Generation Corona1 - Foto iStock © ArtMarieWochen ohne Kita und Schule? Ist doch prima: endlich dürfen Kinder wieder viel mehr Zeit mit ihren Eltern und Geschwistern verbringen. Wer das nur als Belastung sieht und schnelle Öffnungen von Kitas und Schulen fordert, verspielt gerade eine große Chance.

„Endlich brauche ich jetzt nicht mehr in die doofe Kita!“, rief mir unser aufgeweckter Nachbarsjunge am Gartenzaun zu. So wie dem Sechsjährigen und seiner vierjährigen Schwester geht es vermutlich gerade vielen Vorschulkindern in deutschen Vorstädten. Ihre Eltern sind nicht mit Reichtum gesegnet, leben aber doch in ansehnlichen Reihen- oder Einfamilienhäusern im Grünen draußen am Stadtrand und müssen nun plötzlich ihren Alltag komplett neu organisieren. Im Fall unserer Nachbarfamilie sieht das so aus: beide Eltern arbeiten in Teilzeit, aber schon vor Corona. Der Vater kann nun komplett im Homeoffice werkeln, während die Mutter ihrem Job wie gewohnt als Erzieherin außer Haus nachgeht. Und die Kinder? Sie höre und sehe ich den ganzen Tag über fröhlich und fantasievoll im Garten spielen.

Die Kinder finden die Kita jetzt doof“

Dass unsere Nachbarskinder mit ihrer unverhofften Kita-Freiheit nicht die einzig Glücklichen sind, sondern dass es wohl vielen Kindern derzeit so gehen dürfte, das hat kürzlich die Fernsehmoderatorin Nazan Eckes beim „Kölner Treff“ im WDR einem großen Publikum mitgeteilt. Als man sie fragte, wie sie ihren Alltag denn nun mit ihren beiden Vorschulkindern organisiere und wie ihre Kinder mit der neuen Situation zurechtkämen, antwortete Eckes: „Die Kinder finden die Kita jetzt doof. Sie wollen da gar nicht mehr hin zurückkehren.“

Pampers statt Toilette?

Ein besonders verstörender Fall ist aus Nordrhein-Westfalen zu hören. Dort weigert sich ein Kleinkind plötzlich, auch nur stundenweise in die Kita zurückzukehren, weil es dort plötzlich wieder Pampers tragen soll. Der Grund: Die Toilettenanlagen können nicht häufig genug gereinigt und daher nicht benutzt werden. In der Kita-Zeit dürfen die Kinder deshalb jetzt nicht mehr zur Toilette gehen, sondern sollen wieder Windeln tragen. Obendrein ängstigt sich das Kind vor den maskierten Erzieherinnen, die es nicht verstehen kann, wenn sie sprechen.

Ohne Krippe nicht überlebensfähig?

Wow, und nun? Vielen Eltern dürfte diese Sicht der Kinder nicht passen, deshalb wird sie jetzt auch gern ignoriert oder ins Gegenteil verkehrt: Krippen- und Kita-Öffnungen werden als dem Kindeswohl dienlich und für äußerst notwendig erachtet. Es ist ja auch verständlich, dass der elterliche Frust so tief sitzt. Seit Jahren wurde ihnen seitens der politischen und ökonomischen Akteure eingeimpft, beide Elternteile müssten möglichst viel außer Haus berufstätig sein und Kinder bräuchten dringend Krippen und Kitas zur gesunden Entwicklung und zur Bildung. Und dann fällt plötzlich von heute auf morgen der Vorhang und Krippen und Kitas entpuppen sich als doch entbehrlich für die Kleinen?

Rückfall in alte Zeiten

Generation Corona2 - Foto iStock © Andrzej BurakVon heute auf morgen sahen sich Eltern mit dem Rückfall in alte Zeiten konfrontiert, die sie selbst als Kinder vielleicht noch erlebt, für ihre eigenen Kinder aber nicht mehr in Erwägung gezogen haben: ein Leben zuhause ohne kindliche Fremdbetreuung war ja so was von gestern. Seit Wochen reiben sie sich nun plötzlich auf zwischen Kinderbetreuung, Homeoffice und – auch das ist in manchen Fällen Realität – Betreuung der pflegebedürftigen Eltern, denen „dank“ Aufnahmestopp womöglich ein Heimplatz verwehrt wurde. Der „Lockdown“ hat mit einem Schlag zur Rückkehr von Verhältnissen geführt, die noch vor kurzem niemand für möglich gehalten hätte. Wer bislang seinen Tag sauber separieren und delegieren konnte in Arbeit, Freizeit, Familie, fand sich plötzlich in einem vermeintlichen Chaos wieder.

Spielplätze, Tierparks, Sportanlagen: geschlossen

Die anfängliche Lust am neuartigen, intensiven Miteinander wich langsam, aber sicher dem Frust. Verständlich auch deshalb, weil die Bedürfnisse der Klientel Kind – die nach bisherigem Corona-Forschungsstand die am wenigsten gefährdete Gruppe überhaupt ist – auch nach den ersten „Lockerungsübungen“ seitens der Politik ignoriert wurde. Spielplätze, Tierparks und Sportanlagen? Bleiben bis auf weiteres geschlossen. Nachbarskinder dürfen nicht miteinander spielen, Besuche bei Großeltern oder Freunden: unerwünscht.

Notrufe von Kindern – oder eher Eltern?

So klingen die ersten wütenden und verzweifelten Notrufe verständlich. „Vergesst die Kleinen nicht!“ mahnte die Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z.) in einem Leitartikel (27. April 2020). „Lasst sie raus!“ forderte die „Zeit“ (23. April 2020). „Öffnet die Kitas!“ verlangten zwei Mediziner in einem langen F.A.Z.-Aufsatz (22. April 2020). Landauf, landab erschallen nun die Notrufe vor allem in einer Sache besonders dringlich: in dem Wunsch nach Wiederöffnung der Kitas. Dabei ist klar: hinter der Sorge vieler Eltern um das Wohl ihrer Kinder, die durch die Kita-Schließungen angeblich „ihre Gewohnheiten, die Unbeschwertheit, das Kindsein“ verlören, verbergen sich viel eher eigene Wünsche nach der Rückkehr in einen weitgehend störungs- und kinderfreien, reibungslosen Alltag. Mit den tatsächlichen Wünschen der Kleinkinder hat das meist nicht viel zu tun, siehe oben. Der Leitartikler in der F.A.Z. gibt dies auch halbwegs zu: „Die Arbeit im ‚home office‘ hat sich für Eltern längst als Illusion herausgestellt.“

Sorge eines Vierjährigen“

Mit anderen Worten: Arbeit und Kinder passen irgendwie nicht zusammen, deshalb müssen die Kinder schleunigst wieder außer Haus gebracht werden. Aber weil dies alles so hart klingen würde, schreibt man lieber von der „Sorge eines Vierjährigen, dass er seine Freunde für eine Weile nicht wiedersehen darf“. Mag sein, dass einzelne Kinder – vor allem Einzelkinder – unter den Kita-Schließungen „leiden“. Mehr noch leiden sie aber wohl unter dem Kontaktverbot mit anderen Kindern in Nachbarschaft, auf Spiel- und Sportplätzen. Aber wer hat sich eigentlich für das stille, stundenlange Leiden vieler Kleinkinder in überfüllten Krippen und Kitas zu Zeiten vor Corona stark gemacht, an dem auch das „Gute-Kita-Gesetz“ nicht viel geändert hat? Beim Thema Kita bricht sich – wieder einmal – das Interesse der Erwachsenen Bahn, nicht das der Kinder.

Mit Kind und Kegel im Homeoffice

Generation Corona3 - Foto Brebca © AdobeStock

Dabei müsste man nur einmal bei den Familien nachfragen, die schon lange vor Corona Homeoffice und Kinderbetreuung miteinander vereinbart haben. Die Autorin dieser Zeilen hat beispielsweise schon mit drei Kleinkindern jede Menge Zeit am Schreibtisch verbracht, ohne das Gefühl gehabt zu haben, es funktioniere nicht, im Gegenteil: Es funktionierte sehr gut, weil alle sich darauf eingestellt hatten. Die Kinder wussten genau: wenn Mama am Schreibtisch sitzt, dann nehmen wir uns auch was vor. Zum Beispiel bauen wir die Holzeisenbahn auf oder errichten mit Duplo-Steinen einen Fährverkehr. Oder wir spielen Kaufhaus. Oder wir spielen Restaurant in der Küche. Oder wir spielen am Kinderklavier und singen dazu. Natürlich wurde beim Spielen gern die gesamte Wohnung einbezogen – mein Arbeitszimmer ausgenommen. Entsprechend sah es in der Wohnung aus – nach Kind und Kegel eben, nicht nach schick und aufgeräumt. Ebenso der Garten.

Bullerbü-Kinder nerven

Wenn ich heute sehe, wie vorbildlich sortiert in vielen Familienhäusern schicke Einrichtung inklusive Gartenmöbel samt akkurat geschnittener Hecken und Rasenflächen, auf denen höchstens noch ein Trampolin-Käfig neben der Mini-Garage für den Rasenmäher-Roboter stehen darf, das familiäre Wohnumfeld dominieren, dann wundert mich nicht, dass Eltern sich ihre kreativen („nervigen“) Bullerbü-Kinder möglichst schnell und lange tagsüber vom Hals halten wollen. Dass viele Kinder, vor allem Kleinkinder, es nun aber tatsächlich genießen, endlich einmal viel mehr Zeit und Nähe mit Mama und Papa daheim verbringen zu dürfen, wird von den Öffnet-die-Kitas-Rufern übertönt.

Selbstverständliches Miteinander

Dabei könnten Eltern diese Zeit auch als Geschenk betrachten. Wann werden sie je wieder so viel Zeit mit ihren Kindern verbringen können? Haben sie es je zuvor ausprobiert? Und zwar nicht im Robinson-Club-Urlaub, wo die „kids“ von morgens bis abends bespaßt werden, sondern zuhause ohne Anleitung? Das Problem ist: Eltern werden es solange als Belastung empfinden, wie ihnen die neue Lebens- und Arbeitsweise fremd ist und sie den Anspruch haben, alles perfekt zu machen. Sprich: Es braucht die natürliche Selbstverständlichkeit, um den neuen Rhythmus im Familienalltag als normal und eher bereichernd zu betrachten. Es mag einigen befremdlich klingen, aber mir ging es damals so: Waren die Kinder daheim, empfand ich es als entspannt und konnte auch gut bei dem Kinderbetrieb arbeiten. Stressig fand ich hingegen, wenn sie zu Terminen geholt und gebracht werden mussten.

Forscher: Langeweile macht kreativ!

Generation Corona4 - Foto shutterstock © Firma V

Eine Familie, die ganz selbstverständlich Arbeit und Familienleben unter einem Dach lebt, hat damit weniger Probleme als jemand, für den dies völlig neu und ungewohnt ist. Das Gleiche gilt für Kinder: wer nie gewohnt ist, sich selbst zu beschäftigen, fällt jetzt schnell in ein Loch. Wer an geregelte Kita- und Schultage gewöhnt ist mit permanenter Anleitung von oben, der vermisst die tägliche Routine in Form von Stuhlkreis oder Frontalunterricht. Wer dagegen immer schon viel Freiraum genossen hat, der wird die Situation zu schätzen und nutzen wissen. Darauf hat auch Gerald Hüther kürzlich hingewiesen: Er appellierte an Familien, diese Spannung auszuhalten, denn Langeweile könne nach Erkenntnissen der Hirnforschung produktiv für Kinder sein. Sie sei eine Voraussetzung dafür, dass im Gehirn ein Impuls für Neues entsteht. Dieser Impuls könne die Freude am selbstbestimmten Lernen wecken. Und dieses Lernen sei dann sogar „das nachhaltigste Lernen überhaupt“.

Corona-Krise als „einmalige Chance“

Statt von der Corona-Krise als Zwangspause zu sprechen, rät er, die „Freiräume“ zu sehen und zu nutzen. Jugendliche hätten jetzt beispielsweise eine große Chance, endlich einmal ohne Zeitdruck lebensnah herauszufinden, was ihnen wirklich liege und Spaß mache. Und Eltern sollten „die einmalige Chance“ ergreifen, mit ihren Kindern über Themen zu reden, die nicht in der Schule vermittelt würden. Man könnte die Kinder jetzt „in einer ganz neuen Situation erleben“ und ihnen Erfahrungen ermöglichen, „die sie vielleicht für ihr ganzes Leben brauchen“.

Kinder brauchen Probleme…

Es sei nicht notwendig, sagte der Wissenschaftler kürzlich im Deutschlandfunk Kultur, Kinder rund um die Uhr zu beschäftigen. „Gucken Sie mal auf dem Dachboden oder in den Keller, was es noch an Gerümpel gibt. Und vielleicht finden Sie einen alten Wecker, da ist ein Junge einen halben Tag mit beschäftigt, den in seine Einzelteile zu zerlegen.“ Hüther rät, den Kindern so viel Eigenständigkeit wie möglich zu gewähren. „Wenn Sie Kindern die Steine aus dem Weg räumen, dann werden sie nicht lernen, wie man über Steine hinweggeht. Die Kinder müssen da durch, sie müssen Probleme haben. Lassen Sie sie einfach mal ein bisschen laufen.“

und Freiraum zu Entfaltung

Generation Corona5- Foto iStock © Melpomenem

Wer seine Kinder weitgehend Kita-frei hat aufwachsen lassen, wird jeden Satz von Hüther unterstreichen. Unsere Kinder fanden es zum Beispiel viel spannender, zusammen die Kochtöpfe und Gerätschaften in der Küche auszuräumen und auf dem Fußboden ein großes Koch-Fest mit Duplo-Steinen zu veranstalten als jeden Morgen in einem Stuhlkreis zu sitzen, gemeinsam in die Hände zu klatschen und nachher Schablonen auszumalen. Unser Ältester hatte sich nach einem Jahr Kindergarten derart gelangweilt, dass wir ihn dort wieder abgemeldet hatten. Daheim blühte er regelrecht auf. Geschadet hat es ihm nie, im Gegenteil. Aber nicht deswegen, weil wir Eltern zuhause mehr mit ihm gemacht hätten, hat er sich gut entwickelt, sondern weil wir ihn mehr haben „laufen“ lassen als dies in Betreuungseinrichtungen möglich gewesen wäre. Unser Jüngster genoss es, stundenlang im Garten Vögel zu beobachten auf seinem Kinderplastikstuhl. In der Kita wäre er deswegen vermutlich ausgelacht – „gemobbt“ – worden.

Eltern mischen sich gern ein

Das, was für jüngere Kinder gilt, kann man weitgehend auf ältere übertragen: diejenigen, die sich immer schon gut selbst beschäftigen konnten, weil ihnen zuhause angemessener Freiraum gewährt wurde, werden die schulfreie Zeit auch positiv sehen und für sich gut zu nutzen wissen. Sie werden weniger Anleitung bei den Homeschooling-Aufgaben benötigen und keine „Bildungslücken“ befürchten müssen. Dass hier Kinder aus bildungsbürgerlichen Haushalten automatisch im Vorteil wären, ist aber ein Irrglaube: gerade bildungsbeflissene Eltern schießen gern übers Ziel hinaus und mischen sich in die schulischen Dinge ihrer Kinder ein. „Beispielsweise zeigt sich“, so schreiben die Bildungsforscherinnen Hanna Dumont und Petra Stanat (F.A.Z. vom 30. April 2020), „dass gerade Eltern mit hohem Bildungsniveau häufig dazu neigen, zu viel Kontrolle und Einmischung auszuüben, was sich negativ auf die Lernentwicklung der Kinder auswirkt.“ Das führt dann zu unschönen Konfliktsituationen und vergiftet im schlimmsten Fall derart das Familienklima, dass man seine Kinder schnellstmöglich wieder außer Haus – in Kita und Schule – verbannen möchte.

Nichts Genaues weiß man nicht

Ein Wort noch zu den stets bemühten sozialen Unterschieden. Rufe nach Kitas und Schulöffnungen werden ja stets mit dem Hinweis bemüht, gerade die Kinder aus den sozial schwächeren Familien hätten ansonsten das Nachsehen. Auffallend ist aber, dass bei den Begründungen stets (nur) der Konjunktiv bemüht wird. So auch in dem F.A.Z.-Beitrag von Dumont und Stanat. Da redet man von Zusammenhängen, die „bislang jedoch kaum untersucht“ worden seien. Deshalb behilft man sich mit vagen Formulierungen wie „Es ist davon auszugehen“ oder „Dies dürfte für viele Schüler mit Migrationshintergrund in besonderem Maße gelten“ oder „Kinder aus Familien, die sowohl über ein geringes Bildungsniveau verfügen als auch kaum Deutsch sprechen, dürften also im doppelten Sinne benachteiligt sein“. Dürfte, könnte, es ist davon auszugehen: Lassen sich mit solch dünnen Wortspielen aussagekräftige Umstände beschreiben? Solange zu dem Thema keine belastbaren Forschungsergebnisse vorliegen, darf man mit Fug und Recht auch das Gegenteil behaupten: dass die durch Corona geschenkte Zeit des familiären Zusammenseins für Kinder viel eher ein Gewinn ist denn ein Nachteil – unabhängig von Sprache und Geldbeutel.

von Birgitta vom Lehn

Links zum Thema

Kinder, Eltern und ihre Erfahrungen während der Corona-Pandemie, bundesweiten Studie KiCo, Forschungsverbund „Kindheit – Jugend – Familie in der Corona-Zeit“ (Institut für Sozial- und Organisationspädagogik an der Stiftung Universität Hildesheim und dem Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung an der Universität Frankfurt in Kooperation mit der Universität Bielefeld) 27.05.2020

Mannheimer Corona-Studie: Schwerpunktbericht zu Erwerbstätigkeit und Kinderbetreuung9,  April 2020

Kreativität statt Homeschooling, Lasst eure Kinder laufen! Gerald Hüther im Gespräch mit Dieter Kassel, Deutschlandfunk Kultur, 30.03.2020

Lockerungen, aber für wen : Vergesst die Kleinen nicht! FAZ, Ein Kommentar von Alexander Haneke, aktualisiert am

Aus medizinischer Sicht : Öffnet die Kitas! FAZ, von Eckhard Nagel und Angelika Eggert, aktualisiert am

Coronavirus – ein Buch für Kinder, Axel Scheffler / Elizabeth Jenner / Kate Wilson / Nia Roberts, Beltz-Verlag, kostenfreier Download

Stress in the Time of COVID-19, American Psychological Association, May 2020