Mein Kind kam nach Hause und begann sogleich zu weinen, weil es vom Lehrer eine Strafe aufgebrummt bekam. Es hätte ein anderes Kind gehauen, weil dieses Kind ganz blöde Sachen zu ihm gesagt habe. Ich habe mich gefreut über diese Aussage der Mutter. Warum gefreut?
„Das Kind kam weinend nach Hause.“ Das bedeutet zum einen, dass es sich zuhause, bzw. in der Bindung zur Mama so sicher fühlt, dass es mit seinem Kummer zu ihr kommt.
Und ja, das Kind weinte, es fand offenbar zu seinen Tränen über dem, was es nicht ändern kann, in diesem Fall die Strafe. Und das ist der springende Punkt. Das Kind könnte auf so eine frustrierende Erfahrung auch anders reagieren. Es könnte versuchen, sich herauszureden, der Mama zu erklären, warum das nicht richtig sei etc. Und es könnte wütend werden, es könnte die Mama beschimpfen, die Strafe zerreißen, sich verweigern, … Dass es darüber trauern und weinen kann, zeigt, dass sein Herz weich ist, dass es seine Emotionen und die Vergeblichkeit fühlen kann. Und damit stehen auch die Chancen gut, dass es darüber hinwegkommen und neuen Mut fassen wird. Im besten Fall wird es sogar etwas aus der Situation lernen. 😉
In diesem Prozess, den wir auch „Adaption“ nennen, liegt etwas Wertvolles verborgen: Reifung.
Deshalb ist es so wichtig, dass unsere Kinder über frustrierende Dinge im Leben, die sie nicht verändern können, trauern und weinen können. Bei kleinen Kindern sind das noch kleine Dinge, je älter wir werden, desto größer werden auch die Vergeblichkeiten, denen wir begegnen. Dieses Trauern und Weinen ist aber nur möglich, wenn die Vergeblichkeit gefühlt wird und dazu muss das Herz weich sein.
Tränen der Vergeblichkeit fließen im Schutz der Geborgenheit
Wir Menschen haben die wunderbare Fähigkeit, dass wir unsere Herzen verhärten und so die Emotionen temporär wegdrücken können. Wir sprechen dann auch von „Panzerung“. Wunderbar ist diese Fähigkeit deshalb, weil sie uns hilft, im manchmal rauen Alltag bestehen zu können.
So hilfreich das auch sein kann, so wichtig ist es auch, dass wir alle einen Ort haben, wo die Panzerung wieder aufgeweicht, das Herz weich werden kann und so die Emotionen zurückkommen können. Bei unserem Kind oben sehen wir das wunderschön in der Tatsache, dass es erst zuhause weinte. Am sicheren Ort, bei Mama …
Wenn ein Kind auch zuhause hart und gepanzert bleibt und gar nicht mehr zu seinen Gefühlen findet, ist es Zeit genau hinzuschauen, was denn der Grund dahinter ist.
So gesehen, verstehen Sie jetzt vielleicht, warum ich mich über die Aussage der Mutter gefreut habe. 😊 Bei mir hat sich mit diesem Wissen um die Wichtigkeit der Trauer und der Tränen auch mein Bezug dazu verändert. Früher fühlte ich mich oft als „schlechte Mutter“, wenn mein Kind weinte. Und ich war bestrebt, es möglichst schnell wieder fröhlich zu machen, mittels Ablenkung, Trösten im Sinne von „ach komm, das ist doch nicht so schlimm“ usw.
Heute weiß ich, wir dürfen unsere Kinder durch solche Erfahrungen begleiten, ihnen Geborgenheit und einen sicheren Ort für ihre Tränen bieten. Und uns mit ihnen freuen, wenn sie wieder Zuversicht schöpfen und das Leben in Angriff nehmen.
Ihre Angela Indermaur
Ein Beitrag aus unserer Kolumne:
Menschen(s)kinder
Uns beschäftigen aktuell öffentlich diskutierte Themen rund um den Erziehungsalltag genauso wie das gesunde Aufwachsen der Kinder und die notwendigen Bedingungen für die optimale Entwicklung ihrer je besonderen Persönlichkeit. In einer regelmäßig erscheinenden 14-tägigen Kolumne geht unsere Kolumnistin Angela Indermaur Fragen zur kindlichen Entwicklung, des Aufwachsens und Lernens nach. Was brauchen Kinder wirklich? Wo bleibt der Freiraum für spontanes Lernen und Selbsterkundung? Müssen Kinder ständig umsorgt, angeleitet und gefordert werden? Schadet Fürsorglichkeit und Geborgenheit unseren älteren Kindern? Welche Aufgabe haben heute Eltern? Wie gelingt der Aufbau einer intensiven Eltern-Kind-Bindung? Gibt man sein Frausein mit dem Muttersein auf und was ist mit den Vätern?