Es ist nicht allein eine Frage des Stillens, ob ein Kind selbständig werden kann oder abhängig bleibt. Diese beiden Ebenen müssen getrennt voneinander betrachtet werden. Unzählige Facetten des Alltags, des sozialen Umfeldes des Kindes und seine eigene Individualität beeinflussen die Autonomieentwicklung. Stillen bzw. die Mutterbrust ist die von der Natur vorgesehene optimale Quelle an Nahrung und Zuwendung, verbunden mit zahlreichen körperlichen und seelischen Vorteilen. Parallel zur Stillbeziehung fängt bereits im ersten Lebensjahr die Entwicklung des Kindes zu einer eigenständigen Persönlichkeit an.
Die Selbstständigkeit entwickelt sich bei jedem Kind anders
Dabei wird ein Kind nicht innerhalb von zwei-drei Jahren selbständig; dieser Prozess dauert gut zwei Jahrzehnte. Die Stillzeit stellt eine vergleichsweise kurze Etappe auf diesem Weg dar. Zudem verläuft der Autonomieprozess bei jedem Kind anders. Manche Kinder sind vorsichtiger und benötigen etwas mehr Zeit und Geduld, andere sind risikofreudiger. Ein zu frühes Drängen in eine vermeintliche Selbständigkeit, die durch eine Verminderung von Zuwendung von der Bindungspersonen gekennzeichnet ist, könnte auf die seelische Entwicklung allerdings einen ungünstigen Einfluss haben. Inwieweit daraus im späteren Leben z.B. Abhängigkeiten entstehen können, ist nicht genau geklärt. Hinter so manchen Ersatzhandlungen kann aber das Bedürfnis nach Zuwendung und Anerkennung stehen, die wir eigentlich nur im engen Kontakt mit Menschen erhalten können.
Es spielen viele Faktoren aus der Umwelt und der Individualität des Menschen zusammen, sodass keinesfalls pauschal Vorhersagen über den weiteren Entwicklungsverlauf vorgenommen werden können. Gesichert kann jedoch gesagt werden, dass eine vertrauensvolle Beziehung zu einer verlässlichen Bezugsperson in der Kindheit einen Schutzfaktor für die seelische Gesundheit darstellt.
Langes Stillen ist meist kein Anlass zur Sorge
Einige Kinder, die mitbestimmen dürfen, wie lange sie gestillt werden, stillen sich zwischen dem 2. und 4. Geburtstag von selbst ab. Aber auch eine länger andauernde Stillbeziehung ist kein Anlass zur Sorge, solange sich ein Kind in jeder Hinsicht gut entwickelt. Ist das Kind neben der Mutter auch am Austausch mit anderen Menschen interessiert, wächst es gut und ist neugierig auf seine Umgebung, dann gibt es keinen Anlass, sich Sorgen zu machen. Das Stillen deckt zunehmend psychologische Bedürfnisse nach Nähe, Trost und Zuwendung und immer weniger den physiologischen Nahrungsbedarf.
Die meisten Kinder würden gerne länger gestillt werden, als ihnen ermöglicht wird. Durch das Abstillen fällt das Bedürfnis nach physischer und psychischer Sättigung oder die Suche nach einem Weg zur Stressbewältigung nicht einfach weg – es muss nun auf andere Weise erfüllt werden. Da das Saugbedürfnis noch einige Jahre bestehen bleibt, nuckeln abgestillte Kinder statt am Original, der Mutterbrust, häufig am Schnuller oder am Daumen, sie saugen an Haarsträhnen oder Kleidungsstücken, nagen gelegentlich bis ins Schulalter hinein an Buntstiften etc.
Stillen bei älteren Kindern als Symptom seelischer Not
Kinder mit Verlusterfahrungen oder anderen Traumata können durchaus in ihrer Selbständigkeitsentwicklung verzögert sein, ein regressives Verhalten zeigen und dadurch länger das Bedürfnis haben, gestillt zu werden. In diesem Fall ist Stillen Folge und nicht Grund für die längere Abhängigkeit des Kindes und Ausdruck seiner seelischen Not.
Genauso können Mütter, die unter sozialer Isolation oder Partnerschaftsproblemen leiden, die Stillbeziehung (unbewusst) verlängern. Abstillen wäre in einem solchen Fall zunächst eine Symptombekämpfung und die Problematik kann sich auf einen anderen Bereich verlagern. Zur Heilung benötigt meist die ganze Familie psychosoziale Hilfe.
Die Rolle weiterer Bezugspersonen für die Selbständigkeit
Obschon viele Säuglinge vorzugsweise von ihrer Mutter betreut werden, ist es von Anfang an und mit fortschreitendem Alter zunehmend besser möglich, dass sich weitere Bezugspersonen (der Vater, die Grosseltern, Kleinkindpädagoginnen, u.a.) an der Betreuung beteiligen. Dadurch erweitert das Kind seinen sozialen Erfahrungsraum. Wichtig ist, dass die weiteren Bezugspersonen dem Bindungsbedürfnis des Säuglings und Kleinkindes entsprechen. Durch aktive Zuwendung, Präsenz, responsives Verhalten und dem Entdeckungsdrang entsprechende Anregung können sie ihm Sicherheit vermitteln und eine Beziehung aufbauen. Dies unterstützt seine psychosoziale Entwicklung, sein Erkundungsverhalten im Umfeld und seine Autonomieentwicklung, ganz unabhängig vom Stillen.
Die Beziehung zum Vater wird durch das Stillen nicht beeinträchtigt
Manche Väter befürchten, dass ihr Bindungsaufbau zum Kind durch das Stillen erschwert werde. Es ist für Väter wichtig zu erkennen, dass sie unersetzbar sind und dass sie andere Qualitäten einbringen können.
Eine gute Beziehung zwischen dem Vater und seinem Kind wird durch die Interaktionserfahrungen aufgebaut. Dazu sollte sich der Vater von Geburt an aktiv und feinfühlig um die Beziehung zu seinem Kind bemühen. Eine sichere Bindung zum Vater unterstützt die kindliche Autonomieentwicklung.
Berufstätige Väter sind im Alltag leider oft wenig präsent. Ohne gemeinsam verbrachte Zeit ist es schwierig, zu einem kleinen Kind eine Bindung aufzubauen. Empfindet das Kind den Vater als Fremden und fühlt es sich bei ihm nicht sicher und geborgen, kann es sich ihm gegenüber reserviert verhalten. Viele Väter geraten dadurch gelegentlich in einen Teufelskreis: Sie fühlen sich abgelehnt und ziehen sich weiter zurück.
Um ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, sollte die Zuwendung intensiviert werden. Väter müssen wissen, dass es in ihrer Verantwortung liegt, diese Situation zu verändern. Durch aktive Zuwendung zu ihrem Kind in der zur Verfügung stehenden Zeit, z.B. am Abend oder am Wochenende, können sie die Beziehung gestalten und pflegen.
Das Abstillen alleine verändert die Vater-Kind-Beziehung nicht. Bei Papa gibt es keine Mutterbrust, dafür aber z.B. tolle Spiele, leckere Speisen, Klettermöglichkeiten, Bücher, Schutz, Spaß und vieles mehr, welches das Kind genießt und zum Gedeihen benötigt.
Fremdbetreuung bei gestillten Kleinkindern
Die erste Abgabe in eine Fremdbetreuung kann für die Familie eine große Herausforderung sein. Kinder, die sich früh schon hemmungs- und distanzlos auf fremde Menschen einlassen, können einfacher unbekannten Erwachsenen zur Betreuung übergeben werden und gelten als „pflegeleicht“. Dieses unkritische Verhalten bringt Kinder jedoch in Gefahr, von fremden Menschen ausgenutzt zu werden.
Sicher gebundene Kinder sind ihren Mitmenschen gegenüber offen, haben aber auch ein gewisses Misstrauen gegenüber Fremden und wehren sich stärker gegen Grenzüberschreitungen. Unbekannte Menschen werden zunächst eher abgelehnt. Wenn aber nach dem Kennenlernen (am besten im Beisein einer Bezugsperson) eine Vertrauensbasis aufgebaut werden konnte, kann der Grundstein für eine neue Beziehung gelegt sein.
Stillen allein begründet noch keine sichere Bindung
Es ist hinsichtlich des psychosozialen Aspektes aber wichtig zu betonen, dass das Stillen alleine keine sichere oder unsichere Bindung begründet. Auch ein Kind, welches mit Flaschenmilch gefüttert wird, kann eine sichere Bindung zur Mutter aufbauen. Von der Art und Weise hängt es ab! Stillen ist für manche Frauen im Alltag die einfachste und angenehmste Form, mehrere Bedürfnisse ihres Kindes gleichzeitig zu befriedigen und dabei nicht unwesentlich das Familienbudget zu schonen.
Stillen ist kein Hindernis zur Autonomieentwicklung
Das Bewusstsein über das eigene Selbst wird im zweiten Lebensjahr zunehmend sprachlich ausgedrückt. Das Kleinstkind entdeckt die Wörter „mein, meins, ich“ und die Eltern erleben eindrucksvoll den zunehmenden Autonomiedrang des Kindes und seinen Widerstand im sog. Trotzalter. Diese sensible und bedeutende Zeit für die Persönlichkeitsentwicklung wird heute auch als Alter des „Selbermachen-Wollens“ und „Alter der Entwicklung des eigenen Willens“ bezeichnet.
Manche Kritiker des langen Stillens behaupten, dass das (trotzende) Kind seine negativen Gefühle, wie z.B. Wut, nicht ausdrücken könne, weil es aufgrund des Stillens von der Mutter abhängig sei. Aber ein Kleinkind, das sein Selbst und seine Willenskraft entdeckt hat und diese mit aller Macht im Trotz behauptet, lässt sich durch Stillen in seinem Autonomiestreben nicht bremsen.
Die Selbständigkeitsentwicklung soll ja nicht zum Beziehungsabbruch führen, sondern die Qualität der Mutter-Kind-Beziehungen auf eine nächsthöhere Stufe stellen. Auch in einer Stillbeziehung gibt es idealerweise Platz für die ganze Gefühlspalette.
Weiter Stillen oder Abstillen? Mütter entscheiden in eigener Verantwortung
Ist eine Mutter unsicher, ob es im Interesse ihres Kindes ist, weiterhin gestillt zu werden, kann sie sich und ihr Kind gut beobachten: Entwickelt sich ihr Kind gesund? Wie entwickelt sich sein Essverhalten? Braucht sie selbst mehr Freiraum und Unabhängigkeit? Lässt sich das Stillen mit ihrer Berufstätigkeit vereinbaren? Wie ist die Situation in der Familie? Wie läuft die Paarbeziehung der Eltern?
Es liegt in der persönlichen Verantwortung der Mutter, selbst zu entscheiden, was für sie und ihr Kind stimmig und möglich ist.
Die Stillbeziehung ist etwas ganz Intimes zwischen Mutter und Kind, wird von diesen beiden Personen eingegangen, erhalten und aufgelöst. Das sollte von der Umgebung respektiert werden. Es ist für langzeitstillende Mütter nicht einfach, selbstbewusst von vorgegebenen Zeitplänen abzuweichen.
Mütter, die länger stillen, bereiten anderen Müttern den Weg, die dies auch gerne tun würden, und zeigen, dass viele Wege für eine gesunde Entwicklung möglich sind.
von Theresia Herbst
Quelle: Still-Lexikon – Infoportal rund ums Stillen der Beitrag ist in leicht veränderter Form erschienen