Als ich Vater wurde, fragte ich mich, was meine Aufgabe im Leben meiner Tochter Corinne sein könnte. Sollte ich ihr helfen, durchsetzungsstark, klug und erfolgreich zu werden? Oder sollte ich ihr helfen, sich gut anzupassen und mit anderen gut auszukommen? Oder sollte ich sie künstlerisch fördern?
Heute, im Rückblick, glaube ich, es gibt eigentlich nur eins, was man tun sollte: Dem Kind von Anfang an tiefe, verlässliche Geborgenheit schenken. Ihm zu spüren geben, wir sind immer für dich da. Wir lieben dich ohne Vorbedingungen. Wir freuen uns über dich und dein Wachsen. Wir schützen und pflegen dich. Wir nehmen teil an allem, was dich interessiert. Wir lassen dir alle Zeit, die du brauchst. Wir lachen und singen mit dir. Wir leben mit dir. Wir erklären dir, was du nicht verstehst. Und: Wir nehmen dich wahr und freuen uns, zu entdecken und zu verstehen, wer du wirst.
Es gibt kein Ziel, auf das hin man erziehen sollte, als dass der Mensch er selbst werde. Das braucht Vertrauen. Pestalozzi sagte: „Der Mensch ist gut. Und ist er’s nicht, gewiss hast du ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“ In diesem Vertrauen kann ich meinem Kind innere Geborgenheit schenken, die unbedingte Sicherheit, geliebt und getragen zu sein als das Individuum, das es ist und werden wird.
Dieses Getragensein macht den Menschen frei. Frei für liebevolle Teilnahme am Leben und an der Welt. Der große Schweizer Pädagoge und Philosoph Marcel Müller-Wieland sagte einmal:
„Nur durch innere Geborgenheit wird der Mensch wirklich frei.“
Er meinte nicht Freiheit von etwas, sondern Freiheit zu etwas. Freiheit, sich liebevoll zuzuwenden ohne Eigeninteresse.
Natürlich ist der Mensch ein Durchsetzungswesen. Er muss sich im Leben durchsetzen. Schon allein in der Ernährung. Wir zerstören Lebendiges, um zu leben. Auch der Vegetarier. Das ist unsere Tragik. Aber es ist gleichzeitig im Menschen angelegt, dass er seine Durchsetzungstendenz zumindest für kurze Momente loslassen kann zu Gunsten einer liebevollen, verstehenden Zuwendung zum anderen Wesen.
Diese Anlage entwickelt sich nicht von selbst. Sie muss gefördert werden von den ersten Lebenstagen an. Sie kann nur auf der Basis absoluter Geborgenheit entstehen. Das Kind lernt diese geistige Zuwendung am Verhalten der ersten Bezugspersonen, Mutter und Vater. Dieser Akt geistiger Zuwendung ohne Rückbezug auf die eigenen Durchsetzungsbedürfnisse ist der Schlüssel zu einem erfüllten, freudvollen Leben.
Meine vier Bilder von einem Herbstspaziergang in München veranschaulichen dies:
Im ersten Bild ist Corinne auf sich selbst bezogen, in ihrer Stimmung etwas verschattet. Vielleicht friert sie.
Im zweiten Bild entdeckt sie ein Eichhörnchen, sie staunt und freut sich.
Im dritten Bild nimmt sie Kontakt zur Mutter auf: Siehst du’s auch? Was bedeutet es dir? Die Mutter muss gar nichts erklären. Allein ihr inneres Anteilnehmen an dem kleinen Tier ruft im Kind die geistige Begegnung wach.
Das vierte Bild zeigt Corinnes uneingeschränkte Zuwendung auf dem Fundament innerer Geborgenheit – und die heitere Stimmungsfarbe ihrer Teilnahme.
von Hans Peter Scheier
Über den Autor: Hans Peter Scheier
ist Filmschaffender, Autor und Fotograf. Er hat Dokumentarfilme über das Aufwachsen von Kindern und die Frage nach echter menschlicher Bildung sowie einige Kinderkurzspielfilme gedreht. Website: www.hpscheier.ch
Links zum Thema
Aus Corinnes Leben und Bilder aus einer Kindheit, Dokumentarfilme von Hans Peter Scheier
Die Filme zeigen Beobachtungen unbeeinflusster Szenen aus dem kindlichen Alltag einer Anderthalbjährigen; wie nimmt sie ihre Umgebung wahr, welche Lernprozesse werden im alltäglichem Spiel in Gang gesetzt? Welche sozialen Lernprozesse erfährt ein kleines dreieinhalbjähriges Kind, dass etwa zwischen Aggression und Ängstlichkeit im Spiel mit anderen Kindern schwankt?
Vertrauensvolle Erziehung mündet in mündigen Bürgern