Bindungshunger – Wenn Kinder straucheln - Foto AdobeStock © Andrii IemelianenkoWarum Kinder und Jugendliche straucheln – Oder: Für welche Alltags- und Verhaltensprobleme Bindung die Erklärung UND der Schritt hin zur Lösung sein kann.

Zeichen und Auswirkungen von Bindungshunger

Die Nachrichten sind voll von alarmierenden Studien, und wir alle spüren es irgendwo: Irgendetwas stimmt nicht mit unseren jungen Menschen. Als Eltern beobachten wir vielleicht mit Sorge, wie unsere eigenen Kinder und Jugendlichen kämpfen, sei es mit der Konzentration in der Schule, plötzlicher Aggression oder einer überwältigenden Angst. In den letzten Jahren und Jahrzehnten erleben wir im deutschsprachigen Raum – und tatsächlich weltweit – einen besorgniserregenden Anstieg psychischer Belastungen bei Jugendlichen und zunehmend auch schon bei unseren Kindern.

Da ist die Rede von wachsendem Leistungsdruck in der Schule, von der erdrückenden Perfektion der Social-Media-Welt, von den Ängsten vor globalen Krisen wie dem Klimawandel, die schwer auf kindlichen und jugendlichen Schultern lasten. Wir sehen immer häufiger Kinder und Teenager, die mit Angststörungen und Depressionen kämpfen, sich überfordert fühlen oder Verhaltensweisen zeigen, die uns ratlos machen. Diese Symptome sind laut und deutlich – doch was, wenn sie nur die Spitze eines Eisbergs sind?

Was, wenn hinter vielen dieser alltäglichen Schwierigkeiten und herausfordernden Verhaltensweisen ein tieferliegender, oft unsichtbarer Mangel steckt? Ein Mangel, der das Fundament der Entwicklung beeinflusst und der vielleicht die eigentliche Wurzel des Problems ist. Genau das möchte ich beleuchten.

Denn hinter vielen Alltags- und Verhaltensproblemen kann ein Mangel an Bindung stecken!

Hinter Aufmerksamkeitsproblemen …

… steckt ganz oft ein Phänomen namens „Bindungshunger“. Denn Kindern, die bindungshungrig sind, bleibt nichts anderes übrig, als auf Nahrungssuche zu gehen. Sie sind somit nicht frei, um sich zu konzentrieren, zuzuhören oder ruhig da zu sitzen – ihr System ist im Arbeitsmodus. Und alles, was nach Bindungsnahrung riecht, wird von der Aufmerksamkeitssteuerung augenblicklich priorisiert, im Sinne von: „Da war ein Getuschel in der Bankreihe hinter mir! Ich muss wissen, was die gesagt haben, sonst gehöre ich nicht dazu …“. Und ganz wichtig: Das geschieht unbewusst, unwillkürlich und entgegen allen guten Absichten des Kindes.

Hinter dem Boss-Gehabe der 6-Jährigen …

… deren Hunger nach Aufmerksamkeit nicht zu sättigen ist und deren Forderungen nie erfüllt werden können, weil sie immer noch einen draufsetzen, steckt oft eine Bindungsabwehr respektive eine Bindungsstörung. Das Innere dieses Kindes hat – auch hier unbewusst – beschlossen, dass es selbst das Zepter in die Hand und die Führung übernehmen muss. „Seine“ Erwachsenen scheinen dazu nicht fähig zu sein und es fühlt sich zu unsicher oder zu verletzend an, von ihnen abhängig zu sein. Selbst im Lead zu sein, fühlt sich dagegen viel weniger verletzlich an – auch wenn das von außen gesehen absolut hirnrissig ist, zumal eine 6-Jährige weder Kleider waschen noch Spaghetti kochen kann.

Hinter aggressivem Verhalten von Schulkindern …

… steckt meist Unreife. Alle Schulkinder wissen oder fühlen, dass sich Probleme nicht mit Gewalt lösen lassen – zumindest nicht wirklich. Hinter Kindern, die trotzdem zuschlagen, wenn ihnen etwas nicht passt, steckt zweierlei: Sie können zum einen die Vergeblichkeit, der sie gerade begegnen, nicht fühlen (also kein „Ich bin traurig, dass sie nicht an mich gedacht und einfach ohne mich mit dem Spiel angefangen haben“, sondern nur ein „Diese A… löcher haben ohne mich angefangen – na warte …!“). Und zum anderen reagieren sie völlig impulsiv, das heißt, sie sind in dem Moment nicht fähig, den Angriffsimpuls („Das ist so gemein! Ich werde es ihnen zeigen …!“) innerlich auszubalancieren. Dem Impuls zuzuschlagen wird also kein „Aber es sind eigentlich meine Freunde, ich möchte sie nicht verletzen“ oder kein „Wenn ich jetzt zuschlage, lassen sie mich sowieso nicht mehr mitspielen … entgegengesetzt. – Und ja, auch hier steht Bindung an der Wurzel des Problems:

Denn um zu reifen und verletzliche Emotionen fühlen und widersprüchliche Emotionen ausbalancieren zu lernen (das ist das, was Reife ausmacht!), braucht es einen sicheren Bindungsraum und fürsorgliche Vorbilder.

Hinter der Angststörung und Depression von Jugendlichen …

… kann ganz Ähnliches stehen wie hinter aggressivem Verhalten: Die Unfähigkeit das, was so alarmierend ist, zu fühlen. Denn das will in der Kindheit entwickelt und geübt werden – und zwar anhand von kleinen Alarmgefühlen. Und genau über diese gehen viele Erwachsene einfach hinweg respektive reden sie ihren Kindern aus: „Hab dich nicht so, du bist schließlich schon Fünf!“ –

Dabei braucht es einen sicheren Raum und einfühlsame Erwachsene, damit Kinder sich mitteilen und sagen können, dass sie Angst haben, sich unwohl oder unsicher fühlen.

Wer so was äußert und dann ausgelacht, belehrt oder beschämt wird, kann keine Beziehung zu diesen Emotionen entwickeln – und ist dann als Teenie mit dem großen Alarm, den die Pubertät sowieso mit sich bringt, und der in unserer Gesellschaft momentan allgegenwärtig ist, völlig überfordert. Das ist das Gegenteil von Resilienz, weshalb sich daraus waschechte Angststörungen entwickeln können – oder eben auch Depressionen (dann, wenn alles „de-pressed“ also unterdrückt werden muss).

Bindung ist die Zutat, die es braucht, um Probleme zu lösen

Natürlich möchte ich nicht behaupten, dass hinter all diesen Problemen „nur“ ein Mangel an Bindung steckt und klinische Abklärungen oder psychologische und medizinische Unterstützung somit sinnlos sind! So etwas stünde mir gar nicht zu!

Und gleichzeitig bin ich überzeugt, dass Bindungshunger und Bindungsmangel bei der Entwicklung der oben beschriebenen Probleme eine Rolle spielen.

Und ich bin felsenfest davon überzeugt, dass Bindung die Zutat ist, die es braucht, um diese Probleme für unsere Kinder und mit unseren Jugendlichen zu lösen.

Damit haben wir Erwachsene – Mütter, Väter, Großeltern, Onkel & Tanten, Betreuer:innen und Lehrer:innen – vieles selbst in der Hand. Und das ist doch eine wunderbare Nachricht.

von Simona Zäh

Links zum Thema

Vorsicht: Bindungshunger! Oder: Das eine Bedürfnis, das alle anderen übertrumpft. Was verstehen wir heute unter „Bindung“ und wie hat sich das Verständnis seit Bowlby/Ainsworth weiterentwickelt? Simona Zäh erläutert in ihrem Video-Beitrag, wie sich die Bindungsfähigkeit unserer Kinder über sechs Stufen entwickelt, dass Bindung wie Hunger funktioniert und dieser Bindungshunger an der Wurzel vieler Probleme stehen kann.

Psychische Probleme und Verhaltensprobleme bei Kindern 0-6 Jahre, Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (BIÖG), 09.08.2024

21–23 % der Jugendlichen (7-17 Jahre) sind zunehmend von psychischen Belastungen wie psychische Auffälligkeiten, Angstgefühle betroffen, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), COPSY-Studie, 2020–2024