Ein kleiner Dieb - Foto iStock © halfpointIn einer Weiterbildung sollten wir in Gruppen folgendes fiktives Problem lösen: Ein (Besucher-)Kind steckt bei uns zuhause etwas ein, was ihm nicht gehört. Wie reagieren wir?

„Klare Grenzen setzen“, „Du bleibst hier, bis du mir gegeben hast, was da in deiner Hosentasche steckt“ oder „Wenn du das nicht hergibst, darfst du nicht mehr wiederkommen!“ so in etwa lauteten die möglichen Lösungsansätze. Mit meinem Kommentar: „Ich würde erst mal herausfinden wollen, warum das Kind etwas eingesteckt hat“, erntete ich erstaunte bis verständnislose Blicke. Nun, es gibt ja noch weitere Motive als „stehlen wollen“ und ich würde einfach mal hinter das Verhalten blicken wollen …

Ein kleiner Dieb oder einfach nur missverstanden?

Tatsächlich habe ich die Situation schon so erlebt: Ein Kind nahm immer wieder kleine Dinge wie Legofigürchen und ähnliches mit. Zusammen mit der Mutter fand ich heraus, dass es diesem Kind überhaupt nicht um die Figur an sich ging und schon gar nicht ums Stehlen. Das Kind fühlte sich sehr wohl bei uns, war an uns gebunden und es brauchte etwas, um innerlich an uns festhalten zu können, bis wir uns wieder sehen würden. Und dazu diente das Legofigürchen. Nicht mehr und nicht weniger … Wer möchte nun so ein Kind als „Täter“ hinstellen oder gar bestrafen?

Als wir herausgefunden hatten, was hinter dem Verhalten stand, war der Rest ganz einfach. Ich redete mit dem Kind und erklärte ihm, dass es jeweils gerne etwas mitnehmen darf, aber dass es mir zeigen soll, was es mitnimmt. Dann können wir zusammen schauen, ob das okay ist, oder zusammen was anderes suchen. Das ging dann einige Zeit so und irgendwann war es auch gar nicht mehr nötig.

Für mich ist dieses Vorgehen zu einem Schatz geworden und in Fleisch und Blut übergegangen: Wenn ein Kind auffälliges oder störendes Verhalten zeigt, einfach einen Moment innehalten und versuchen herauszufinden, warum es das macht. Dabei gehe ich davon aus, dass jedes Verhalten einen guten Grund hat. Oft finden wir ein nicht ausgesprochenes, oder nicht gefühltes Bedürfnis hinter dem störenden Verhalten, manchmal auch einfach Frustration oder Alarm/Ängste.

Jedes Verhalten hat einen guten Grund

Ob es jetzt ums Stehlen geht oder irgend ein anderes Thema: Es ist auf jeden Fall viel zielführender, wenn wir mit dem Kind zusammen überlegen, was wir denn jetzt tun können oder was es für verträgliche Lösungen gibt, als wenn wir einfach das Verhalten bekämpfen oder korrigieren.

Wenn das gerade nicht geht, weil die Emotionen zu hoch sind (auf beiden Seiten …) oder weil sich das Kind gerade verweigert oder panzert, kann man das Reden darüber gut auch auf später verschieben. Das ist allemal besser, als einen Machtkampf auszufechten.

Weil wir (hoffentlich) das Ziel haben, dass unsere Kinder reifen und ihr volles Potenzial entfalten können, müssen wir alles daransetzen, dass sie sich tief und sicher an uns binden können und auch festhalten können. Eine tiefe Bindung zu bewahren bedeutet aber nicht, dass wir jedes Verhalten einfach hinnehmen sollen. Das Kind sollte uns aber auf jeden Fall gerade auch in schwierigen Situationen auf seiner Seite wissen und uns nicht als Gegner wahrnehmen. Denn dies würde das Kind noch zusätzlich alarmieren und das ist definitiv nicht das, was wir wollen. Zusammen nach einer Lösung suchen, fühlt sich doch so viel besser an, als Druck oder gar Zwang auszuüben, oder?

Ihre Angela Indermaur

Ein Beitrag aus unserer Kolumne:

Menschen(s)kinder


Uns beschäftigen aktuell öffentlich diskutierte Themen rund um den Erziehungsalltag genauso wie das gesunde Aufwachsen der Kinder und die notwendigen Bedingungen für die optimale Entwicklung ihrer je besonderen Persönlichkeit. In einer regelmäßig erscheinenden 14-tägigen Kolumne geht unsere Kolumnistin Angela Indermaur Fragen zur kindlichen Entwicklung, des Aufwachsens und Lernens nach. Was brauchen Kinder wirklich? Wo bleibt der Freiraum für spontanes Lernen und Selbsterkundung? Müssen Kinder ständig umsorgt, angeleitet und gefordert werden? Schadet Fürsorglichkeit und Geborgenheit unseren älteren Kindern? Welche Aufgabe haben heute Eltern? Wie gelingt der Aufbau einer intensiven Eltern-Kind-Bindung? Gibt man sein Frausein mit dem Muttersein auf und was ist mit den Vätern?