Stillen

Anfang des 20. Jahrhunderts lautete die Empfehlung von Kinderärzten „Das gesamte erste Lebensjahr ausschließlich zu Stillen.“ d. h. ohne Zufütterung von Flüssigkeiten oder anderer Nahrung neben Muttermilch, vgl. S.16. Ende des Jahrhunderts verkündete Horst Seehofer in seiner Funktion als Bundesminister für Gesundheit: „Optimal ist eine Stilldauer von 4 bis 6 Monaten. Nach dem vollendeten 4. bis 5. Lebensmonat des Kindes soll die Muttermilchmenge allmählich durch steigende Mengen Beikost ersetzt werden.“ Im Laufe der zurückliegenden 100 Jahre wurden die Empfehlungen, Säuglinge beizufüttern, immer gezielter. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Zum einen gedeihen hierzulande Babys offensichtlich gesund und prächtig mit der industriell hergestellten Säuglingsnahrung, zum anderen bietet die Flaschenfütterung Müttern mehr Freiraum.

Doch wie erleben kleine Kinder den Sinneswandel und bietet ihnen eine frühzeitige artfremde Milch und Kost wirklich Vorteile für ihre Entwicklung?

Ernährungspraktiken und Gewohnheiten mögen sich verändern, doch nach wie vor folgen Menschenkinder uralten Programmen in ihrer Entwicklung. Und genau wie das Gras nicht schneller wächst, wenn wir daran ziehen, so reifen Kinder auch nicht schneller. Die Auswirkungen einer solchen Nichtbeachtung spiegeln sich wider in den vielen Ratgebern, die verunsicherten, verzweifelten Eltern Hilfe geben wollen, wenn etwa ihr Baby im Alter von drei bis sechs Monaten die Beikost verweigert.

Bereits in seinem Buch „Mein Kind will nicht essen“, wies Carlos González, selbst Kinderarzt, Vater und leidenschaftlicher Anwalt der Kinder, auf einige Märchen um die Beikost hin:

„Natürlich können wir nicht unser Leben lang allein von Muttermilch existieren; ab einem gewissen Alter müssen wir sie mit anderen Lebensmitteln ergänzen. Aber wir wollen es ganz offen sagen, der Hauptgrund, weshalb wir nicht ein Leben lang an der Mutterbrust trinken, ist, dass niemand sie uns gäbe. Auch wenn Muttermilch vielleicht nicht ganz vollkommen ist, so ist sie unter allen bekannten Lebensmitteln für jedes Alter das, welches der Vollkommenheit am nächsten ist.

Ein Schiffbrüchiger, der nur Muttermilch hätte, würde auf einer einsamen Insel viel länger überleben, als wenn sein Vorrat nur aus Brot, nur Äpfeln, nur Kichererbsen oder nur Fleisch bestünde“, S.138–143.

Mit seinem neuen Buch „Stillen – Ein Geschenk für das ganze Leben“ knüpft Carlos González daran an und bestärkt Mütter in seiner vertrauten, fachkundigen Art: „Nicht Nervosität und Sorge lassen die Milch (durch Adrenalin) versiegen, sondern die Flasche.“, S. 27, „Sie können solange Milch geben, wie sie dies wollen.“ und „Die Milchmenge passt sich immer dem Bedarf des Kindes an.“

Carlos González, gewohnt humorvoll, macht auch Schwerverständliches leicht verstehbar, indem er Selbstverständliches bewusst macht wie etwa hier:

„Manche denken, wenn sie vom Stillen nach Bedarf hören, es handele sich um einen neuen Vorstoß der Hippies und mit einem derart chaotischen Verhalten würden wir uns eine neue Generation undisziplinierter Wilder heranziehen. […] Überlegen wir doch mal: Bis vor 80 Jahren hatten nur die wirklich Reichen eine Armbanduhr. […] Vor sechshundert Jahren war die einzige „Uhr“ die Sonne“, S. 43-44.

Wie konnte die Menschheit nur so lange überleben?

Auf 410 Seiten und in 23 Kapitel unterteilt wird deutlich, dass Stillen Teil der Gesundheit für uns Menschen ist. Gefühlt lässt Carlos González kein Thema aus. Mit fundiertem Wissen spricht er über die Funktion der Brust und wie Stillen eigentlich funktioniert, die Phasen der Schwangerschaft, Geburt und den Beginn der Stillzeit. Nach einem Kapitel über den Säugling selbst, geht er auf spezifische Themen ein, wie Brustprobleme, Zwillinge, Frühgeburten bis hin zum Abstillen. Die letzten Kapitel sind etwas kürzer gehalten, umfassen aber noch ganz wesentliche Themen wie rechtliche Bestimmungen, Trennung, Scheidung und Schuldgefühle. Auf alle aufkommenden Fragen zu diesen Themen gibt er verlässliche Antworten, so dass jedem Leser, jeder Leserin bewusst wird, darum konnte die Menschheit überleben, weil Muttermilch in Form des Stillens die natürliche Ernährung für den Säugling ist.

Das Stillen bietet dem kleinen Kind alles, was es für seine optimale Entwicklung braucht:

„Ein Geschenk für das ganze Leben“.

Gern werde ich dieses Buch allen Eltern und werdenden Müttern und Vätern empfehlen und Fachpersonal wie Ärzte, Hebammen und denjenigen, die sich beruflich und ehrenamtlich mit Ernährungs- und Erziehungsfragen des kleinen Kindes in seinen ersten Lebensjahren beschäftigen, ans Herz legen.

von Cora Dechow