Rezension - Ein Tiger im Zug - Mariesa Dulak

Mariesa Dulak
Ein Tiger im Zug
Jumbo-Verlag
ISBN: ‎ 978-3-833-74747-2
40 Seiten
16,00 Euro
Altersempfehlung: ab 3 Jahre

Bei Jumbo ist ein erfrischend kindgerechtes und längst überfälliges Bilderbuch erschienen. Beim ersten Durchblättern stellen wir fest, dass auf fast jeder Doppelseite ein Smartphone zu sehen ist.

Wenn das Smartphone die Nähe stört

Rezension - Ein Tiger im Zug2 - © Rebecca Cobb, JUMBO Verlag 2024 Seinetwegen hat ein Vater keine Augen für sein Kind. Er bekommt nicht mit, was es erlebt und empfindet. Doch nach einer fantasievollen Reise mit einem Tiger und vielen anderen vermenschlichten Tieren finden Vater und Sohn wirklich zusammen. Kinder und Erwachsene können der Geschichte entnehmen, wie wichtig Aufmerksamkeit ist. Sie bereichert unser Leben, wenn wir selbst aufmerksam sind und sie macht uns glücklich, wenn wir die liebevolle Aufmerksamkeit geschenkt bekommen, nach der wir uns sehnen.

Fantasie beflügelt die Kindheit

Mariesa Dulak als Autorin und Rebecca Cobb als Illustratorin haben es geschafft, eine Kinder betreffende weit verbreitete Unsitte ideologiefrei und manchmal sogar urkomisch nahezubringen.

Ein Kind als Ich-Erzähler gibt die Perspektive vor. Zum besseren Verstehen des eigenen Kindes ist es hilfreich, wenn Eltern sich – vielleicht sogar gemeinsam – einmal an die Fantasien ihrer Kindheit erinnern.

Im Kindergartenalter war und ist es normal, dass Kinder an Fantasien fest glauben. Vor einem Monat noch hat ein Vorschulkind jüngeren Kindern erklärt, dass es das Christkind nicht gibt, aber es ist überzeugt davon, dass die Zahnfee seinen Milchzahn geholt und ihm dafür Süßigkeiten gebracht hat. Kinder suchen sich Tiere oder Heldenfiguren, die ihnen das Gefühl von Stärke und Selbstwirksamkeit geben und identifizieren sich mit ihnen. Oder zumindest möchten sie, dass ein ganz besonderes Lebewesen zu ihrem Schutz immer für sie da ist.

Ein Tiger als Beschützer: Sicherheit in der Fantasie

Auf dem Cover sieht man einen großen Tiger mit schwarzem Zylinder und einen kleinen Jungen in Shorts, T-Shirt und Turnschuhen. Im Vergleich zum Vater fällt sein erheblich dunklerer Teint auf. Er hat rote Apfelbäckchen und eine knallrote Kappe auf dem Kopf. Wie er wirklich heißt, erfährt man durch diese Geschichte bemerkenswerterweise nicht.

Die Geschichte beginnt auf einem nostalgisch wirkenden Bahnhof. Der Junge und sein Vater mit dem allgegenwärtigen Smartphone sitzen auf einer Wartebank. Nachdem der Zug eingefahren ist, erfolgt ein markanter Perspektivwechsel: „Du errätst nie, was bei unserem Ausflug ans Meer passiert ist …“ Allein das Kind an der Hand seines Vaters ist vollständig abgebildet, umgeben von Beinen, die alle der offenen Waggontür zustreben. Kinder erkennen, dass es um dieses Kind in der Geschichte geht. Diverse Füße Erwachsener stecken in verschiedenartigen Sandalen oder Halbschuhen. Ein paar dunkle Stiefel irritieren angesichts von Shorts, Sandalen und einer Strandmatte, die auf eine Reise zu einem Gewässer mit Strand hindeuten. Eine Schrittlänge hinter den Stiefeln, am äußersten linken Bildrand dann ein erster Anblick der Streifen eines Tigers. Nur eine breite Vorderpfote und ein Stück Bein sind zu sehen. – Oder aber so dicht am Bildrand auch zu übersehen!

Es versteht sich von selbst, dass Kinder nicht jedes Detail beim ersten Anschauen entdecken können. Gerade bei gehaltvolleren Bilderbüchern fällt manches ohnehin erst später auf.

Auffallen könnte Kindern, dass hinter dem Jungen schokoladenbraune Füße in gelben Sandalen und die unbekleideten Unterarme einer zierlichen dunkelhäutigen Frau zu sehen sind. Ein spontaner Gedanke, der auch Kindern kommen kann: Könnte die Mutter des Jungen auch mitfahren? – Kinder von Eltern, die sich getrennt haben, reagieren manchmal sensibel auf Szenen, die sie an ihre familiäre Situation erinnern. Und wenn es dazu kommt, dann hat das Anliegen eines Kindes nicht nur vor dem Handy, sondern auch vor einem Buch Vorrang. – So viel Zeit muss sein!

Ein friedliches Miteinander: Fantasievolle Zugreise

Rebecca Cobb bevölkert den Zug mit zahlreichen comicartig gemalten Tieren. Ausnahmslos alle haben rosa Apfelbäckchen wie der Vater. (Aber kein Handy!) Rosa – eine zarte Farbe, die besänftigend wirkt. So kommt weder beim Anblick des Raubtiers Tiger, noch bei den Krokodilen, den Nilpferden, den verkleideten Mopsdamen oder dem Mutterschwein mit seinen Ferkeln die Angst auf, diese Tiere könnten beißen, zwicken, kratzen oder gar jemanden töten. Als der Vater einmal Richtung Tiger blickt, sind von diesem aus seiner Perspektive nur ein Stück des Zylinders und eine seiner Vorderpfoten zu sehen, mit der er einen Comic hält. Und obwohl der Tiger selbst gar nicht kämpferisch wirkt, hält er ein Titelblatt vor sich, auf dem ein ihm ähnlich sehender „Batman“ oder „Zorro“ zu sehen ist. Alle sechs Krokodile scheinen freundlich mit ihren strahlend weißen Zähnen zu lächeln. Zwei tragen breite Schwimmreifen, die an ihnen fast wie Reifröcke aussehen. Ein weiteres trägt Schwimmflügel an seinen kräftigen Oberarmen und wirkt damit ein bisschen wie ein halbstarker Muskelprotz.

Was Genderfragen angeht, lässt Rebecca Cobb Humor und Lässigkeit erkennen. Die Muttersau lässt ihre quirligen Ferkel im Zug machen, was sie wollen und fängt schnell zu schlafen an. Ist es der Powernap einer überforderten, alleinerziehenden Mutter? Eine der beiden mit breiten Hüten und langen Rüschenkleidern aufgebrezelten „Mopsdamen“ schafft es nicht, mit ihren Stöckelschuhen ladylike und sicher zu gehen. Ob die kleinen Hunde dafürstehen sollen, dass auch Travestie zum Leben gehört und Anderssein in Ordnung ist? – Positiv fällt auf, dass auf der Fantasiereise kein Unfrieden zwischen den Tieren herrscht. Tee und Bonbons werden angeboten. Es wird gemeinsam mit Karten gespielt. Von allen Tieren wird der Junge gesehen.

Wenn elterliche Aufmerksamkeit fehlt: Leben in zwei Welten

Rezension - Ein Tiger im Zug3 - © Rebecca Cobb, JUMBO Verlag 2024Doch von allem, was der Junge während der Reise sieht und woran er Anteil nimmt, bekommt der Vater nichts mit. Seine Sitzposition ändert sich zwar einige Male, aber seine Augen sind – bis auf einen angenommenen Telefonanruf – immerzu auf das Smartphone gerichtet. Würde ein Vater sehen können, was dieses Bilderbuchkind sieht, würde er sein Kind beschützen und mit ihm flüchten wollen – oder er würde angstfrei einige Fotos und Selfies machen. Aber der Vater lebt wie in einer eigenen Blase, abgeschottet von allem Lebendigen um ihn herum. – Kein Wunder, dass er als einziger die kleine Maus nicht sieht, die gegen Ende der Reise durchs Abteil huscht. Während die großen Krokodile ihre Arme wie um Hilfe rufend hoch werfen, wodurch die Karten ihres Spiels durch die Luft fliegen, kniet der Junge mit ausgestreckten Armen auf dem Boden. Es sieht aus, als ob er die Maus, vor der einige Tiere sich offensichtlich verstecken wollen, umarmen und beschützen möchte. Die kleine Maus wurde übrigens als einziges Tier nicht vermenschlicht. Auf der Folgeseite sieht man den Tiger – symbolträchtig – über den Kopf des Vaters hinweg brüllen. Ein Reigen aus tiefschwarzen, fett gedruckten Großbuchstaben – Roarrrrrr – kommt aus seinem mit Reißzähnen ausgestatteten Maul. Es stellt sich die Frage, ob der lange hinter dem Comic verborgen lesende Tiger auch Angst vor der Maus bekommen hat oder nur sehr laut gegähnt hat. Anders als in einem Comic werden die Emotionen der Tiere nicht überdeutlich dargestellt. Kinder können etwas in sie hineinlesen.

Bemerkenswert: Alle außer dem telefonierenden Vater erstarren.

Rezension - Ein Tiger im Zug4 - © Rebecca Cobb, JUMBO Verlag 2024Dann entfährt dem Mutterschwein mit der Herzchensonnenbrille ein lautes „Hatschiiiii!“. Ein weiteres Ereignis folgt: Endstation. Alle (fast alle) Tiere stürzen aus dem Zug! Der Vater schaut unverdrossen weiter auf sein Smartphone, während sein Sohn zur Gepäckablage emporblickt. Dort liegt der Tiger und lässt eine Pfote runter baumeln. Auf der nächsten Seite dann befördert er sich das Smartphone des Vaters ins Maul und rast mit dem lächelnden Jungen auf seinem Rücken davon. Ein langgestreckter Sprung zeigt, dass der Vater keine Chance hat, den Tiger einzuholen. Die Frage dazu ist: Will er das überhaupt? Geht es darum einen Tiger einzuholen oder das eigene Kind zurück zu bekommen? Die Seite, auf der der Vater hinter seinem auf dem Tiger reitenden Kind, herrennt, lädt zu Gesprächen ein. Jeder mag sich etwas anderes vorstellen.

Und weil Gefühle in einer unerwarteten, beängstigenden Situation das Erleben beherrschen, sind sie wichtiger als diese vernünftigen Gedanken, die zu einem Sachbuch besser passen als zu einer spannenden Geschichte für Groß und Klein.

Ältere Kinder, die Zeichentrickfilme mögen, könnten dem Vater den Tipp geben, den Tiger mit einem Lasso einzufangen oder ihm in den Po oder ein Hinterbein zu schießen. Auch gewaltfreie Lösungen fallen Kindern ein. Der Vater könnte lauter nach dem Tiger rufen und ihm eine hohe Belohnung versprechen. Oder Besserung – was den Handykonsum betrifft …

„Hey, Tiger … warte auf MICH!“

Der Junge reitet sichtlich gern auf dem Tiger. Es sieht nicht so aus, als ob er freiwillig abspringen wolle. Das wäre bei dem Tempo auch gefährlich. Und wozu auch? Dieser weglaufende Tiger ist doch gar nicht wirklich gefährlich, sondern sein mit Hilfe der Fantasie geschaffenes Schutztier.

„Gut, dass er mit einem Happs das Handy verschluckt hat“, mögen Kinder denken. Aber auch: „Das darf man nicht, denn das Smartphone gehört dem Vater“. Oder: Das kommt davon, wenn ein Erwachsener nicht richtig auf sein Kind aufpasst. Gibt es in der Familie Geschehnisse, wo jemand als Kind weggelaufen ist oder sich unbeabsichtigt verlaufen hat? Wie war es für Eltern und Geschwister, wenn ein Kind nicht da war – und wenn es wieder bei ihnen war?

Kinder mögen es, wenn Eltern ihnen erzählen, was sie selbst, die Großeltern und andere aus der Verwandtschaft erlebt haben.

Im Buch werden Kinder bei wiederholtem Vorlesen die Tiere einer Gattung zählen und sich Mühe geben alle schnell wiederzufinden. Zusammensein, Gemeinschaft und Gemütlichkeit ist ihnen wichtig.

Ob Kindern über allem, was ihnen wichtig ist, auffällt, dass wir den Namen des Jungen noch gar nicht kennen? Könnte es sein, dass der Kosename oder Spitzname des Jungen „Tiger“ ist? Manchmal bezeichnen sich Kinder selbst als Tiger. – Manchmal wollen Kinder ein starkes, mächtiges Tier sein. Wir sollten ihnen zugestehen, nur das zu sehen und zu verstehen, was für sie gerade bedeutsam und wichtig ist.

Emotionale Zuwendung ist wichtiger als Belehrung und Aufklärung und Fantasie zu haben, ist ein Kinderrecht.

Gegen Ende sieht man, dass alle am Strand angekommen sind und es genießen. Vater und Sohn kugeln sich gut gelaunt über den Strand. Sogar die Maus ist wieder dabei. Langgestreckt wie der Tiger zuvor flitzt sie davon. – Was Große können, können Kleine auch. – Oder hat sich die Maus vielleicht erschrocken, weil aus dem Bauch des Tigers mehrmaliges „Klingeling“ zu hören war? Ohne die aufgemalten Worte könnte man dem Tiger nicht ansehen, dass es in seinem Bauch klingelt. Eine witzige Idee, die Kindern ebenso gefällt wie das Happy End.

Happy End mit klarer Botschaft: Der Wert der Zuwendung

Vater und Sohn spielten bis zum Abendrot. Auf dem Rückweg laufen beide barfuß Hand in Hand den Strand entlang und der Junge weiß, warum der Tag am Meer ihn überglücklich gemacht hat. „Weil Papa endlich wieder bei mir war.“ Auf der Rückfahrt kuschelt er sich an seinen Vater, der einen Arm um ihn gelegt hat. Dessen Smartphone lugt aus der Hosentasche hervor. Unter den beiden liegt zusammengerollt die kleine Maus und schläft. Und obwohl der Vater jetzt eine Hand frei hätte, um wieder auf sein Smartphone zu sehen, tut er es nicht. Mit einem Handy in der Hand kann man schließlich nicht richtig kuscheln. Aber mit geschlossenen Augen und einem Lächeln!

Schlussgedanken: Für kleine und große Leser

Dieses Bilderbuch ist nicht nur unterhaltsam, sondern regt auch zum Nachdenken an. Mit seinem harmonischen Schluss eignet es sich hervorragend als Gute-Nacht-Geschichte, die für einen friedlichen Ausklang des Tages sorgen kann.

Sogar die kleine Maus liegt zusammengekuschelt unter der Bank und rundet das friedliche Bild ab. Doch warum haben eigentlich manche Menschen Angst vor einer Maus und andere nicht? Der Junge hat die Maus offensichtlich liebgehabt. Deshalb hatte er keine Angst vor ihr. Und diese kleine Maus muss gemerkt haben, dass der aus ihrer Sicht große Junge sie so mag, wie sie ist. Deshalb will sie bei ihm sein. Sie muss nichts für ihn tun, damit er sie mag.

Die Geschichte zeigt: Es geht nicht nur um Aufmerksamkeit, sondern um etwas viel Tieferes – bedingungslose Liebe.

von Angelika Mauel

PS: Vorlesen schafft Nähe
Ein Vorteil der natürlichen Kommunikation gegenüber einer Sprach-App ist, dass Eltern, die selbst vorlesen, mehr über ihr Kind erfahren können und dass sie sich Zeit für das Seelenleben ihres Kindes nehmen können. Im vertrauten Zuhause fallen viele kindergartentypische Ablenkungen durch die Fragen anderer Kinder und die Antworten auf Fragen, die sich ein Kind (noch) nicht selbst gestellt hat, weg. Es kann sich an seine Eltern oder Geschwister ankuscheln und so ungestört in die Geschichte eintauchen.

Foto © Mariesa Dulak

Über die Buchautorin: Mariesa Dulak

Sie studierte englische Literatur und Kinderliteratur. In ihren Büchern behandelt sie die Themen Identität und Familienleben und setzt sich für Diversität ein. Mit ihrem Debüt There´s a Tiger on the Train gewann sie den FAB Prize im Jahr 2020. Sie lebt in West London.

Foto © Rebecca Cobb

Über die Illustratorin: Rebecca Cobb

Sie wuchs in Buckinghamshire und Somerset auf und lebt seit ihrem Studium der Illustration in Falmouth. Sie hat mit Autor*innen wie Julia Donaldson und der Orange-Prize-Gewinnerin Helen Dunmore zusammengearbeitet und bereits zahlreiche Werke illustriert.