Empathiefähigkeit und frühkindliche Bindungsprozesse - AdobeStock © LIGHTFIELD STUDIOSAlles deutet darauf hin, dass Empathiefähigkeit viel mit gelingenden frühkindlichen Bindungsprozessen zu tun hat. Ob der Austausch von Gesten, Blicken oder ersten Worten – der feinfühlige Umgang mit dem Kind bestätigt es nicht nur darin, dass von ihm ausgesandte Signale, egal ob Freude oder Kummer, bei der oder dem „Anderen" ankommen und, wenn man so will, „empathisch" verarbeitet und kodiert werden. Sondern auch, dass es mit der Zeit am Modell seiner Eltern lernt, anderen zuzuhören, sich in sie hineinzuversetzen und sie nicht zu übersehen.

Langzeitstudie bestätigt Bedeutung von Empathie in der Erziehung

Eine neue Untersuchung, die 180 Menschen über einen Zeitraum von 25 Jahren vom Jugend- bis ins Erwachsenenalter begleitet hat, bestätigt diesen Befund:

Wer einst von seinen Eltern empathisch behandelt wurde, wird sich auch so gegenüber Freunden und später den eigenen Kindern gegenüber verhalten:

„Wenn wir empathische Kinder erziehen wollen, müssen wir ihnen direkte Erfahrungen damit geben, verstanden und unterstützt zu werden", so die Leiterin der Studie Jessica Stern (University of Virginia).

Darüber hinaus hebt sie besonders die Wirkung empathischer Kommunikation unter den Jugendlichen selbst hervor, die mit Beginn der Pubertät den engen Bezug zu den eigenen Eltern ablöst. Genau an dieser Stelle wird auch die Bedeutung eines pädagogischen Handelns sichtbar, das schon in der Kita, später an Schulen oder Jugendzentren darauf hinwirkt, dass Kinder und Jugendliche lernen, sich untereinander zugewandt zu begegnen, weil sie auf diese Weise verstehen lernen, was in dem einen oder der anderen gerade vorgeht. Was auch für diejenigen gelten sollte, mit denen man vielleicht nicht so gut kann wie mit anderen – ein Punkt, der in der Empathieforschung wie auch in der zitierten Studie häufig übersehen wird.

Empathie für alle: Überwindung von Vorurteilen und Gegensätzen

Denn natürlich ist es ziemlich einfach, mit denen zu fühlen, die einem selbst nahe sind. Und das gilt nicht nur für Kinder, sondern auch für uns Erwachsene. Schwieriger hingegen fällt es, Menschen emphatisch zu begegnen, die einem in ihrer Art oder ihrem Aussehen zunächst fremd sind oder die man auf Anhieb vielleicht „weniger mag". Aber auch sie verdienen unser Einfühlungsvermögen. Und dies sollte sowohl im Elternhaus wie in der Kita und Schule immer wieder und am besten an konkreten Beispielen, praktiziert und gelernt werden:

 „Stell dir vor, du wachst eines Morgens in einem dir völlig fremden Land auf, umgeben von Menschen, die du nicht kennst und die dich nicht kennen. Auf den ersten Blick erscheinen sie dir vielleicht fremd und manche haben auch ganz andere Gewohnheiten und Vorstellungen als du selbst. Wie möchtest du dann von ihnen empfangen werden?"

Empathie als pädagogische Herausforderung

Wir denken gerne in Gegensätzen, wenn es um die Zuneigung zu anderen Menschen geht, was von Populisten jedweder Couleur immer wieder gerne ausgenutzt wird. Dies gilt es, auch hinsichtlich der eigenen Empathiefähigkeit, immer wieder neu zu bedenken und zu überwinden. Wenn wir als pädagogische Fachkräfte vor einer neuen Klasse stehen, erscheinen uns Kinder oder Jugendliche auf Anhieb oft sympathisch und weniger sympathisch. Bei ersteren fällt uns emphatisches Verstehen einfach. Entscheidend aber sind gerade die anderen, die unsere emphatische Teilhabe oft besonders brauchen. Es geht um nicht weniger, als dass jeder, egal ob Kind, Jugendliche oder Erwachsener unser Mitgefühl verdient, unabhängig vom ersten Eindruck, dem Aussehen und Verhalten. Nur so behalten wir ihn oder sie als Mensch in seiner Ganzheit im Auge.

von Claus Koch

Quelle: Anderen ohne Vorurteile begegnen – dies gilt auch für unser Einfühlungsvermögen, Semnos I Pädagogisches Institut Berlin (PIB), 21.06.2024

Links zum Thema

Jessica A. Stern et al, Empathy across three generations: From maternal and peer support in adolescence to adult parenting and child outcomes, Child Development, 22 May 2024

„Empathie kann vererbt werden", Romana Beer, science.ORF.at (Österreichischer Rundfunk) zur Langzeitstudie von Jessica A. Stern et al, Empathy across three generations, Child Development, 22 May 2024

Wie Beziehungen uns prägen: Eltern geben Empathiefähigkeit an ihre Kinder weiter, Spiegel.de, 23.05.2024

Psychiater Karl Heinz Brisch warnt vor den Folgen „Sehr besorgt": Kindern von heute fehlt wichtige Fähigkeit – was das bedeutet, Fokus-online, 15.09.2024

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