Die Sehnsucht kleiner Kinder - Foto © Kertin Pukall„Wann werden wir uns in unserer Gesellschaft besinnen und anfangen, in die frühe Bindung zu investieren, anstatt in die frühe Trennung?“ Hanne K. Götze

Was wünschen wir uns, wenn wir ein Kind bekommen? Wir wünschen uns das Beste für unser Kind, dass es gedeiht und dass es gesund groß wird. Wir wünschen uns, dass es später gut durch manche „Klippen“ der Pubertät kommt und dass dann sein Lebensaufbau – die Berufs- und Partnerwahl – gelingen möge. Kurz, wir wünschen uns Freude an und mit unserem Kind, eine geglückte Erziehung und eine glückliche Beziehung zueinander. Das ist die Sehnsucht aller Eltern. Und wenn das gelingt, ist das das Glück der Eltern!


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Aber wie können wir das erreichen? Wenn sich unsere Sehnsucht als Eltern erfüllen soll, dann lohnt es sich, dahin zu schauen, wo alles beginnt, an den Lebensanfang. Und wir sollten uns fragen: Was ist denn die Sehnsucht kleiner Kinder?

Liebe muss ankommen!

Immer, wenn ich wieder ein Neugeborenes im Arm halten konnte und in sein Gesichtchen sah, dachte ich, es schaut so ernst und eindringlich, als wüsste es ganz genau, wonach es sich sehnt. Es kann es bloß noch nicht in Worte fassen. Der Mensch kommt mit einer großen Grundsehnsucht zur Welt. Diese Grundsehnsucht ist die Liebe. Eine Liebe, die ihn annimmt und die ihm bedingungslos geschenkt wird.1 Liebe ist nicht etwas, was theoretisch vorausgesetzt oder formuliert werden kann, um empfunden zu werden. Liebe muss ankommen.

Wenn sich unser Kind geliebt fühlen soll,  muss die Liebe unter die Haut gehen und direkt ins Herz treffen. Das Kind muss sie hautnah, mit allen Sinnen und mit allen Fasern spüren. Das passiert dann, wenn die instinktiven und elementaren Lebensbedürfnisse des Kindes erfüllt werden. Es ist durch die neun Monate währende Schwangerschaft auf eine vollkommen umschließende Geborgenheit der Mutter geprägt und an sie gewöhnt. Ich glaube, es kennt uns viel besser als wir das Kind. Und nach der Geburt in eine kalte, helle, laute und unendlich weite Welt – der Ent-Bindung – braucht es sofort wieder Bindung: Es braucht sofort wieder die unmittelbare Nähe zu genau dieser Person, eben seiner Mama: die Wärme ihres Körpers, das Umschlossensein in ihren Armen, ihre Haut, ihren Herzschlag, den Klang ihrer Stimme, ihr liebes Gesicht und – was neu ist – die gute warme Milch aus ihrer Brust für das bis dahin unbekannte Hungergefühl im Bauch. Dann „weiß“ das Kleine, dass alles gut ist. Es wird wieder still und friedlich. Sein Körper und seine Seele, die in dieser Phase noch total eins sind, fühlen sich wohl. Und es kommt in seinem Innersten an: Ich werde geliebt. Ich bin wertvoll.

Mütterlichkeit

Und damit diese Botschaft sich dauerhaft in seiner Seele verankern kann, muss dieses Wohlgefühl immer und immer wieder hergestellt werden. Die im Körper der Mutter begonnene körperliche und emotionale Entwicklung kann nur an ihrem Körper fortgesetzt werden. Die sensorischen Impulse, die das kindliche Gehirn bereits im Mutterleib empfangen hat, müssen für seine optimale Entfaltung fortwirken können. Das Kind braucht die elementare körperliche Mutterwahrnehmung. Man kann es auch so sagen: Das kleine Kind sehnt sich nach der Mütterlichkeit seiner Mutter. Mütterlichkeit ist – so meine persönliche Definition – die emotionale Fähigkeit und die Motivation einer Mutter, die elementaren Grundbedürfnisse ihres Kindes zu erfüllen.

Es ist unsere mütterliche Fähigkeit, unsere Kinder aus der Sicht unseres Herzens zu umgeben und zu betreuen. Diese Fähigkeit ist ebenfalls bereits in uns Frauen angelegt, sie erwacht in uns – sofern sie nicht durch verschiedene Faktoren blockiert wird – durch Schwangerschaft, Geburt sowie durch die unmittelbare Nähe zum Kind nach der Geburt, insbesondere durch die dadurch ausgeschütteten speziellen Hormone. Mütterlichkeit ist die Antwort auf die Sehnsucht kleiner Kinder. Sie wird gelebt, indem die Mutter spontan und aus der Intuition heraus immer wieder erspürt, was ihr Kind gerade braucht: Sie reagiert auf die Signale des Kindes mit Stillen, Tragen, liebevoller Schlafbegleitung, Liebkosen sowie liebevollem Ansehen, Ansprechen und treuem und verlässlichem Dasein. Nur aus der beständigen Nähe heraus können die Mutter und ihr kleines Kind eine sichere Bindung zueinander entwickeln: vertraute Zwiesprache halten sowie emotionale Botschaften einander senden und widerspiegeln.

Sichere Mutter-Kind-Bindung ist die Basis

Die sichere Mutter-Kind-Bindung als Primärbindung ist die Basis für den Bindungsaufbau zu anderen Personen, z. B. dem Vater, den Geschwistern usw. als Sekundärbindungen. Der Vater ist während des Heranwachsens ebenso wichtig wie die Mutter, nur ist seine Bedeutung für das Kind eine andere. Eine Mutter kann stillen, ein Vater nicht. Das Kind kommt emotional von der Einheitsbeziehung mit der Mutter her, die Beziehung zum Vater wird erst allmählich, insbesondere ab ca. der Einjährigkeit, aufgebaut. Man spricht auch von Triangulierung.

Die sichere frühe Bindung ist ferner die Basis für die altersentsprechende Reifeentwicklung des Gefühlslebens und der Selbständigkeit. Ein solcher Reifeprozess muss und kann nicht trainiert werden, sondern er vollzieht sich bei guter Bindung von selbst. Ein Kind, das nichts tun muss, um an  Liebe satt  zu werden, fühlt sich frei und geborgen, die Welt zu entdecken.

Wer ein solches Bindungsfundament bekommen hat, hat im späteren Leben die allerbesten Chancen, seine geistigen Anlagen voll zu entfalten und seelisch stabil die „Stürme“ seines Lebens zu bestehen. Die Basis für ein gelingendes Leben ist gelegt!

Krippe heißt Trennung – gefühlt: für immer!

Wie sieht das nun aus, wenn das Kind in eine Krippe kommt? Die meisten Kinder schreien furchtbar, wenn die Mutter geht. Ihr Bindungsinstinkt ist alarmiert. Die Kinder empfinden: Die Mama ist weg – für immer und ewig. Ihre erste große Liebe ist gegangen. Sie trauern. Ihr Verhalten wird in dieser Situation oftmals passiver oder aber aggressiver sowie stereotyper im Spielverhalten.

Sie sind aufgrund ihres Alters noch nicht in der Lage, sich als Mitglied einer Gruppe zu fühlen. Die Kinder spielen daher mehr nebeneinander her als miteinander. Sie funktionieren in einer teilweise erstaunlichen Selbstständigkeit, aber sie lachen kaum. Aber nur in der Freude am Tun und im Glück des sicheren Bindungszusammenhanges mit Mama oder Papa, kann das Kind Erfahrungen als Lerninhalte speichern. Dennoch wird man in der Öffentlichkeit nicht müde, die Krippe als Einrichtung der Bildung und der Sozialkompetenz zu rühmen. Das ist eine Illusion, weil in der Krippe die Sehnsucht kleiner Kinder – die ihnen instinktiv vorgegebenen Grundbedürfnisse – nicht erfüllt werden können.

Der Stress der Trennung und des Funktionierenmüssens in einer Reife- bzw. Selbstständigkeitsstufe, die ihrem Alter noch nicht entspricht, ist objektiv nachweisbar durch die Messung des Cortisols  im Speichel. Cortisol gilt als das Stresshormon schlechthin. Bei andauerndem Stress ergeben sich chronisch veränderte Cortisolwerte, die auch bei als gut eingewöhnt geltenden Kindern gemessen wurden.  Als unmittelbare Folge sind infektiöse Erkrankungen der oberen Luftwege, des Magen-Darm-Traktes und des HNO-Bereiches in mehrfach erhöhten Raten zu verzeichnen.

Die langfristigen Folgen des Trennungsstresses

Bezüglich möglicher langfristiger Folgen kam die multivariate Langzeitstudie NICHD (USA) zu folgenden Ergebnissen: Je eher und je länger die Kleinkinder in einer Einrichtung betreut wurden, desto größer sind die Risiken für ein späteres dissoziales Verhalten, und zwar unabhängig von der Qualität der Gruppenbetreuung und unabhängig vom Familienhintergrund. Das heißt, auch bei bester Krippenbetreuung geht die Mehrheit der Kinder mit Risiken ins Leben.

Weiter stellte man im Rahmen dieser Studie bei den inzwischen 15jährigen Probanden fest, dass bei denen, die in  substanzieller Krippenbetreuung gewesen waren, eine gleich schlechte Stressregulationsfähigkeit vorliegt, wie bei denen, die familiär vernachlässigt wurden. Außerdem waren  die negativen Effekte von emotionaler Vernachlässigung in der Familie und von Krippenbetreuung additiv wirksam. Das bedeutet: Eine Krippenbetreuung kann einen vernachlässigenden oder gar misshandelnden Familienhintergrund nicht ausgleichen, sondern verstärkt ihn. Also nützt diesen Kindern eine Krippe nichts. Wenn man ihnen helfen will, müsste man sie mit ihren Eltern zusammen familientherapeutisch begleiten. Die aus der frühen Kindheit ins spätere Leben mitgenommene verschlechterte Stressregulationsfähigkeit ist als Risiko für  alle seelischen, psychosomatischen und diverse organische Erkrankungen einzustufen, aber auch für Verhaltensprobleme, wie ADHS, sowie für eine verminderte Beziehungs- und Glücksfähigkeit.

Auffälligkeiten dort, wo die Krippe Tradition hat

In den neuen Bundesländern wird das Krippenmodell bereits seit 2-3 Generationen praktiziert, inzwischen als eine tief verinnerlichte Normalität. Finanzielle Sachzwänge tun dabei das Ihre. Sein Kind in die Krippe zu geben, wird nicht mehr hinterfragt, u. a. weil man selbst dort war und ebenso „da durch“ musste. Dass frühe Bindungserfahrungen, wie diese, von Generation zu Generation weitergegeben werden, hat die Bindungsforschung immer wieder bestätigt gefunden. Frühe Defizite an sicherer Mutterbindung, die u. a. durch die Trennungssituation Krippe entstehen, können später emotionale Intelligenz,  Sozialverhalten, Stressbewältigung und Lernen beeinträchtigen.

Die Fakten sprechen für sich: In den neuen Bundesländern müssen dreimal soviel Kinder wegen ADHS in eine Klinik wie in den alten. Allein in Sachsen sind 25 % der Kinder unter 12 Jahren  in psychologischer Behandlung. In Thüringen galten 23 % der Schulanfänger im Jahr 2012 als sprachgestört. Bundesweit stieg die Menge des verschriebenen Ritalins im Jahre 2009 auf ca. 1,7 pro Jahr gestiegen, wie es aus einer Pressemitteilung der Techniker Krankenkasse von 2011 hervorgeht.

Geringe Stress- und Frustrationstoleranz gepaart mit einer erhöhten Aggressivität findet im Osten – neben anderen Ursachen – leider auch ihren Ausdruck, ihre Projektionsfläche und ihr Ventil im Rechtsextremismus eines Teils der Jugendlichen. Ein anderes derartiges Ventil sind die vermehrten Fanausschreitungen ostdeutscher Fußballklubs.

Können wir das wollen?

Können wir es uns angesichts solcher Trends wirklich leisten, Kinder bereits in der verletzlichsten Phase ihres Lebens einem zu hohen Stress auszusetzen? Wäre es nicht endlich an der Zeit, solche  gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, dass die frühe Basisbindung zwischen Mutter und Kind gelingen kann?

von Hanne K. Götze