sind wir unter allen möglichen Bedingungen des Klimas überlebensfähig. In der Eiseskälte der Arktis wie unter der glühenden Sonne der Sahara – dank unserer Kultur. Dank, dass unsere Natur nicht nur aus Biologie besteht, sondern auf kulturelle Ergänzungen angewiesen ist. Und in diesem Klima, in dieser Geburtsstätte des Menschen, ist Ehe und Familie unverzichtbar. Sie war immer umkämpft, aber sie hatte schon von Frühzeiten diese Paarbeziehung mit Kindern. Selbst in der Großfamilie war sie der Kern der menschlichen Gesellung. Selbst als die Menschen in großen Familien zusammen lebten, gab es die Kernfamilie in der Großfamilie; und immer war sie umkämpft bis in die jüngste Zeit.
Merkwürdigerweise, die großen Diktatoren, jedenfalls jene, die nicht nur den Ehrgeiz hatten, die Menschen zu regieren, sondern sie zu besitzen, alle großen Gewaltherrscher haben den Angriff auf die Familie gestartet. Ob sie hießen: Hitler, Stalin, Pol Pot – Warum? Weil die Familie ein Widerstandsnest ist gegen die totale Verfügung des Menschen, gegen den Zugriff der Macht. Sie ist eine unverzichtbare Bastion der Freiheit.
Aber diese Familie wird keineswegs nur durch die großen ideologischen Imperialisten dahinsiechen, die nicht Regionen erobern, sondern den Menschen, die nicht nur diesem Frontalangriff ausgesetzt sind, sondern einer schleichenden Entfunktionalisierung. Die Gefahr, die ich sehe, ist nicht dieser Frontalangriff, sondern ein lautloses Auslaufen des Modells: Familie. Ein lautloses Auslaufen durch ihre Entfunktionalisierung!
Der neoliberale Begriff des “Outsourcings”, den kann man bei der Familie nachweisen. Nachwuchs, eine der Vitalfunktionen der Familie – die ist nicht mehr auf Nachwuchs, ist nicht mehr auf Familie angewiesen… und zwar nicht als Ausnahme, sondern durch den irrationalen Ehrgeiz. Eine Entwicklung, die bis zum künstlichen Menschen hinführen kann. Dann ist Elternschaft eigentlich hinderlich. Es lässt sich eine Gesellschaft denken, die programmiert ist, nicht von Eltern, sondern von den Programmierern. Die lässt sich sogar so programmieren, dass jeder für den Platz präpariert wird, für den die Gesellschaft ihn vorgesehen hat. Wer Stabilität im Sinne von Verzicht auf Freiheit zum Ziel hat, wer Stabilität nur als Gefühl des Wohlbefindens im Sinn hat – der soll es so machen. Das ist eine Gesellschaft möglicherweise mit hoher Zufriedenheit. Es gibt kein Aufstiegsverlangen, keine Abstiegsängste. Es ist jeder da, wofür er vorgesehen ist. Und sollte es auch Fehlproduktionen geben, da kann man auch sanft pharmakologisch nachhelfen. Es gibt so gut wie für alles diese psychischen Hilfsmittel. Bist du depressiv, kannst du pharmakologisch aufgerüstet werden, bist du überaktiv, kannst du gedämpft werden, abends mit Schlaftabletten ins Bett, morgens mit `Hallo-wach´ wieder auf – sieh‘ zu, dass du sie nicht verwechselst – so lässt sich eine wohltemperierte Gesellschaft herstellen – auch mit hohem Zufriedenheitsfaktor. Für ganz schwierige Fälle haben wir dann noch die Hirnchirurgie, für kurzzeitige Abweichungen der Menschheit, die von der Zentrale gelenkt wird mit Impulsen ganz geräuschlos.
Wenn wir die Gesellschaft der ‚glücklichen Idioten‘ haben wollen, dann müssen wir die Familie abschaffen! Es lässt sich eine Gesellschaft glücklicher Idioten herstellen. Es fragt sich, was wir unter Glück bezeichnen. Meiner Glücksvorstellung entspricht das nicht! Zu meiner Glücksvorstellung gehört die Fähigkeit des Menschen, Verantwortung zu übernehmen, zu versagen, Schuld auf sich zu nehmen, wieder gut zu machen, Versöhnung. Das große Abenteuer des Lebens hat mit Freiheit und Verantwortung zu tun.
Das zweite Outsourcing ist: Erziehung. Brauchen wir die Eltern noch für eine Erziehung? Brauchen wir noch Mutter und Vater? Ich sehe einen geradezu hektischen Ehrgeiz, möglichst früh die Kinder in die Obhut der Experten zu übergeben. Mir hat Frau Schmidt, ehemalige Bundesministerin (3), im Zusammenhang mit der Diskussion über das Betreuungsgeld gesagt, das sei ein Beitrag zur Entprofessionalisierung der Erziehung. Daraus kann ich nur entnehmen, Mama und Papa sind Dilettanten und die eigentliche Kennerin der Familie ist die 20-jährige Sozialarbeiterin, die zwei Semester Psychologie studiert hat.
Ich habe den Verdacht, dass niemand das Kind so gut kennt wie Mutter und Vater.
Welcher Hochmut, welche Arroganz in diesem, in dieser Verstaatlichung der Kindheit liegt! Wie hat der Vorsitzende des deutschen Gewerkschaftsbundes gesagt: das sei notwendig – diese frühestmögliche Erziehung – für die bildungsfernen Familien sei das unverzichtbar. Ich bekenne, ich komme aus einer sehr bildungsfernen Familie, mein Vater war Autoschlosser. Meine beste Universität war aber meine Familie. Da habe ich nämlich etwas gelernt, was ich auf keiner Universität gelernt habe: Rücksichtnahme, Anstand, Solidarität. Und wenn es nach Bildungsferne und Bildungsnähe geht, und wird das gar an Einkommenshöhen festgemacht, da stelle ich fest, dass in den ganz bildungsnahen einkommensstarken Familien keineswegs die Bildung besser aufgehoben wird, wie sie bei meiner Mutter und meinem Vater war.
Ich muss mal die Arbeiterbewegungen, aus der ich komme und auf die ich stolz bin, verteidigen gegen die Arroganz von Funktionären. Natürlich, wenn Sie mich fragen, ich bin auch für ein Angebot für Kinder, die frühe Unterstützung und Hilfe brauchen. Es kann Situationen geben, wo solche Hilfe notwendig ist, aber aus dieser Ausnahme die Regel zu machen, das ist eine Verwechslung der Normalität.
Aber der Imperialismus setzt sich ja fort, die Kindheit wird von der Schule vereinnahmt. Meine Enkel – das ist ja mein Lehrmaterial – ich sehe sie morgens um 7:00 Uhr das Haus verlassen und abends gegen fünf / sechs erschöpft und aus der Ganztagsschule zurückkehren. Wenn ich zusammenzähle, sind meine Enkel länger in der Schulzeit als ihr Vater in der Arbeitszeit. 15-jährige werden durch das Jugendarbeitsschutzgesetz geschützt gegen Überforderung. Wer schützt eigentlich die Kinder gegen Überforderung von Schulen… Der Ehrgeiz dieser allumfassenden Pädagogik besteht darin, auch jede mögliche schulfreie Zeit noch zu besetzen. Jetzt wird auch noch Ferienzeit zum Schulangebot.
Ferien, ich muss sagen, das war ein Hauptgrund meiner Schulzeit. Ich konnte sie gar nicht erwarten. Wenn es zu lange gedauert hat, war ich aber wieder froh in die Schule zurückzukehren; aber diese Freude – weg damit! Immer in der Schule, von der Wiege und am besten bis zur Bahre, alles verschult. Und die Schule selber: sie bietet inzwischen alles. Es gibt ja kaum ein Thema, was nicht in der Schule auch gelehrt wird: Ernährungswissenschaften, alles – auch Unterhaltung.
Meine Tochter ist Lehrerin und im Angebot ihrer Schule – die steht ja im Wettbewerb, deshalb muss die auch den Eltern was bieten – die bietet dann auch nächtliche Übernachtung der Kinder in der Schule mit der Lehrerin an. Was haben die Eltern denn noch anzubieten an Abenteuer? Was ist da noch? Ist alles weg…
Familie ist nichts anderes, wenn sie Glück hat als die Schaf-, Schlafstätte der Kinder.
Und… Sie können es ruhig weitersagen: Das meiste was ich gelernt habe, habe ich nicht in der Schule gelernt. Ich habe auf der Straße mehr gelernt als in jedem Schulgebäude. Ich habe gelernt von Spielkameraden und anderen wie Onkel, Tanten, Freunden, Gegner. Ich habe mehr gelernt vom Leben als von jeder Pädagogik! Ich bin deshalb nicht gegen Schule, aber ich bin gegen die Enteignung der Kindheit durch Verschulung der Kindheit. Diese Kindheit hat etwas mit dem Abenteuer zu tun, die Welt kennen zu lernen. Sie richtig spüren und erleben zu können. Die Schule ist nur Ersatz.
Und das dritte Outsourcing, die dritte Entfunktionalisierung nach ‚Nachwuchs‘, nach ‚Erziehung‘ ist:
Wie ist das mit dem Zusammenhalt der Gesellschaft?
Braucht dieser Zusammenhalt noch die Erfahrung der Familie?
Die Ich-AG, eine Leitfigur der neuen Welt, die kennt gar keine Familie. Der Mensch ist dann als AG Vorstandsvorsitzender, Aufsichtsrat und Arbeitnehmer seiner selbst. Und so hat ja auch der große Vordenker des Neoliberalismus Gary Becker (4) einen Nobelpreis für die Theorie erhalten, der Mensch ist ein Nutzenmaximier und sonst nichts. Das ist die nobelpreisprämierte gekrönte These des neuen Liberalismus, der mit dem alten Neoliberalismus wenig zu tun hat.
Der Mensch als Homo Oeconomicus, das ist die Demontage von Humanität. Ich möchte meinen Kindern keine Welt hinterlassen, in der sie nichts anderes zu tun haben, als ihren Nutzen zu suchen. Das ist ja furchtbar anstrengend, von morgens bis abends auch in der Kosten–Nutzen–Analyse. Da ist ja in keinem Hirn mehr Platz für was anderes.
Liebe beispielsweise, Liebe hat mit Kosten–Nutzen–Analyse relativ wenig zu tun.
Sollte einer auf Brautschau oder Bräutigamsuche gehen, nachdem er eine Kosten–Nutzen–Analyse angestellt hat, dann lässt er es besser. Wenn einer sagen würde: Karl liebt Anna 3,7mal mehr wie Elisabeth, dann müsste man ihn zum Psychiater schicken und nicht zum Standesamt. Welche Verwechslung: Die schönsten Sachen, die uns Menschen offen stehen, unsere größten Erlebnisse: Liebe, Treue, haben mit Vorteilsuche gar nichts zu tun.
Und wie hat Kopper (5), der einstige Chef der Deutschen Bank, gesagt: die Menschen sind doch selber schuld, wenn sie in der Krise Geld verloren hatten. Was man nicht versteht, soll man nicht kaufen, soll man nicht machen. Wenn das die Maxime der Welt wird, dann wehe meinen Enkeln! Wenn man nur noch tun darf, was man versteht…
Das meiste, was ich tue, verstehe ich überhaupt nicht.
Ich steige in ein Flugzeug und kapiere bis zum heutigen Tag nicht, wieso das schwere Ding sich in die Luft erhebt. Ich gehe zu meinem Arzt, ich verstehe überhaupt nicht, was er mir verschreiben will. Warum steige ich trotzdem ins Flugzeug und gehe trotzdem zum Arzt? Weil ich ihnen vertraue. Und ein Leben ohne Vertrauen, eine Gesellschaft ohne Vertrauen ist gar nicht organisierbar. Noch nicht einmal im Straßenverkehr funktioniert sie. Wenn Sie dem nicht vertrauen, dass er ihre Vorfahrt beachtet, können Sie nicht mehr Auto fahren. Sie haben immer das Risiko. Und kein Wissen ist so umfangreich, dass jede Ihrer Handlungen kalkuliert werden könnte. Ich bin nicht gegen Verachtung von Wissen. Aber ich glaube, ohne Bildung, ohne erfahrungsgesättigte Kenntnis, was wertvoll ist, was noch wertvoller ist und was am wertvollsten ist – ohne diese Erfahrung in der Familie erworbene Wertschätzung ist eine Gesellschaft überhaupt nicht organisierbar. Sie können gar nicht von morgens bis abends einen Computer bedienen ohne die jeweils richtige Handlung. Deshalb: Einübung in die Mitmenschlichkeit, Einübung in eine Gesellschaft, in der Vertrauen gilt, in der Rücksichtnahme gilt, ohne Ehe und Familie werden wir es nicht schaffen.
Ehe und Familie steht, Herr Wagner hat schon sehr deutlich drauf hingewiesen, im Widerspruch, im Gegensatz zu einem Freiheitsbegriff bei dem es sich um ein Missverständnis handelt.
Zur Freiheit gehört die Wahlfreiheit als Konsument, aber die Wahlfreiheit ist nicht die höchste Form der Freiheit, die höchste Form der Freiheit liegt in der Vollendung dessen, was menschliches Ziel ist. Ein Baum kann verkrüppeln, ein Mensch kann sein Ziel verfehlen, der Unterschied zum Baum? Bei uns ist Freiheit im Spiel. Und diese Freiheit erlaubt uns, das Richtige nicht tun zu müssen, sondern tun zu wollen. Wenn wir das tun müssen, dann ist es keine Wahlfreiheit. Deshalb geht es darum, Freiheit als Vollendung dessen, was in uns angelegt ist. Wenn Optionen ohne Obligationen gilt, dann ist die Freiheit in Gefahr. Wenn Freiheit nicht von Verantwortung beschränkt wird, dann ist es die Freiheit wiederum von Idioten. Der Idiot hat keine Beschränkung. Er lebt aus dem Augenblick. Der Terror der Optionsmaximierung erledigt die Freiheit! Er überfordert die Menschen und er erledigt sich.
Und da muss ich sagen, ist Ehe natürlich eine Einschränkung Ihrer Freiheit. Natürlich sind Kinder Einschränkung der Wahlfreiheit. Natürlich, denn mit Kindern hat man nicht so viel Wahlmöglichkeiten wie ohne Kinder, es fängt bei den Ferien an, bei …
Ist diese Einschränkung Behinderung Ihres Glückes oder Hilfe? Diese Fragen können wir nur beantworten, wenn wir vorher Glück definiert haben. Wenn wir es als Nutzenmaximierung definiert haben, dann sind Kinder Einschränkung der Freiheit. Da führt kein Weg vorbei. Du kannst nicht auf zwei Hochzeiten tanzen. Alles zusammen mit Kindern geht nicht – man kann nicht. Insofern gibt es auch sehr objektive Grenzen für eine perfekte fugenlose Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das lässt sich nicht fugenlos vereinbaren.
Dass diese Ehe als Fundament von Verlässlichkeit, von Lebenssicherheit befreit – das ist doch die stärkste Sicherheit im Leben, dass ich auf andere Menschen vertrauen kann. Dass Karl – sagen wir, was immer passiert auf dieser Welt – wird zu mir halten, auch wenn ich nicht mehr so schön bin wie damals…, auch wenn ich nicht mehr die Gewichte heben kann wie im Athletenclub, auch dann wird Linda noch zu mir halten und die Linda wird wissen, selbst wenn ich alle Haare und Zähne verloren habe, der Karl wird mir immer treu bleiben. Das ist eine Sicherheit, die übertrifft sogar die Sicherheit der Republik.
Kinder, die das Vertrauen haben: Meine Mama, mein Papa, hält immer zu mir, egal was passiert. Und wenn ich im Gefängnis lande: meine Mama, mein Papa, wird mich nie verlassen, ich sage Ihnen, ohne Kenntnis der Psychologie, das wirkt sehr stark.
Und wo haben wir diese Zuversicht…? Dass Ehe scheitern könne, dass der Versuch unter Menschen schiefgeht, dass gehört zu dem Schicksal, zu dem auch von der Freiheit der möglichen Schicksale. Es geht nur darum, ob wir die Normen gar nicht mehr erkennen, die Norm der Normalität: bis der Tod euch scheidet. Ein alter Grundsatz, der muss eigentlich jetzt neoliberal ausgewechselt werden: Bis was besseres kommt!
In guten wie in schlechten Zeiten. Also für Lebensabschnittspartnerschaft gilt der Satz nicht, da gilt: Für gute Zeiten haben wir Partnerschaft und wenn das Modell ausgelaufen ist und ein besserer kommt, dann wird gewechselt, so wie man auch Arbeitsplätze wechseln kann. Wobei ich hinzufüge, dass der Kündigungsschutz im Arbeitsrecht höher entwickelt ist als im Eherecht. Ja, auch im Mietrecht ist er höher. Du hast es leichter, deine Ehefrau loszuwerden als Mieter, weil die Schutzrechte dagegen sind. Kündigungsfristen gibt es ja nur in beschränkten Maßnahmen, im Eherecht, da langt ja Zerrüttung, eine gewisse Zeit getrennt leben, das gilt bei keinem Arbeitsverhältnis/ Vertragsverhältnis. Deshalb glaube ich, dass das Familienrecht runtergekommen ist. Zu meinem Bedauern muss ich sagen: da war leider meine Partei mit dran beteiligt. Das gehört zu den größten Schmerzen. In guten wie in schlechten Zeiten.
Wenn das so beliebig ist, immer mit dem Zusatz, dass ich hier nicht eine Welt der Heiligen betrete, eine Weltsicht, zu der ich übrigens auch nicht gehöre. Aber eine Welt muss wissen, woran sie sich orientieren kann. Wenn diese Orientierung an eine lebenssichernde Verlässlichkeit aufgegeben wird – ja, warum erheben wir uns über die Polygamie im Islam? Die haben wir doch auch. Der Unterschied ist nur: die haben es gleichzeitig, wir machen es hintereinander. Wir haben ja nur im Vordergrund noch die Frau, die es uns erlaubt. Aber sonst ist das auch ein polygames System, denn was in der morgenländischen Kultur gleichzeitig gestattet wird, haben wir nur ins Nacheinander geworfen. Aber prinzipiell sehe ich da keinen Unterschied.
Ich bleibe dabei, dass die Ehe nicht eine Zweckgemeinschaft ist zur Optimierung der individuellen Lust der Partner. Sie ist keine Einrichtung… in der zwei Personen sich zusammenschließen, um ihre Freizeitgewohnheiten zu optimieren. Sondern sie ist, eine der letzten Bastionen gegen die totale Verstaatlichung des Menschen, die letzte antikapitalistische Konstruktion unserer Gesellschaft.
Wenn das Ehegattensplitting aufgegeben wird, das haben wir ja im Steuerrecht diskutiert, dann wird noch etwas aufgegeben. Denn dem Ehegattensplitting liegt die Idee zugrunde, dass die zwei Partner nicht zurechnen, wer jetzt das Einkommen beschafft hat, dass das ein Gemeinschaftseinkommen ist, ein nicht dem einzelnen zurechenbares Einkommen. Das ist die Idee des Ehegattensplittings. Dass in der Ehe nicht die Tauschverhältnisse des Marktes gelten, sondern sie Geschenkökonomie genießt, ohne zu berechnen, ob ich für etwas Geld verdiene, die Verlässlichkeit der Gabe.
Insofern bewahrt die Familie etwas vom Festcharakter der Familie. Wie ist es mit Geschenken: Sie geben ein Geschenk, ohne ausgerechnet zu haben, wie das Gegengeschenk aussieht. Warum feiern wir Geschenke, weil der Mensch etwas hergibt, ohne zu berechnen, das schafft den Festen den Glanz der Auszeit des Außergewöhnlichen.
Kindergeburtstage werden heute schon eingerechnet, wie hoch ist der Preis, den ich einsetzen muss, weil beim Kindergeburtstag, den ich besucht habe … Ja, ich will die Preisliste jetzt nicht vergleichen, ich will nur sagen, das Ehegattensplitting hat nicht nur eine steuerrechtliche Funktion, es hat die Funktion, dass Ehe eine Gemeinschaft sein soll.
Und ich bekenne, dass ich in meiner Ehezeit nie den Eindruck hatte, dass das Geld, was ich ausbezahlt bekam, mein Einkommen wäre und dass ich davon meiner Frau etwas abgebe. Auf die Idee ist mein Vater auch nie gekommen und meine selbstbewusste Mutter und meine selbstbewusste Frau, die wären nie auf die Idee gekommen, dass ich Ihnen da was abgebe. Wir haben immer den Eindruck, wenn jeder diesen Weg weitergeht und immer nur Projekte anzubieten hat und individuell schaut, der schafft dann die Mitversicherung in der Krankenversicherung ab, die Witwenrente ab, dann die Gesellschaft als Summe von Einzelteilen – aber eine Gesellschaft, die nicht mehr durch Familie zusammen gehalten wird. Insofern gibt es mehr zu verteidigen als nur das Steuerrecht.
Freilich, Ehe als Partnerschaft, also die partnerschaftliche Ehe, für mich ist sie passé. Partnerschaft, das heißt: es gibt nicht mehr das Kommando des Mannes über Erziehung, sondern zwei Partner organisieren auch ihr Leben mit einem Minimum von Staatseingriffen.
Zwei Partner in der Bastion ihrer Familie, nicht von der Wirtschaft bestimmt. Zwei Partner in der Privatsphäre, die Privatsphäre, eine Verteidigung der Freiheit. Ich will nicht in einer veröffentlichten Gesellschaft leben, in der es keine Ecken mehr gibt, in der ich mich nicht zurückziehen kann. Ich will auch in keiner Wirtschaftsgesellschaft leben, wo ich als Arbeitnehmer so gar keine geregelten Arbeitszeiten mehr habe und immer am Handy von ihren Arbeitgebern erreichbar sein muss. Dann ist die Privatsphäre auch im Eimer.
Ich will getrennt haben: Öffentlichkeit und Wirtschaft und Familie.
Und zwar nicht aus Gründen der Idylle, sondern aus Gründen der Freiheit und der Selbstständigkeit. Partnerschaftliche Familie, die nicht mehr von Besitz und Bildung nur zusammen gehalten wird. Wer kein Geld hatte…, diese unwirkliche Zeit gab es ja auch, der durfte gar nicht heiraten. So idyllisch war das auch nicht. Familie, Ehe, die Freundschaft, der bürgerlichen Zeit… Gesinde, die hatten über Jahrhunderte gar keine Möglichkeit zu heiraten, das mussten die sich erst genehmigen lassen, also dahin zurück nicht – auch nicht zum alten Patriarchat!
Aber zu einer geradezu unschuldigen, einer Gesellschaft mit einem Minimum von Herrschaft in der kleinen Gemeinschaft der Liebe, ist eine geradezu ikonische Vorstellung. Herrschaften aufzulösen zu Partnerschaften… Wenn der Gesellschaft die Ideen ausgeht, wie man das Leben besser organisieren kann, hätte ich eine Idee eines Mitarbeiters ohne Unterdrückung. Schafft er das überhaupt noch zu bewältigen? Die Ehe ist eine, der Vorreiter dieser Ehe.
Ich sehe die Leidtragenden des Ansturms auf die Ehe: das sind die Kinder ohne Mama oder Papa, das sind die Ehen: Eltern ohne Kinder. Das klingt paradox, jedenfalls nicht mehr Kinder, die sie haben. Das sind im übrigen, entgegen anderslautenden Meldungen, auch viele Frauen. Denn wenn ich das richtig sehe, in vielen Fällen führt die Emanzipation dazu, dass es im Alter viele alleinstehende alte Frauen gibt, weil die Männer in diesen nachpatriarchalischen Zeiten im Alter nochmal als zweite Ehefrau eine Jüngere nehmen. Das gehört alles zu der partnerschaftlichen Ausrichtung des Lebens.
Jedenfalls bleibe ich bei einer Idee, in der nicht geopfert wird. Nämlich das, wovon in der aufgeregten Debatte über Kinder und Ehe gar nicht gesprochen wird: von der Liebe.
Die Liebe, das Paradox zu geben und dabei reicher zu werden.
Die Liebe, das Paradox abhängig zu sein und dabei selbstständiger zu werden.
Liebe, diese mathematische Aufgabe: Geteiltes Glück ist doppeltes Glück und geteiltes Leid ist halbes Leid.
Diese Mathematik wird in keinem Kopf eines Egoisten leben. Diese Kopfaufgabe, diese Rechnung passt nicht in die Ideologie des Neoliberalismus. Deshalb muss die Ehe und Familie gegen eine verwirtschaftende Gesellschaft und gegen eine verstaatlichte Kindheit verteidigt werden.7
(1) Der Biologe Adolf Portmann (1897-1987) prägte die Begriffe der „physiologischen Frühgeburt“ und „Nesthocker“ bzw. „Nestflüchter“,[2] welche auch heute noch Verwendung finden. Der Mensch ist einer späteren Arbeit von ihm zufolge ein „sekundärer Nesthocker“ mit einer offenen Präge- und Lernphase im „sozialen Uterus“ der Familie. (Quelle https://de.wikipedia.org/wiki/Adolf_Portmann, abgerufen am 13.5.2020)
(2) René König (* 5. Juli 1906 in Magdeburg; † 21. März 1992 in Köln) war ein deutscher Soziologe. (Quelle https://de.wikipedia.org/wiki/Ren%C3%A9_K%C3%B6nig, abgerufen am 13.5.2020)
(3) Renate Schmidt (geborene Pokorny, * 12. Dezember 1943 in Hanau) … war im Kabinett Schröder II von 2002 bis 2005 Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. (Quelle https://de.wikipedia.org/wiki/Renate_Schmidt, abgerufen am 13.5.2020)
(4) Gary Stanley Becker (* 2. Dezember 1930 in Pottsville, Pennsylvania; † 3. Mai 2014 in Chicago, Illinois) war ein US-amerikanischer Ökonom. (Quelle https://de.wikipedia.org/wiki/Gary_Becker, abgerufen am 13.5.2020)
(5) Hilmar Kopper (* 13. März 1935 in Osłonino in Polen (Oslanin bei Putzig)) ist ein deutscher Bankmanager und war von 1989 bis 1997 Vorstandssprecher der Deutschen Bank. (Quelle https://de.wikipedia.org/wiki/Hilmar_Kopper, abgerufen am 13.5.2020)
Ebenso polemisch wie sachlich – ein nur scheinbarer Widerspruch – nimmt der CDU-Politiker und ehemalige Arbeits- und Sozialminister, Norbert Blüm, den Trend um die „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ und um die Verstaatlichung der Ehe, der Elternarbeit und schließlich der Kindheit auseinander – konkret, genau, immer am Alltag der Betroffenen entlang:
„Die siebenfache Mutter mit Kinderfrau und Reitlehrer eignet sich jedoch nicht zur Ikone, vor der die gerade zur Pflegerin umgeschulte ehemalige Schlecker-Mitarbeiterin mit Ehemann im Niedriglohnsektor und drei Kindern im Grundschulalter niederknien soll,“
„Vereinbarkeit von Familie und Beruf funktioniert nur in einer von Niedriglöhnen und Burn-outs befreiten Berufswelt.“
„Die Familie folgt ihrem eigenen Sinn des Füreinander, der nicht vereinbar ist mit dem Konkurrenzprinzip. Diese Eigenständigkeit der Familie muss verteidigt werden, wenn wir der totalen Verwirtschaftung des Lebens entgehen wollen. Doch die Programme zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf drohen die Familie sanft, aber bestimmt unter die Knute der Erwerbsgesellschaft zu stellen. Beide Ehepartner sollen in Lohnarbeit stehen. Der Störfaktor Kind soll möglichst früh der staatlichen Erziehungsarbeit übergeben werden. An die Stelle der Amateure »Mama und Papa« tritt eine professionalisierte Elternschaft namens »Schule«.
Die Arbeit der Mütter wird erst dann anerkannt, wenn sie fremden Kindern gilt; das ist das System »Tagesmutter«. Wir könnten die Abschaffung der Elternschaft konsequenterweise bis hin zum staatlichen Brutkasten betreiben. Dann würden auch Schwangerschaft und Mutterschutz die Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht länger stören.“
„Die Ehe folgt der Platzanweisung, die ihr die Wirtschaft setzt. Flexibel und mobil, am besten auf Abruf, befristet, ausgeliehen arbeitet der moderne Jobhopper.“
„Warum sollten die Frauen an den Fließbändern eine freiere Entscheidung getroffen haben als jene, die als Mütter zuhause arbeiten?“
„Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass eine Große Koalition des vermeintlichen Fortschritts mit enormem Fleiß die Ehe und die Familie zermürbt, auf dass die ungebremste neoliberale Verwirtschaftung das ganze Leben in seinen Strudel reißt.“
„Selbst brutale Kollektivierungen haben sie nie gänzlich auslöschen können. Werden nun neoliberale Softies auf leisen Sohlen schaffen, was den Gewaltsystemen misslungen ist?“
„Das Private musste Wirtschaft, Gesellschaft und Staat abgerungen werden. Soll das jetzt hergegeben werden? Soll die Ehe zur Dependance der Wirtschaft und die Kindheit zum staatlichen Fürsorgeobjekt werden?“
„Die so bewunderte Vereinbarkeit von Familienarbeit und Erwerbsarbeit wird jedoch von einer stillen Traurigkeit erfasst, die aus dem Verlust der Familienwelt entsteht.“
Besser kann man es nicht sagen! Aber: Was genau, welche politischen Forderungen, welche praktisch umsetzbaren Programme folgen daraus? Folgen Norbert Blüms Vorschläge dazu in einem weiteren ZEIT-Artikel?
20. Oktober 2012