„Unsere 9-jährige Tochter zeigte in der Schule plötzlich auffälliges Verhalten. Sie hatte sich oftmals nicht im Griff und wurde aggressiv und mehrmals lief sie sogar aus der Schule davon. Die Lehrpersonen rieten uns dringend, unser Kind abzuklären, sie würden das als notwendig ansehen.
Ich aber wusste, dass es da einen Grund geben musste für dieses Verhalten, welches sonst so gar nicht meinem Kind entsprach. Die ersten Versuche, mit dem Kind zu reflektieren und herauszufinden, was denn los sein könnte, schlugen fehl. Unsere Tochter wich aus, sagte, sie habe keine Ahnung oder wurde wütend, wenn man sie auf die Probleme in der Schule ansprach.
Doch ich war mir sicher, wir würden den Grund herausfinden. Und so wartete ich einfach. Ich wartete, bis das Kind so weit sein würde, dass es sich mir anvertrauen würde.“
Voller Spannung und Begeisterung hörte ich dieser Mama in der Beratung zu. Ich muss zugeben, dass Warten und Geduldhaben nicht unbedingt zu meinen Stärken gehören. Und so staunte ich über die Gelassenheit dieser Mutter und auch über das Vertrauen in ihre Intuition und in ihr Kind und über ihre Bereitschaft einfach zur warten.
Tränen, Lärm und der Wunsch nach Ruhe
Tatsächlich wurde die Mutter für ihre Geduld belohnt:
„Eines Abends brach dann alles aus unserer Tochter heraus. Sie weinte heftig und sagte, dass sie es im Schulzimmer oftmals kaum aushalten könne. Es sei so laut und dauernd würde irgendein Geräusch sie von der Arbeit ablenken. Sie könne sich nicht konzentrieren und so die Aufgaben nicht richtig machen. Manchmal werde sie richtig wütend, ob den ständigen Störungen und manchmal, da wolle sie einfach nur noch raus, an einen Ort wo sie Ruhe habe. Dabei wolle sie doch eine gute Schülerin sein und alles richtig machen.“
Eine einfache Lösung für ein tiefes Problem
In der Folge erzählte mir die Mama, dass das Problem relativ einfach gelöst werden konnte: mit einem Einzelpult am Rande des Schulzimmers, mit der Möglichkeit Kopfhörer mit „noise cancelling“ tragen zu dürfen und mit etwas mehr Struktur im Klassenzimmer. Aber darum geht es mir eigentlich gar nicht so sehr …
Mit dieser Geschichte bestätigte sich einmal mehr mein Grundsatz in der Beratung:
„Unterschätze niemals das Bauchgefühl einer Mama!“
Wenn Worte Zeit brauchen
In diesem Fall sagte das Bauchgefühl oder die Intuition der Mama, dass es einen Grund für das Verhalten des Kindes gibt. Dieser Grund ließ sich nicht auf die Schnelle herausfinden und er war auch nicht offensichtlich. Und so entschied sich die Mama, zu warten.
Manchmal braucht es einfach Zeit. Wir alle brauchen manchmal einfach Zeit, bis wir etwas formulieren und erklären, gar reflektieren können. Und das ist okay.
In unserer Zeit sind wir uns gewöhnt, dass alles sehr schnell geht. Aber nur weil wir einen „Brief“ in Sekundengeschwindigkeit um die Welt schicken können und selbst Geldbeträge innerhalb wenigen Sekunden übertragen können, heißt das nicht, dass auch unser Innensystem von jetzt auf sofort Antworten ausspucken kann.
Fazit: Intuition ist die leise Stimme, die oft den Weg weist
Ich gehe schwer davon aus, dass jenes 9-jährige Mädchen die Antwort nicht früher liefern konnte. Weil es selbst zuerst erspüren, herausfinden und eben reflektieren musste, was denn eigentlich sein Problem ist.
Ach, hätten doch nur alle Kinder, nein, wir alle, diese Zeit! Oder vielmehr, würden wir sie uns doch öfter nehmen und einander geben.
Ich bin mir sicher, dass sich das eine oder andere Problem genau so leicht lösen ließe, wie jenes im Klassenzimmer. Und denken wir daran: Mütter und ihr Bauchgefühl … unterschätzen wir das niemals! 😊
Ihre Angela Indermaur
PS: Eine wahre Geschichte, anonymisiert, sodass kein Bezug zu der Familie hergestellt werden kann.
Ein Beitrag aus unserer Kolumne:
Menschen(s)kinder
Uns beschäftigen aktuell öffentlich diskutierte Themen rund um den Erziehungsalltag genauso wie das gesunde Aufwachsen der Kinder und die notwendigen Bedingungen für die optimale Entwicklung ihrer je besonderen Persönlichkeit. In unserer Kolumne geht die zert. Neufeld-Kursleiterin Angela Indermaur Fragen zur kindlichen Entwicklung, des Aufwachsens und Lernens nach. Was brauchen Kinder wirklich? Wo bleibt der Freiraum für spontanes Lernen und Selbsterkundung? Müssen Kinder ständig umsorgt, angeleitet und gefordert werden? Schadet Fürsorglichkeit und Geborgenheit unseren älteren Kindern? Welche Aufgabe haben heute Eltern? Wie gelingt der Aufbau einer intensiven Eltern-Kind-Bindung? Gibt man sein Frausein mit dem Muttersein auf und was ist mit den Vätern?