Kinderbücher als wertvolle Begleiter - Foto iStock © Damir CudicMama und Papa haben ja wirklich auf nahezu jede Frage eine Antwort. Auch bei Kummer sind sie zur Stelle. Doch manches kann man nicht so einfach beantworten oder besprechen, weil dem Erwachsenen nur umständliche Erklärungen einfallen oder weil das Thema auch für Mama oder Papa nicht so einfach ist. Hier können Kinderbücher ein wertvoller Begleiter sein, weil sie auf subtile und kindgerechte Weise Themen behandeln, die im Familienalltag auftauchen.

Was Kinderbücher so besonders macht

Die Liste an tollen Kinderbüchern ist endlos lang und so findet sich zu jedem Thema, welches eine Familie gerade bewegt ein passendes Kinderbuch. Wichtig ist, dass Eltern Spaß am Vorlesen haben und dass sie die Geschichte auch mögen, die sie für ihr Kind auswählen. Die Kinderseele lässt sichnur dann berühren,  wenn der Erwachsene mit Hingabe und Überzeugung dabei ist. Dann kann ein Vorleseerlebnis für beide Seiten etwas sehr Wertvolles und sogar heilsam sein.
Kinder finden in Kinderbüchern Figuren, mit denen sie sich gerne identifizieren, weil sie lustig sind oder etwas an sich haben, das Kindern gefällt oder weil sie gerade etwas Ähnliches durchmachen. Hier übernehmen die Protagonisten im Buch eine Art Vorbildfunktion und geben dem Kind eine Orientierungshilfe. Oft genügt es schon, wenn das Kind den Gedanken hat: „Na, wenn die oder der das kann, dann schaffe ich das auch!“ Das macht Mut und zeigt dem Kind, dass es nicht alleine mit einem Problem ist.
Mitunter kann es auch richtig sein, dem Kind eine Abenteuergeschichte vorzulesen, weil Eltern das Gefühl haben, das Kind auf andere Gedanken bringen zu wollen oder weil man bemerkt, dass das Kind nach Abenteuern sucht, die zu aufregend für das wirkliche Leben sind. Eine spannende Geschichte vorgelesen zu bekommen ist für Kinder ganz genauso, als würden sie selbst Teil davon sein, nur mit dem Unterschied, dass sie ihr sicheres und behagliches Zuhause dafür nicht verlassen müssen. Was für eine tolle Möglichkeit, dem Alltag für einen Moment zu entfliehen! Oft hilft eine Abenteuergeschichte auch dann, wenn das Kind kein Vertrauen in sich und seine Fähigkeiten hat. Dann wählt man vielleicht ein Buch wie „Die unendliche Geschichte“ von Michael Ende, in dem ein kleiner, dicker Junge namens Basti Balthasar Bux auserwählt ist, um Phantasien und die kindliche Kaiserin zu retten.
Oder man liest die Geschichte von den Waisenkindern Bo und Prosper, die vor ihrer Tante nach Venedig flüchten und sich dort dem Herrn der Diebe und seinen kleinen Freunden Wespe, Mosca und Riccio anschließen, wunderbar geschrieben von Cornelia Funke in „Herr der Diebe“.

Heldengeschichten wie diese zeigen, dass jedes Kind ein Held sein kann.

Ein weiterer Schatz der Kinderbücher sind ihre Illustrationen. Hier finden Kinder Gesichter zu Gefühlen und Szenen, die sie zum Lachen bringen. Beim gemeinsamen Betrachten des Buches entstehen vielleicht Gespräche, die über den Inhalt des Buches hinaus führen können. So gelingt es, einen Zugang zu seinem Kind zu finden, den man sonst im Alltag nicht so spielerisch und leicht gefunden hätte. Manchmal mögen Kinder nicht gerne über ihren Kummer reden oder ihnen fehlen die richtigen Worte. Hier kann ein Bild eine Brücke bauen.
Die Sprache in Kinderbüchern ist besonders. Während Eltern vielleicht zu verkopft an ein Thema herangehen, schaffen es Kinderbuchautoren, mit wenigen Worten sehr passend zu erfassen, was ein Kind gerade beschäftigt.
Oder ihre Sprache ist so bildstark, dass Eltern und Kind auf eine Gedankenreise gehen können. So wird das Vorlesen zu einem echten Erlebnis. Natürlich müssen erst einmal einige Bücher gelesen worden sein, um festzustellen, welches Buch in die ganz persönliche Familiensammlung aufgenommen werden darf. Auf diese Weise kann sich mit der Zeit eine wahre Bücherschatzkiste ansammeln, die man öffnet, wenn es draußen oder in der Kinderseele stürmt.

Therapeutisches Arbeiten mit Kinderbüchern

Kinderbücher als wertvolle Begleiter - Logo © halthafen.de„Viele Mamas und Papas sind dankbar, wenn sie bei der Suche nach gutem Material unterstützt werden“, weiß Julia Schneider zu berichten. Sie ist Diplompsychologin und arbeitet in ihrer Praxis an der Schnittstelle zwischen Entwicklungspsychologie und klassischer Paartherapie. Sie sagt, Eltern bringen ihre Kinder immer mit ins Gespräch. In den Gesprächen geht es um Streit, Konflikte, unterschiedliche Meinungen von Mama und Papa und das Thema Trennung. Wie kann ich dem Kind vermitteln, dass sich Mama und Papa trennen und dass wir trotzdem eine Familie bleiben? Aber auch Themen, die Kinder im Laufe ihrer Entwicklung erleben, wie Bauchschmerzen, Trennungsängste, erste Enttäuschungen in Freundschaften oder, wenn die Kinder etwas älter sind, auch die Sorge, was andere Kinder wohl denken.

Hier empfiehlt Julia Schneider gerne Kinderbücher, denn sie „können Eltern helfen, einen Weg und Worte zu finden, wenn sie mit den Kindern über Themen sprechen wollen, für die es erst einmal nicht so einfach ist, passende und kindgerechte Worte zu finden“. Das Schöne an Kinderbüchern sei, dass sie nichts Ungünstiges bewirken können, „wenn mit Leichtigkeit und Offenheit ans Lesen herangegangen wird“. Ihr ist wichtig zu betonen, dass die Möglichkeit Kinderbücher als therapeutischen Ansatz für sein Kind zu nutzen, niemals mit einer Erwartungshaltung ans Kind verknüpft werden sollte. Etwa, dass das Kind auf einmal gerne in den Kindergarten geht, nur weil es eben eine Geschichte darüber vorgelesen bekommen hat. Kinderbücher sollten ganz ohne Druck ein Teil des Familienlebens sein, „ein Teil der Art und Weise, wie eine Familie sich an bestimmte Themen heranwagt“.

Kinderbücher als wertvolle Begleiter - Foto Wie Kinder fühlenDr. Udo Baer ist u.a. Autor zahlreicher Bücher wie „Das Abc der Gefühle“ oder „Wie Kinder fühlen“. Seine Bücher richten sich in erster Linie an Einrichtungen, Therapeut:innen und Menschen aus den Bereichen Betreuung und Beratung. Doch auch Eltern können darin Wertvolles für ihr Familienleben lesen.
Sein aktuelles Buchprojekt heißt „Kinderwürde in Aktion – Beziehungsfokussierte kreative Therapie mit Kindern und Jugendlichen – ein Lehr- und Praxisbuch“. In einem Kapitel geht es um Kinderbücher und wie diese in der therapeutischen Arbeit mit Kindern eingesetzt werden können. Seine Ideen und Anregungen lassen sich auch zuhause umsetzen.

Die meisten Kinderbücher wirken über die Symbolkraft ihrer Figuren oder Szenen.

Er beschreibt zum Beispiel das aktive Symbolisieren. Im Buch „Das Traumfresserchen“ von Michael Ende und Annegret Fuchshuber geht es um eine Prinzessin, die schlechte Träume hat. Ihr Vater findet schließlich das Traumfresserchen, das sich von schlechten Träumen seiner Tochter ernährt. Ist das eigene Kind nun in einer ähnlichen Situation, kann es sich sein ganz eigenes Traumfresserchen vorstellen und malen oder „auch seinen Angstfresser oder Schmerzfresser selbst gestalten (oder schenken lassen)“. Die Idee dahinter ist, „dass die Kinder die vorgegebenen Symbole mit eigenen Inhalten füllen“, so Udo Baer.

Kinderbücher als wertvolle Begleiter - Foto Die Königin der FarbenEine weitere Möglichkeit kann sein, Seiten aus einem Buch zu kopieren und mit dem Kind eine eigene Geschichte zu den Bildern zu erzählen oder zu malen. So dient das Buch als eine Art Puzzle, „dessen einzelne Teile zum Ausgangspunkt eigener Geschichten und Bilder werden kann“. Natürlich eignet sich nicht jedes Buch dafür. Es braucht aussagekräftige Bilder dazu, wie die im Buch „Die Königin der Farben“ von Jutta Bauer. Gute Kinderbücher wie dieses regen dazu an, „eigene Wege zu gehen, eigene Bewältigungsstrategien zu finden“.

Ein weiteres Buch, mit dem sich sehr schön mit Kindern arbeiten lässt, ist das Buch „Das kleine Ich-bin-Ich“ von Mira Lobe. Darin fragt ein kleines buntes Wesen alle Tiere, die es trifft, wer es eigentlich ist. Am Ende stellt es fest: „Sicherlich gibt es mich: ICH BIN ICH!“ Udo Baer liest die Geschichte vor und lässt das Kind anschließend sein Ich-bin-Ich malen oder auch gestalten. Ohne aufdringlich zu sein, wird hier mit dem Kind gemeinsam nach seinem ganz eigenen Ich gefragt, es geht also um Ich-Findung und das eigene Selbstbild.

Hat man als Eltern das Gefühl, dass sich das Kind über jemanden oder etwas furchtbar ärgern musste, kann man es fragen: Wer hat dir auf den Kopf gemacht?, nachdem man ihm das Buch „Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat“ von Werner Holzwarth und Wolf Erlbruch vorgelesen hat. Es fällt Kindern oft noch schwer, auf die Frage, worüber sie sich gerade so furchtbar ärgern müssen, zu antworten. Da ist erst einmal dieses ohnmächtige Gefühl und diese dicke Wut im Bauch. Hier kann ein Buch für Entspannung sorgen, bevor anschließend auf die Gefühle geschaut wird. Udo Baer erzählt, dass viele Kinder die Antwort auf die Frage sofort kennen, nachdem er ihnen vorgelesen hat.
In dem Buch stecke außerdem die Frage der Gerechtigkeit. Der kleine Maulwurf, der unermüdlich nach Gerechtigkeit sucht, „macht Mut und ermuntert, sich den eigenen kindlichen Erfahrungen mit der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu stellen“.

Kinderbücher als wertvolle Begleiter - Foto Als Mama noch ein braves Mädchen warWilde Geschichten sind auch wichtig im Erfahrungsschatz der Kinder. Udo Baer nennt das Buch „Als Mama noch ein braves Mädchen war“ von Valérie Larrondo und Claudine Desmarteau. Das Buch ist herrlich komisch, weil eine Mutter ihrer Tochter erzählt, wie brav sie doch war, während die Bilder im Buch genau das Gegenteil zeigen. Schon das gemeinsame Lachen darüber sei sehr heilsam und auch die Ermunterung, sich nicht ganz so ernst zu nehmen und „den eigenen Schattenseiten zu begegnen“, auf eine humorvolle Art und Weise, sei eine tolle Erfahrung für das Kind. Kinder „entdecken dabei häufig ihre eigenen wilden Seiten (wieder) und damit eine kostbare Ressource“.

Viele Kinderbücher lassen sich auch szenisch nachspielen, in Form eines kleinen Theaterstücks zum Beispiel.

Das wichtigste an der therapeutischen Arbeit mit Kinderbüchern ist das Vorlesen.

Die Vorschläge von Udo Baer dienen als Inspiration, wie man als Eltern mit tollen Kinderbüchern arbeiten kann. Seinen Kindern vorzulesen genügt auch vollkommen und ist ein großer Schatz. Es „ist für sie Nahrung, Geborgenheit, Kümmern, Wärme“.

von Lorene Friedrich

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Angela Indermaur beschreibt in dem Beitrag „Zwei Herzen“ wie die Figuren etwa in den Findusbüchern von Sven Nordqvist ihr und ihren Kindern half, sich und andere besser zu verstehen.