Mein Träger schätzt mich außerordentlich. Ich habe einen Abschluss in Sozialpädagogik, befinde mich auf dem Weg zur Familientherapeutin und investiere meine ganze Leidenschaft in meine Arbeit. Es ist vorgesehen, dass ich die Leitung der nächsten Krippe übernehme. Dennoch:
„Ich bin gegangen – die Kinder sind geblieben“.
Heute sitze ich auf einer Bank am Spielplatz. Mein kleiner Junge kniet vor mir und puhlt inbrünstig mit einem Stock im Sand.
Mein Blick fliegt über den Sand. Hier wuseln 24 kleine Menschen herum. Außer uns sind zwei Krippengruppen auf dem Spielpatz. Eine Erzieherin steigt neben mir auf die Bank um den Überblick zu behalten. 1, 2, 3, 4, 5, sie zählt die Kinder mit den umgehängten Reflektorbändern.
Das Los der Kinder
Seit 2013 gibt es einen Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz ab 1 Jahr. Immer mehr Babys und Kleinkinder werden in Krippen und Kitas betreut. Die Betreuungszeiten steigen – bei zunehmendem Fachkräftemangel.
Gesellschaftlicher Wandel geschieht häufig im Stillen und selbst das politisch laute Thema der Kinderbetreuung verläuft sich in einem Alltag, der in der Praxis nicht mehr hinterfragt wird. Auf emotionaler Ebene ist dieses Thema für viele Eltern jedoch zutiefst bewegend und immer wieder von Fragezeichen umgeben.
Bisher hat sich mal das eine, mal das andere Land, abhängig vom jeweiligen politischen System, durch intensive Krippenbetreuung hervorgetan. Momentan scheint sich nahezu die ganze westliche Welt in diese Richtung zu bewegen. Haben wir es möglicherweise mit einem großen gesellschaftlichen Experiment zu tun?
Gemäß dem heutigen Wissensstand ist das Gehirn nie wieder so plastisch wie in den ersten drei Lebensjahren und diese frühe Lebenszeit ist prägend für den Rest unseres Lebens.
Das Thema ist komplex und facettenreich. Es tangiert weitere Themen wie Emanzipation, Wirtschaftspolitik, die existenzielle und emotionale Situation von Familien, sowie den beschleunigten und optimierenden Zeitgeist.
Doch wo hat meine Nachdenklichkeit ihren Ursprung?
Angefangen hat alles mit meinem motivierten Berufseinstieg in einer Krippe. Ich wollte Teil der Zeitenwende sein und fand mich in einer Realität fern der schönen Konzepte und außerhalb der Elternaugen wieder.
Dienstagmorgen in einer multilingualen Kindertageseinrichtung
Ich schließe die Krippenräume auf. Hübsche kleine Holzstühlchen stehen an runden Tischchen. In der einen Ecke des Raumes befindet sich eine hübsche hochwertige Kletterburg für die Kleinen, der weitere Raum ist unterteilt in thematisch sortierte Spielecken. Hier findet sich alles, was das Kinderherz an Spielsachen begehren könnte; von der Puppenecke bis zur Bau- oder Kuschelecke … Wir sind eine multilinguale Einrichtung und bei Buchungszeiten über 9 Std. täglich kostet ein Betreuungsplatz 1000,- Euro pro Monat. Unsere Eltern sind Richter, Anwälte, Journalisten, Wirtschaftsmanager …
Während ich noch schnell die Fenster öffne und frische Papiertücher bereitstelle, höre ich, wie die erste Mutter zur Eingangstür hereinkommt und versucht, ihr Kind mit liebevoll gestresstem Ton beim Anziehen der Hausschuhe zu beschleunigen. In diesem Moment betritt Kalles Mama den Gruppenraum und drückt mir das 4 Monate alte Baby in den Arm. „Alles gut bei uns!“ Ein Küsschen auf die Babywange, ein schnelles Streicheln über den flaumigen Kopf, „Tschüss mein Schatz.“ Fort ist sie … In dem Moment steht schon Leo mit seiner Mama an der Hand in der Türe. Leos Mama ist erfolgreich und alleinerziehend. Sie sagt, sie empfindet Schmerzen dabei, ihr Kind abzugeben. Leo klammert sich an Ihrer Hand fest. „Lass mal kurz meine Hand los, Leo“, sagt seine Mama und zieht einen Umschlag mit einem 100-Euro-Schein aus der Tasche: „Als kleines Dankeschön …“. Ihre Augen sagen aber eher: „Bitte pass gut auf mein Kind auf.“ Ich darf das nicht annehmen und bin froh darüber. Ich gehe mit Kalle im Arm in die Hocke, breite den anderen Arm aus, damit Leo einen Landepunkt hat und begrüße ihn freundlich. Leo läuft bereitwillig zu mir rüber. Ich fühle mich schlecht, weil ich weiß, dass ich ihm diesen Hafen, den er so dringend über den Tag bräuchte, nicht werde bieten können.
Mittlerweile hat sich der Raum schon mit anderen Kindern gefüllt. Hinter einem Regal beginnt es zu weinen. Ein einjähriger kleiner Junger versucht engagiert auf einem krabbelnden Mädchen zu reiten … ich eile mit den zwei Kindern im Arm in die Bauecke. Warum nur habe ich keinen 3. Arm? Also renne ich kurz zur Kuschelecke, lege Kalle ab. Dieser fängt an zu weinen. Dann weiter zur Bauecke. Hier setzte ich auch Leo ab, um das kleine Mädchen von seinem wilden Reiter zu befreien und es tröstend in den Arm zu nehmen. Jetzt weint auch der eben um sein Pferd beraubte kleine Junge. Ich erkläre ihm auf Englisch, dass er lieber auf unserem Schaukelelch wippen soll. Wir sind eine multilinguale Kindertageseinrichtung und da es nicht genug Nativespeaker auf dem Markt gibt, werde ich, mit meinem recht passablen Schulenglisch als solcher eingesetzt. „Come on, let´s rather sit on the elk.“ Der kleine Junge spricht noch nicht einmal Deutsch – er schaut mich verwirrt aus seinen nassen Augen an, er versteht mich nicht. Ich nehme ihn an der Hand und gehe mit ihm zum Schaukelelch. Im anderen Arm das schluchzende Krabbelmädchen Merle. Leo bleibt alleine in der Bauecke sitzen. Eine andere Kollegin hat jetzt den weinenden Kalle im Arm. Er ist irritiert, schon wieder ein anderer Arm …
Beim Morgenkreis sitzt Noah auf dem Schoß meiner Kollegin Claudia, eines ihrer sog. Bezugskinder. Ein kleiner putziger 8 Monate alter Junge im blauen Matrosenoverall. Er wirkt entspannt und freut sich an den Liedern und klatscht in die Hände. Meine Kollegin liebt ihn sehr. Das „Schätzchen“ hat Glück, dass es so hübsch ist, denke ich im Stillen.
Die Luft im Raum ist dick, ein paar Kinder haben die Hosen voll, es ist Zeit alle einmal durchzuwickeln. 12 Kinder … Normalerweise sollte immer die Bezugserzieherin „ihre“ Kinder wickeln, aber Claudia ist gerade mit Emilio beschäftigt, ein kleiner zweijähriger Junge, der immer wieder von leisen Schluchzern geschüttelt wird. Also schnappe ich Noah, er hat die Hose voll, und eile in Richtung Wickelraum … zack, zack, zack, ich bin inzwischen beeindruckend schnell im Wickeln.
Mit Noah auf dem Arm jogge ich zurück zum Gruppenraum, werfe ihn ab und schnappe mir ohne große Ankündigung das nächste Kind. Ich weiß nicht, woher ich die Zeit für liebevolle, verbal begleitete Übergänge nehmen soll. Zack, zack, zack … schon ist der nächste Babypopo in einer frischen Windel. Beim Wickeln fällt mein eiliger Blick auf den Föhn neben einer der Wickelkommoden. Noahs Mutter hat uns gebeten, den Po von Noah trocken zu föhnen, da er sich schnell entzündet. Ich muss innerlich müde lachen. Als ob wir die Zeit hätten, den Po ihres Kindes zu föhnen.
Kinder müssen an die Luft!
Nächster Tagesordnungspunkt: rausgehen. Es ist Winter, 12 Kinder und sich selbst anziehen. Am Anfang sind wir immer alle gemeinsam in die Garderobe gegangen, um bei unseren jeweiligen Bezugskindern sein zu können. Das Ergebnis war ein ohrenbetäubender Lärmpegel auf engstem Raum, 12 Kinder, die sich nicht gerne in dem erforderlichen Tempo in Schneeanzüge, Schals, Mütze, Handschuh und Winterstiefel stecken lassen oder dann in voller Montur ewig dastehen und weinen, weil sie so schwitzen. Unser neues Vorgehen: Prinzip Fließbandarbeit.
Ich bin heute die „Anzieherin“; ich nehme ein kleines Mädchen namens Lisa auf den Arm und verlasse den Gruppenraum. Sie beginnt zu weinen, da sie sich nur in der Nähe ihrer Bezugserzieherin Claudia sicher fühlt. Die muss aber im Raum bei den anderen Kindern bleiben. Ich spreche tröstende Worte auf Englisch und versuche, das Menschchen, das gerade eigentlich etwas ganz anderes bräuchte, in seinen Schneeanzug zu befördern. Die kleinen weichen Füßchen in die Winterstiefel zu schieben, die unwilligen Ärmchen durch die Ärmel zu friemeln. Der Reisverschluss klemmt … mir läuft der Schweiß. Dann drücke ich sie der Kollegin vor der Türe in den Arm. Lisa kennt sie gar nicht, sie ist eine Erzieherin der anderen Gruppe, denn wir sind ja nur zu zweit, somit einer zu wenig für dieses Fließband-System.
Wieder eile ich in Richtung Gruppenraum.
Irgendwann sind alle angezogen. Wir laufen in einer putzig anmutenden Kinderkette die paar Meter zu unserem Garten. Wäre da nicht das leise Weinen von Lisa. Ich stimme ein Lied an, in der Hoffnung eine gute Stimmung zu erzeugen. „The weehls on the bus go round and round …“ Eine Mutter, die ihr Kind gerade bei uns eingewöhnt, sagt leise zu mir: „Stimmt’s, da weiß man manchmal auch nicht, ob man singt, um sich selbst oder die Kinder zu beruhigen.“ Ich nicke und wundere mich innerlich, wie sie den Spagat hinbekommt, das wahrzunehmen und ihr Kind dennoch hier abzugeben.
Twinkle Twinkle Little Star
Der Besuch im Garten ist vorbei, die Kinder haben mehr oder weniger gegessen und getrunken. Jetzt gehen alle Kinder mit „Twinkle Twinkle Little Star“ in Richtung Schlafraum.
Einige schlafen sofort völlig erschöpft ein. Der 9 Monate alte Ole tigert wie ein nervöses Raubtier auf allen Vieren in seinem Bettchen herum und muss plötzlich spucken.
Zwei Stehaufmännchen versuche ich zu beruhigen, während ich den leise weinenden Emilio auf dem Arm halte. Wenn ich versuche ihn abzulegen, klammert er sich an mich. Ich fühle, wie sein Körperchen vom Schluchzen geschüttelt wird. Sein kleines zartes Gesichtchen wirkt ganz aufgelöst, um den Mund hat er rot-weiße Flecken. Ich denke: wir dürfen das nicht machen. Wir müssten der Mutter sagen, wie es ihrem Kind wirklich geht. Aber sie macht unsere Öffentlichkeitsarbeit … deshalb hat sie einen Platz bekommen. Und wie reagieren meine Chefs, wenn ich zur Mutter sage: „Nehmen Sie ihr Kind hier raus, ihr Kind leidet!“
Ich bin froh, dass ich nicht die abendliche Übergabe des Kindes machen muss. Meine Schicht ist früher zu Ende. Mein schlechtes Gewissen bleibt.
Der Dokumentationsordner
Endlich schlafen fast alle Kinder … auch der kleine Emilio ist erschöpft auf meinem Arm eingeschlafen. Ich lege ihn ab. Mein Blick fliegt über den Schlafraum, es ist Ruhe eingekehrt. Nur Hugo und Livia können nicht einschlafen. Ich nehme sie wieder mit in den Gruppenraum. Eigentlich wäre jetzt Zeit, einmal Muße mit diesen zwei Kindern zu haben, in Ruhe mit ihnen zu spielen, ihnen ausreichend Körperkontakt zu gönnen, damit sie sich auch ohne Schlaf kurz erholen können.
Wäre da nicht der Dokumentationsordner!
Die Eltern wollen schließlich am Ende des Tages wissen, was ihr Kind gespielt hat, wie es „gefördert“ wurde, ob bzw. wie viel es gegessen oder ob die Windel voll war, wie lange es geschlafen hat. Hier stehen 12 Namen …
Bei all dem Trubel des Tages kann ich trotz größter Anstrengung unmöglich all diese Parameter für alle Kinder rekapitulieren. So muss ich eben „großzügig“ ausfüllen und meine Fantasie bemühen. Ich beeile mich, um fertig zu werden, bevor die Kinder wieder aufwachen. Da beginnt Hugo zu weinen. Mist, ich habe nicht gut genug aufgepasst. Das müde Kind ist von der Treppe der kleinen Kletterburg gepurzelt.
Ich lege den Ordner hin, laufe zu ihm und nehme ihn auf den Arm „Schschschhh“. Ich sehe, dass er eine kleine Beule hat und drücke ihm ein Kühlpad auf die Stirn. Er findet es überraschenderweise gut und hält es sogar alleine fest. Ich nutze die Gunst der Stunde, setze ihn kurz in der Kuschelecke ab und drücke den anderen Kindern, die währenddessen aus dem Schlafraum gekommen sind, ihre Trinkfläschchen in die Hand. Ich habe die Stimmen der Eltern im Ohr: „Bitte achten Sie darauf, dass mein Kind genug trinkt!“ Dann gehe ich zurück zu Hugo. Er hat die eine Ecke des Kühlpads aufgebissen und nuckelt die blaue Gelflüssigkeit aus dem Pad … “Oh mein Gott!“ Mit Hugo auf dem Arm renne ich zum Telefon, wähle die Nummer des Giftnotrufs.
Die Frau am anderen Ende beruhigt mich: „Völlig ungefährlich.“ Gott sei Dank! Das hätte mir nicht passieren dürfen. Hugo kreischt auf meinem Arm, er spürt meinen Schreck. Ich wiege ihn und sage: „Everything is fine, everything is fine, sch schh.“
Ein ruhiger Moment
Endlich kehrt ein bisschen Ruhe in das Geschehen ein. Ein Moment, in dem weder ein Kind die Hosen voll hat, keines weint, kein Kind an oder ausgezogen werden noch ins Bett gebracht oder gefüttert werden muss. Ich setze mich auf eines der 30 cm hohen Holzstühlchen. Sofort kommt Flora angelaufen, möchte auf meinen Schoß und mit mir die Puppe ausziehen. Sie hat recht. Ich habe heute noch keine Zeit für sie gehabt, obwohl sie erst seit Kurzem da ist. Sie braucht mich noch sehr. Während ich mit Flora die Puppe ausziehe und sage: „Ja, let’s take off her clothes … well done , good job!“, wandert mein Blick durch den Raum. In der Kuschelecke spielen Martin und Sophie mit Stofftieren.
Martin ist ein kleiner fester Junge mit einem blonden Irokesen auf dem Kopf. Seitlich hat er noch keine Haare. Er legt gerade den Stoffelefanten in ein Tragekörbchen. Martin scheint ganz gut mit dem Krippenalltag klar zu kommen. Er macht irgendwie sein Ding. Hat er Glück und gehört vielleicht auch aufgrund seiner genetischen Ausstattung (z. B. Dopamin-Rezeptor D4, Variante 4R) zur Sorte der Kinder, die deutlich weniger sensibel auf Fremdbetreuung reagieren? Oder täusche ich mich und er gehört womöglich genau zu jenen Kindern, die in den inneren Rückzug gehen und bei Untersuchungen i.d.R. sogar deutlich höhere Stresshormonlevel aufweisen, als ihre kleinen Kollegen, die laut protestieren und weinen. Ich weiß es nicht.
Jetzt nimmt Martin den Elefanten wieder aus dem Körbchen und drückt ihn an sich. Da kommt Sophie angeeilt und reißt Martin energisch den Elefanten aus dem Arm. Martin jault auf und haut Sophie, überwältigt von seiner Wut und dem Verlustschmerz! Sophie reagiert nicht, sie ist diesen Umgang gewöhnt. Gerne wäre ich hin gegangen und hätte den beiden ein Vorbild für Konfliktkultur gegeben. „Lernen am Vorbild, lernen am Modell – eines der stärksten Lerngesetze!“ klingelt mein Gedächtnis aus der Psychologievorlesung, aber dann hätte ich diesen einen Moment mit Flora und der Puppe nicht zu Ende bringen können. Also regeln Sophie und Martin ihren Konflikt eben mit der Strategie, zu der sie in ihrem Alter in der Lage sind: Mit dem Faustrecht. „Erziehung zur Selbstständigkeit“ schießt es mir durch den Kopf … ein von Politikern viel besungenes Ziel.
Ist das die Selbstständigkeit, die wir wollen? Ja, sie haben ihren Konflikt durchaus selbst gelöst. Aber wie? Martin und Sophie sind zwei meiner Bezugskinder. Sie sind schon lange da. Am Anfang haben sie viel Kontakt zu mir gesucht, doch mittlerweile beschäftigen sie sich mit sich selbst. Ist das positiv oder haben sie einfach nur gelernt, dass von mir, ihrer Bezugsperson, nicht viel zu erwarten ist, weil ich ständig wegrennen muss? Oder gar nicht erst da bin, weil ich gerade keine Schicht habe?
Inzwischen zieht Sophie mit dem Elefanten durch den Raum. Martin hat sich sein von Zuhause mitgebrachtes Kuschelkasperle genommen und kaut wieder mal an dessen Zipfelmütze. Beide sind wieder friedlich. Die Ruhe im Raum ist wieder da. Einer jener seltenen Momente. Es sieht niedlich aus, wie überall die kleinen Wesen sitzen oder umherwandern. Doch auch in so einem „friedlichen Moment“ … – das in der Geschichte der Menschheit so viel besungene „Kinderlachen“ kennen diese Räume nicht.
Eine Mutter, die zwecks der Eingewöhnung ihres Kindes unweit von mir sitzt, tippt mir auf die Schulter: „Paul steht immer so verlassen herum, er tut mir leid.“ Mein Blick wandert zu Paul und es stimmt. Paul ist mein neuestes, mein 5. Bezugskind. Er ist still, weint nie, steht immer irgendwo mit leerem Blick herum und nestelt an seinen Haaren oder Kleidern herum. Kinder in diesem Alter erkunden i. d. R. ihre Umgebung, wenn sie sich sicher fühlen. Das weiß ich kognitiv, aber ich erschrecke, weil ich nichts fühle. Ich sehe meine anderen Bezugskinder im Gruppenraum herumrennen. Manche von ihnen liebe ich regelrecht. Eine Liebe auf Distanz, weil sie kaum Zeit zum Ausdruck findet. Aber zu Paul fühle ich nichts. Ich spüre, dass ich dieses Kind nicht auch noch in mir aufnehmen kann. Wenn ich mich jetzt auch noch um dieses Kind kümmere, habe ich gar keine Zeit mehr für die, zu denen ich eine dünne Beziehung aufgebaut habe, die ständig unter Zeitmangel und Zeitdruck wieder zu zerreißen droht.
Ich weiß, dass die Mutter, die ihre Stimme für dieses fremde Kind erhoben hat, recht hat und fühle mich schlecht. Mit Flora im Arm gehe ich zu Paul hinüber und baue vor ihm einen Turm. Ich merke, wie ich mich zwingen muss, lebendig mit ihm zu interagieren. Meine Freundlichkeit ist aufgesetzt. Darunter liegt Erschöpfung. Ich erschrecke über mich selbst und reiche ihm einen Bauklotz: „Do you want to join in, Paul?“ Paul versteht kein Wort, aber meine Geste mit dem Bauklotz versteht er und streckt zögerlich sein kleines weißes Ärmchen in Richtung Bauklotz. Flora ist schneller und schnappt mir den Bauklotz aus der Hand, als wollte sie sagen: „Nein, du sollst mit mir spielen.“ Pauls kleine Hand bleibt verloren in der Luft stehen. Langsam gelingt es mir, beide Kinder ins Spiel zu verwickeln. „Here is a red one for Paul and here is a green one for Flora!“
Wäre das vielleicht ein Moment, den man unter der Überschrift „Förderung“ niederschreiben könnte? Allerdings bin ich schon im Zeitverzug. Als Frühförderungsmaßnahme ist heute „Wir spielen mit Korken und lernen, dass sie im Wasser schwimmen“ angesagt. Unser Chef und die Eltern wollen, dass wir jeden Tag ein Angebot für die Kindern machen, also lasse ich den eben zu Paul aufgenommenen Bezug wieder fallen, nutze die Gunst der Stunde, dass meine Kollegin gerade wieder den Raum betreten hat und hole die Korken aus der Materialkammer.
Der Tag neigt sich dem Ende zu
Dann sehe ich das Gesicht von Leos Mama hinter der Glasscheibe der Türe. Er wird abgeholt. Ich nehme ihn an der Hand und bringe ihn vor die Tür zu seiner Mutter. Leo laufen sofort dicke Tränen über die Wangen. Sein kleines Gesicht verzieht sich schmerzhaft. Seiner Mutter steigen ebenfalls die Tränen in die Augen: „Möchte er lieber hierbleiben, freut er sich nicht, dass ich ihn abhole?“ Ich frage die Mutter: „Wann und wo weinen Sie am ehesten? Vielleicht dann, wenn Sie ein vertrauter geliebter Mensch in den Arm nimmt, Sie sich sicher fühlen und das Herz loslässt? Für Leo ist ein Tag in der Kindergruppe anstrengend.“ In dem Moment kommt mein Chef um die Ecke und schaut mich kritisch an. Hat er gehört, was ich gesagt habe, oder hat er nur registriert, dass ich vergessen habe, Englisch zu sprechen? „See you tomorrow, Leo. Have a nice evening Mrs. Sölner!“
Mein Blick fällt auf die Uhr, bald ist es 17:00 Uhr und ich darf nach Hause. Als ich die Türe hinter mir zumachen will, kommt Hugo angekrabbelt und streckt seine Ärmchen nach mir aus. Hugos Schicht ist noch nicht zu Ende. Er kommt jeden Tag um 8:00 und wird um 18:00 abgeholt. Seine Eltern sind erfolgreich. Ich weiß nicht genau, was sie machen, aber sie sind immer im Anzug und in Eile. Ich nehme Hugo noch einmal kurz auf den Arm, streichle über seine Babywange und sage: „Bye bye“, setzte ihn auf dem Boden ab und sehe durch den Spalt der sich schließenden Türe noch, wie mich aus der Ferne die leeren Augen und das regungslose Gesichtchen von Paul anschauen.
„Bye bye“, rufe ich in betont fröhlichem Ton. Dann schließe ich die Türe und bin erleichtert, dass ich den Geräuschpegel der Gruppe nur noch gedämpft durch die Türe höre.
Ich bin erschöpft. Die Kombination aus geistiger Unterforderung und starker emotionaler wie körperlicher Überforderung ist lähmend.
Ja, ich bin gegangen und die Kinder sind geblieben.
Mittlerweile arbeite ich als Familientherapeutin in einer Beratungsstelle. Ich liebe diese Arbeit und der Rahmen ist stimmig.
Die Erinnerungen an meine damalige Erfahrung in der Krippe erscheinen mir manchmal wie ein schlechter Traum. War das eine spezielle Einzelerfahrung? Nur meine persönliche schräge Wahrnehmung oder Überforderung? War das nur eine einzige schlechte Krippe? Allerdings sind die Rahmenbedingungen heute wegen des zunehmenden Fachkräftemangels vielerorts eher schlechter als damals.
Die bundesweite NUBBEK-Studie von 2012, die in der Öffentlichkeit wenig Aufmerksamkeit gefunden hat, besagt, dass schon damals nur ca. 3,2 % also nur 3 von 100 Kinderkrippen in Deutschland unter die Kategorie „gut oder sehr gut“ fallen.
Also doch keine Einzelerfahrung?
In der DLKL Studie von 2019 liest man: „Über 90 % der befragten Kita-Leitungen geben an, in den letzten zwölf Monaten teilweise mit erheblicher Personalunterdeckung gearbeitet zu haben. (…) Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass Personalknappheit in fast jeder Kindertageseinrichtung zumindest zeitweise zu Situationen führt, in denen selbst die Minimalanforderungen an die Aufsichtsführung kaum erfüllt sind. Eine individuelle Förderung ist angesichts dieser Situation fast nicht denkbar.“
Der hohe Krankenstand und das häufige Aufgeben des Erzieherberufs in den ersten 5 Jahren sprechen für sich. Bisher gibt es keine verlässliche Perspektive für eine Lösung des massiven Fachkräfte-Mangels. Nach einer Studie (2017) des Deutschen Jugendinstituts (DJI) mit der TU Dortmund wird es bis 2025, selbst ohne Qualitätsverbesserungen, voraussichtlich eine Personallücke von mind. 310.000 Fachkräften geben. Unter Berücksichtigung des geplanten Mehrbedarfs für verbesserte Fachkraft-Kind-Relation ergibt sich sogar eine Personallücke von bis zu 600.000. Die Verfasser der Studie sprechen von einem „Personalnotstand“.
Es wird viel über die Notwendigkeit einer schnellen Verbesserung der Betreuungsqualität gesprochen. Angesichts des dargelegten Personalnotstands stellt sich die Frage, wie das gelingen soll. Schließlich ist die Fachkraft-Kind-Relation entscheidend für eine qualitative Verbesserung. Ehrlich betrachtet ist eine solche zeitnah nicht in Sicht. Und angesichts der Faktenlage wird dieser Zustand noch lange Zeit andauern. Das bedeutet, dass viele – zu viele Babys und Kleinkinder in ihrer sensibelsten Lebensphase grenzwertigen bis ihre Entwicklung beeinträchtigenden Bedingungen ausgesetzt sind.
Diese Ehrlichkeit schulden wir den Eltern – letztlich den Babys und Kleinkindern.
Mir geht es um die Kinder und die Tatsache, dass diese bei der Debatte um „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ zwischen wirtschaftlichen und emanzipatorischen Aspekten in der Regel zu wenig berücksichtigt werden. Was lange Zeit auf dem Rücken der Frauen ausgetragen wurde, droht meiner Wahrnehmung nach im Moment auf dem Rücken von Säuglingen und Kleinkindern zu landen. Kann das etwa das Ende der Debatte sein?
Hanna Lehmann*
* Anmerkung der Redaktion: Der Name der Autorin wurde geändert.
Links zum Thema
Plätze. Personal. Finanzen. Bedarfsorientierte Vorausberechnungen für die Kindertages- und Grundschulbetreuung bis 2030, Teil 1: Kinder vor dem Schuleintritt, Deutsches Jugendinstitut e.V., München, TU Dortmund.
Bildung, Erziehung & Betreuung in Krippen, Timm Albers, Ulrich Wehner, nifbe-Beiträge zur Professionalisierung Nr. 1, 2013.