Bullerbü - Foto iStock © PeopleImagesKinder brauchen eine verstehbare, greifbare Welt. Alte Kinderbücher – am ehesten fallen einem dazu die Bücher von Astrid Lindgren ein – legen Zeugnis ab von dem Wandel, den Kindheit durchgemacht hat. Dort wird meist eine kleine, überschaubare Welt beschrieben, in denen Menschen einfache, durchschaubare Dinge tun. Denken wir an „Die Kinder aus Bullerbü“, „Michel in der Suppenschüssel“ oder die Lotta-Bände. Es passiert darin meist nichts Großartiges, sondern ganz Alltägliches. Der Alltag ist geprägt von den Dingen, die man zu Hause so tat, Himbeeren pflücken, Heu rechen, kochen. Die Geschichten handeln von den Tieren, die die Welt der Kinder umgab, von den Jahreszeiten, die man erlebte und die das Leben bestimmten. Sie handelten von Menschen, die diesen Alltag mit den Kindern teilten, den Eltern, Großeltern, den Nachbarn, den Menschen, die um die Kinder herum tätig waren.

Die Welt war überschaubar und klein und die Orte, die für die Kinder aus diesen Geschichten Bedeutung hatten, waren zu Fuß erreichbar. Die Kinder waren ganz selbstverständlich eingebunden in kleine häusliche Tätigkeiten.

Die Geschichten handeln auch von schier nicht enden wollenden Spielnachmittagen, die die Kinder, die sich aus der Umgebung zusammen fanden, draußen miteinander verbrachten, kleine und große. Diese Gegebenheiten, heute oft spöttisch als Bullerbü- Idylle bezeichnet, haben mit der Wirklichkeit der Kinder heute meist nicht mehr viel zu tun. Dennoch haben diese Geschichten für Kinder nicht an Attraktivität verloren.

Kinder lieben diese Geschichten – Warum ist das so?

Die Kinder lernen heute viele verschiedene Welten kennen, sie werden von einer „Welt“ in die andere transportiert.

Vieles, was sie umgibt, bleibt für sie unverständlich und undurchschaubar. Wer spinnt heute noch Wolle, kocht seine eigene Marmelade und wo spielen Kinder heute noch alleine am Bach? Offenbar beschreiben diese Geschichten einen Zustand, in dem sich die Kinder, wenn sie sie hören, aufgehoben fühlen, weil sie diese Welt als verstehbar erleben. Verstehbarer als ihre „wirkliche“ Welt.

Hunderte von Malen habe ich kleinen Kindern zum Beispiel das Bilderbuch „Pelles neue Kleider“ (ebenfalls von Astrid Lindgren) vorgelesen. Von dieser Geschichte können Kinder gar nicht genug kriegen, dabei erzählt es nichts weiter als den Prozess der Fertigung eines Kleidungsstückes von der Wolle bis zum fertigen Anzug, aber es bedient sich schöner Bilder einer verstehbaren und klaren Welt, in der jeder Mensch seine Aufgaben hat. Es ist eben kein Sachbuch, sondern eine Geschichte.

Dort wird in einfachen Bildern von einem kleinen Jungen erzählt, dessen Hosen zu kurz geworden sind und der seinem Schaf die Wolle abschneidet und dann Menschen mit verschiedenen Fertigkeiten aufsucht, die ihm – gegen entsprechende Gegenleistungen (er jätet zum Beispiel die Mohrrüben, während seine Großmutter die Wolle spinnt) – bei der Verarbeitung der Wolle helfen. Teilhabe nennt man das heute.

Die reale Welt zusammen mit den Erwachsenen erleben und bearbeiten

Und so sehr wie diese Geschichte kleine Kinder fesselt, so sehr wünschen wir Erwachsenen uns manchmal, dass die Welt für die Kinder noch so klar und einfach sein möge. Eine Welt, in der Kinder mit tätigen Erwachsenen die Welt erleben können und ihren Teil zum Gelingen beitragen.

Und hier sind wir bei einer der, in meinen Augen, wichtigsten Erkenntnis der neuen Pädagogik: dass man Kinder nicht in künstlichen Welten erziehen darf, abgeschnitten vom Leben, sondern dass es grundlegend wichtig ist, dass Kinder Wirklichkeit nicht über Medien erfahren oder ihr Kinderleben in einem Vakuum verbringen, bestehend aus Pseudodingen, künstlichen Welten und künstlichen Situationen. Lebenswirklichkeit sollte stattdessen an dieser Stelle stehen.

Was aber bedeutet das für das kleine Kind?

Es ist ja nichts Spektakuläres, das dem Kind da zu bieten wäre. Eigentlich braucht es nur die richtige Umgebung und Menschen mit der richtigen Einstellung, einsichtige, unverkrampfte, heitere Menschen, die es dem Kind überlassen, in welcher Weise es sich Wirklichkeit aneignet. Eigentlich brauchen die Kinder nichts weiter als ein bisschen Bullerbü.

Das heißt bei den kleinen Kindern vor allem einen Erwachsenen, der um das Kind herum all die Dinge tut, die es nachvollziehen kann. Denn in den ersten Jahren seines Lebens ist der Mensch ein nachahmendes Wesen. Dazu müssen die Tätigkeiten, die der Erwachsene tut, klar, eindeutig und durchschaubar sein, die Umgebung des Kindes ebenso. Nur dann wird es in genügendem Maße zur Nachahmung angeregt, nur so kann es die Welt verstehen lernen.

Nun ist unsere Wirklichkeit nicht mehr so, dass täglich Brot gebacken wird, in der man einkocht und Marmelade zubereitet; es wird nicht mehr geflickt oder von Hand gewaschen, nützliche Maschinen haben die Handarbeit ersetzt, Dinge werden weggeworfen statt repariert. Das ist in modernen Haushalten so. Aber, und das ist das Entscheidende: Die Kitas und Kindergärten könnten Orte sein, an denen Kinder wieder solche Prozesse erleben könnten.

Anstatt sich Beschäftigungen für die Kinder auszudenken, sollten die Erzieherinnen selber beschäftigt sein mit all den Dingen, die so anstehen: Ein Stuhl ist zu reparieren, eine Socke zu stopfen, ein Essen zu kochen. Und da sind wir dann auch schnell „raus aus der Kita“ , nämlich besten Falls im Garten bei der Obsternte, beim Umgraben, Pflanzen, Wässern, Bäume schneiden, Laub rechen, Tiere versorgen …

Raus aus den künstlichen Welten

Bullerbü- Foto iStock © Lisa5201 Statt häuslicher oder institutioneller Verinselung  müssen Kinder raus aus künstlichen Welten, raus aus Situationen, in denen der Erwachsene vorgibt, wofür sich das Kind zu interessieren hat, in denen er sich Lernprogramme ausdenkt. Solange der Erwachsene in der Umgebung des Kindes Sinnvolles tut und es zulässt, dass das Kind mittut, wenn es das möchte und zwar „in echt“: Gemüse schneiden mit einem richtigen Messer, sägen mit einer echten Säge, schneiden mit einer richtigen Schere (ja, das alles können Zwei- und Dreijährige schon) und sich ansonsten wenig einmischt in die Tätigkeiten und Spiele, findet das Kind seine eigenen Wege der Welterkundung.

Sie sollten so oft wie möglich das Haus verlassen und die Welt erkunden, vorzugsweise in der Natur. Auf Bäume klettern und balancieren üben auf Baumstämmen, anstatt auf TÜV geprüften Spielplätzen. Schnecken, Würmer und Käfer beobachten, Essbares finden, Feuer machen, buddeln und matschen, Wetter und Wunder erleben.

Das heißt auch, Kontakte zu den Nachbarn knüpfen und zu Menschen, die was „Richtiges“ (weil Verstehbares) können. Den Schuster besuchen und den Bäcker. Dem Bagger zugucken auf der Baustelle nebenan. Mit Tieren Kontakt haben. Hühner, Schafe erleben und deren Nutzen für den Menschen. Also beim Scheren zusehen, beim Wolle kardieren, Spinnen und Weben. Eier suchen und daraus Kuchen backen. Eben ein bisschen Bullerbü.

Warum das alles?

Für seine gesunde Entwicklung muss das Kind Kohärenz entwickeln, was meint, die Welt als bedeutsam und sinnhaft, als „gut“ zu erleben. Es bedeutet ebenfalls das Gefühl des Kindes, Einfluss auf die Welt nehmen, sie gestalten zu können und die Welt – auf seine Weise – als verstehbar zu erleben.

Durch Kohärenzerfahrungen entsteht die Fähigkeit, Probleme meistern zu können, Mut zu entwickeln und Lebenssicherheit zu erlangen. Diese Faktoren sind grundsätzlich beim Kind angelegt, können aber durch schlechte Bedingungen und falsche Erziehung erheblich gestört werden.

Wird es aber in seinem Verlangen, Dinge auszuprobieren, nicht ständig vom Erwachsenen dirigiert, erlangt es Kompetenz; durch Lernen in Zusammenhängen entwickelt das Kind ein Gefühl von Kohärenz, es lernt, sich nicht nur auf den Erwachsenen zu verlassen, sondern selbstständig Lösungen zu finden. Es lernt zu unterscheiden, wann es sich Hilfe holen muss und wann nicht.

Deshalb brauchen auch schon kleine Kinder unbeobachtetes Spiel

Bullerbü - Foto HEWT5FSie brauchen Hecken zum verstecken und Herausforderungen durch ungestaltetes Gelände. Wie häufig bestehen die „Gärten“ von Kitas und Kindergärten aus langweiligen, vorzugsweise eingeebneten Flächen, gut überschaubar und pflegeleicht!

Feuer, Wasser, Luft und Erde, die vier Elemente sollen die Umgebung des Kindes bilden, anstatt ausgeklügelter Lernprogramme, die ihnen didaktisch Wirklichkeit vermitteln sollen.

Nicht mit den Zwei- oder Dreijährigen die Stadt  erkunden, das Planetarium  besuchen oder das Technikmuseum. Vor zu vielen Eindrücken sollte man sie in diesem zarten Alter noch schützen, denn die vielfältigen Sinneseindrücke, die ungefiltert auf das Kind einwirken, bleiben in ihrer Vielfalt unverstanden und unverdaut und bewirken eher Stress.
Aber gemächlich Wege gehen, rund ums Haus und dabei immer Neues entdecken, das entspricht den Kindern.

Muße ist hier das Zauberwort

Wenn man Kinder im familiären Umfeld beobachtet, erlebt man ja sehr schön, wie sie sich von selbst Territorien erobern und ihren Radius der Welterkundung selbständig erarbeiten. Wann Kinder zum ersten Mal alleine in einem Zimmer bleiben, ohne Mama im Garten spielen, alleine zum Bäcker gehen, die Nachbarin besuchen, alleine um den Block laufen, ist individuell verschieden, aber weiter geht die Abenteuerlust in diesem Alter sicher noch nicht. Also tun wir gut daran, uns an den Kindern zu orientieren und ihnen nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig zuzumuten.

Es geht um Wirklichkeit, um das Erleben lebendiger Prozesse, nicht um Events

Teilhabe kann nicht heißen, dass dem Kind viel an intellektueller Belehrung geboten wird, die es passiv aufnimmt, sondern vor allem soll und will es mittun.

Und deshalb muss zu Hause und in den Kitas unbedingt gekocht werden, gebacken, gewaschen, gebügelt, genäht, gepflanzt und repariert. Bei diesen Tätigkeiten können Kinder beteiligt werden.

Also: Kinder in den ersten drei Jahren brauchen besonderen Schutz, sie brauchen eher Abschirmung vor zu vielen Eindrücken, die von außen ungefragt auf sie einstürmen, aber sie brauchen die Erfahrungsmöglichkeiten, die sie selber suchen. Deshalb darf man sie nicht in sterilen, abgeschirmten und abwaschbaren Räumen von der Welt isolieren. Bieten wir ihnen lieber ein bisschen „Bullerbü“!

von Gabriele Pohl