Ein Störenfried - Foto iStock © lostinbidsDie kleine Tina konnte keine Sekunde stillsitzen, geschweige denn, der Leiterin ihrer Gruppe zuhören. Bei der erst besten Gelegenheit machte sie sich auf den Weg, um ihre verloren geglaubte Jacke zu suchen. Eine Leiterin ging ihr nach und so suchten sie zusammen nach der Jacke und standen zu guter Letzt vor der verschlossenen Saaltür. In diesem Saal fand kurz zuvor das Plenum unserer Veranstaltung mit vielen Kindern und Mitarbeitern statt. Und da Tina vermutete, dass die Jacke da drin sein könnte, geriet sie ob der verschlossenen Türe fast in Panik. So traf ich die beiden an und da ich einen Schlüssel für den Saal hatte, konnte ich dem Problem schnell Abhilfe verschaffen. Die Jacke befand sich tatsächlich im Saal, das Kind war beruhigt und konnte sich nun endlich der Bastelarbeit widmen.

Am nächsten Tag vereinbarte ich mit dem Papa von Tina, dass er die Jacke gleich wieder mitnimmt, um Tina den Stress, sie könnte die Jacke verlieren, zu ersparen. Doch es verging gerade mal eine halbe Stunde, bis Tina sich aus dem Raum schlich, um auf dem Gang ihre Jacke zu suchen … Auf meine Erinnerung hin, dass der Papa die Jacke wieder mitgenommen habe, konnte sie sich entspannen und der Geschichte lauschen.

Störungen haben Vorrang

Doch irgendwie blieb bei mir diese Geschichte mit Tina hängen … Ihre großen Augen werde ich so schnell nicht vergessen, als sie mir ganz ernst erklärte: „Mir haben schon die Hände gezittert, weil ich dachte, ich hätte die Jacke verloren. Weißt du, Papa hätte seeehr geschimpft.“

Ich kenne den Hintergrund von Tina nicht, im kurzen Gespräch mit dem Papa konnte ich nur feststellen, dass er selbst sehr unsicher und alarmiert wirkte, eigentlich gar nicht viel anders als Tina auch. Warum das so war, entzieht sich meiner Kenntnis. Gerade darum bin ich so froh, dass jene Mitarbeiterin Tina nicht zurechtgewiesen oder ermahnt, sondern sie ernst genommen hat und sich mit ihr auf die Suche nach dem Rucksack gemacht hat. Denn:

Jedes Verhalten hat seinen guten Grund.

Wir wissen nicht, was Tina in ihrem kurzen Leben schon erlebt hat, welche Verluste und Trennungen sie hinnehmen musste und ob sie vielleicht wirklich schon schlimm ausgeschimpft wurde, weil sie etwas verloren hat. Und wir wissen nicht, was ihr Papa für einen emotionalen Rucksack mit sich trägt, was er erlebt hat und aus welcher (belastenden) Situation er vielleicht gerade kommt. Und das geht uns ja in ganz vielen Situationen mit Kindern, aber auch mit Jugendlichen und Erwachsenen so.

Wenn wir uns immer wieder bewusst machen, dass das Verhalten einer Person immer einen guten Grund hat, macht uns das barmherzig und weckt unsere Fürsorglichkeit. Natürlich heißt das nicht, dass wir jedes Verhalten einfach hinnehmen müssen und nicht intervenieren dürfen. Aber wir werden anders intervenieren, wenn wir davon ausgehen, dass das Kind nicht einfach auffallen oder uns ärgern will, sondern dass es einen guten Grund für sein Verhalten hat.

Unsere Sicht auf das Kind bestimmt unser Tun! 😉

Ihre Angela Indermaur

PS: Nach einer wahren Begebenheit, wobei der Name und der Kontext verändert wurden.

Ein Beitrag aus unserer Kolumne:

Menschen(s)kinder


Uns beschäftigen aktuell öffentlich diskutierte Themen rund um den Erziehungsalltag genauso wie das gesunde Aufwachsen der Kinder und die notwendigen Bedingungen für die optimale Entwicklung ihrer je besonderen Persönlichkeit. In einer regelmäßig erscheinenden 14-tägigen Kolumne geht unsere Kolumnistin Angela Indermaur Fragen zur kindlichen Entwicklung, des Aufwachsens und Lernens nach. Was brauchen Kinder wirklich? Wo bleibt der Freiraum für spontanes Lernen und Selbsterkundung? Müssen Kinder ständig umsorgt, angeleitet und gefordert werden? Schadet Fürsorglichkeit und Geborgenheit unseren älteren Kindern? Welche Aufgabe haben heute Eltern? Wie gelingt der Aufbau einer intensiven Eltern-Kind-Bindung? Gibt man sein Frausein mit dem Muttersein auf und was ist mit den Vätern?