Aufbruch - Foto iStock © ImgorthandAufbruch »in die weite Welt«

Ich stand am Bahnhof und winkte mit mulmigem Gefühl im Magen dem Zug bzw. meiner Tochter nach. Da fährt sie, meine Kleine, mit dem Zug quer durch die Schweiz zu einer Freundin. Umsteigen in der Hauptstadt inklusive.

„Bist du sicher, dass sie das schafft?“ fragte der besorgte Opi. „Sie ist sich sicher, dass sie es schafft. Sehr sicher sogar; sollte ich es ihr da ausreden?“ meine Antwort.

Zugegeben, ich musste mich schon an den Gedanken gewöhnen, als meine Tochter mit der Idee dieser Reise kam. Ich war hin- und hergerissen, fragte mich, ob ich verantwortungslos handle, wenn ich sie gehen lasse oder ob ich überbehütend bin, wenn ich sie nicht allein gehen lasse.

Was den Ausschlag gab, dass ich der Reise zustimmte, war das tiefe Gefühl und Wissen, dass es meiner Tochter nicht darum ging, irgendjemandem etwas zu beweisen. Sie wollte einfach diese Freundin besuchen und traute sich die Reise zu. Sie war bereit dazu, aufzubrechen und etwas zu wagen. Ich bot ihr an, mitzureisen und mir einen schönen Tag in Bern zu machen. Dieses Angebot stand bis zum Tag der Reise, und ich wusste, dass sie es annehmen würde, wenn sie sich doch plötzlich unsicher fühlen würde. Weiter versicherte ich ihr, dass sie mich jederzeit mit dem Handy erreichen kann, sollte irgendwas schief gehen.

Was mir da gar nicht so bewusst war: Mit diesem Angebot ermöglichte ich meiner Tochter, »in die große weite Welt hinauszufahren« und gab ihr gleichzeitig die Möglichkeit, jederzeit in den sicheren Hafen zurückzukehren oder sogar darin zu bleiben.

Manchmal ist der Grat zwischen Verantwortung wahrnehmen und Überbehütung oder zwischen Loslassen und Vernachlässigen sehr schmal. Aber wenn wir eine tiefe und sichere Beziehung haben und unseren Kindern beides möglich machen: Aufbruch und Rückkehr in den sicheren Hafen, dann müssen wir uns gar nicht so viele Gedanken über Überbehütung und Vernachlässigung machen. Viel wichtiger ist es nämlich, für unsere Kinder dieser sichere Hafen zu sein! Was für eine wundervolle Aufgabe!

Am Abend holte ich meine Tochter am Bahnhof ab, glücklich, voller Erlebnisse und ein Stück gereift, so schien es mir. Alles super gelaufen, die Zeit bei der Freundin war herrlich, aber viel zu kurz. Nächstes Mal also mit Übernachtung!

Aber ein kleines bisschen war sie auch froh, wieder zuhause, im sicheren Hafen zu sein. Bis zum nächsten Mal, wo es sie in die »große weite Welt« hinauszieht…

Wie kann denn so ein »sicherer Hafen« aussehen? Wie können wir ein sicherer Hafen für unsere Kinder sein und wo ist Ihr sicherer Hafen?

Mehr dazu im nächsten Post!

Herzliche Grüße, Ihre Angela Indermaur

Ein Beitrag aus unserer Kolumne:

Menschen(s)kinder


Uns beschäftigen aktuell öffentlich diskutierte Themen rund um den Erziehungsalltag genauso wie das gesunde Aufwachsen der Kinder und die notwendigen Bedingungen für die optimale Entwicklung ihrer je besonderen Persönlichkeit. In einer regelmäßig erscheinenden 14-tägigen Kolumne geht unsere Kolumnistin Angela Indermaur Fragen zur kindlichen Entwicklung, des Aufwachsens und Lernens nach. Was brauchen Kinder wirklich? Wo bleibt der Freiraum für spontanes Lernen und Selbsterkundung? Müssen Kinder ständig umsorgt, angeleitet und gefordert werden? Schadet Fürsorglichkeit und Geborgenheit unseren älteren Kindern? Welche Aufgabe haben heute Eltern? Wie gelingt der Aufbau einer intensiven Eltern-Kind-Bindung? Gibt man sein Frausein mit dem Muttersein auf und was ist mit den Vätern?