Krippenstart – Tränen und Stress - Foto iStock © pjjonesDie Gefühle stehen Kopf, wenn Eltern ihr Baby zum ersten Mal in der Krippe abgeben. Anschaulich beschreibt die Mutter und Autorin Lizzi Griffith ihr persönliches Erleben in einem Blog-Artikel der Huffington Post. Doch was macht die frühe Trennung mit dem Kind?

Für unseren Blog haben die Kinder- und Jugend-Psychotherapeutin Prof. Dr. Eva Rass und die Erziehungsexpertin Dr. Erika Butzmann Auszüge des Erlebnisberichtes kommentiert.

HuffPost: „Im Geburtsvorbereitungskurs bereiten sie dich auf die schlaflosen Nächte vor, das ständige Füttern, der gestörte Schlafrhythmus, die wunden Nippel, die vollen Windeln und dass du wohl nie mehr alleine auf die Toilette gehen kannst. So würden die ersten Tage des Muttereins demnach aussehen. Dennoch bereiten sie dich nicht auf den härtesten Teil der Mutterschaft vor, den ich bisher erleben musste: Dein Kind das erste Mal zur Kinderbetreuung abzugeben.“

Erika Butzmann: Liebe Mutter von Henry, es ist wunderbar, dass Sie die Abgabe Ihres Babys in die Fremdbetreuung härter trifft als Ihre schlaflosen Nächte! Denn das bedeutet, dass Ihre mütterlichen Gefühle voll vorhanden sind. Viele anderen Mütter spüren solche Gefühle nicht mehr und geben ihre Kinder bedenkenlos ab in einer Phase der Entwicklung, wo die Anwesenheit der Mutter wichtiger ist als alles andere im Leben. Deshalb weinen die Kleinen so schrecklich, wenn sie in der Krippe bleiben müssen. Wie schade, dass Sie sich Ihre so guten Gefühle von den anderen haben weg reden lassen mit Argumenten, die nicht stimmen.

Keine Luft mehr zum Weinen

HuffPost: „Ein untröstliches, achtmonatiges Baby zurück zu lassen, das keine Luft mehr zum Weinen findet, ist viel härter. Wenn du als Mutter einen Schrei hörst, schalten sich deine mütterlichen Instinkte ein und du machst alles, um dein Kind zu beruhigen.Und dann, ganz plötzlich, musst du gehen, dein Baby in den Armen eines Menschen lassen, den du kaum kennst und der dein Kind nicht kennt.“

Eva Rass: Jede Mutter muss sich in dieser Situation klar machen, dass Babys wie Henry einen wiederkehrenden vertrauten Alltag als sichere Basis benötigen. Das kleine Kind braucht das Gefühl, sich auf beruhigende Unterstützung der Mutter verlassen zu können. In einer Situation, wo sich plötzlich Unvertrautes um es herum ereignet, steigt die innere Erregung und das Stresshormon Cortisol überflutet den Körper, was schädigend ist. Das kleine Kind versucht, diese unerträgliche Anspannung durch Weinen, Sich-Verbiegen oder wegtretenden Schlaf abzuführen. Für die Regulation dieser heftigen Erregung bräuchte es die Beruhigung von außen – durch die ihm bekannte Stimme, den Geruch und den ihm durch die neun Monate Schwangerschaft vertrauten Körper. Aus eigener Kraft schafft es die Verarbeitung dieses Stresses nicht.

Spaß in der Gruppe?

HuffPost: „Ich lief unter Tränen zur Kinderkrippe hin und wieder zurück zu meinem Auto. Ich hörte auch nicht auf zu weinen, als ich in meinem Haus saß – das sich auf einmal furchtbar leer anfühlte. Ich wählte eine Tageskrippe für Henry, meinen kleinen Jungen, weil er es sicher genießen würde, mit anderen Kindern zu kommunizieren. Ich stellte mir vor, wie er mit anderen Kindern kichert und Spielzeuge von den Älteren bekommt.“

Erika Butzmann: Ihr kleiner Henry konnte die anderen Kinder noch gar nicht genießen und mit ihnen kommunizieren, weil er nichts anderes wahrnahm als den Verlust seiner Mutter. Das haben Sie ja richtigerweise an seinen vielen Tränen in der ersten Zeit erkannt. Erst wenn er mindestens zwei Jahre alt ist, sind die anderen Kinder für ihn wichtig.

Die schlimmsten Tränen

HuffPost: „Aber in dieser Woche konnte ich nichts anderes als Tränen sehen – die schlimmsten Tränen, die sagen: „Mama, ich brauche dich und niemand anderen!”

Eva Rass: Liebe Mutter, leider kann diese fremde Person die Beruhigung von Henry weniger gut übernehmen als Sie selbst. Ihnen vertraut das Kind, zu Ihnen kommt es aktiv, wenn es Beruhigung braucht. Indem eine Mutter ihrem Kleinen hilft, seine Anspannung zu lösen, lernen Kinder wie Henry mit Stress umzugehen. Die neuronalen Strukturen zur Stressbewältigung entstehen durch die Hilfe der Eltern in den ersten 18 Monaten. Je mehr Stress und Reize während dieser Zeit auf die Kleinen wirken, umso mehr sind sie auf Hilfe von außen angewiesen. Gute oder negative Stressverarbeitungserfahrungen in den ersten Jahren sind prägend. Sie zeigen sich auch später im alltäglichen Umgang mit Stress.

Zweifelhafte Ratgeber

HuffPost: „Dank vieler Bestärkungen von anderen Müttern wusste ich, dass meine Vorstellungen von einem glücklichen Henry in der Kinderkrippe eintreten würden. Ich hatte in dieser Woche zusätzlich bemerkt, wie wundervoll das Internet und Social-Media-Plattformen für frische Mütter sind. Ich habe meine Ängste und meine Mama-Schuldgefühle geteilt und im Gegenzug so viel Zusicherung erhalten, dass das ein ganz normales Verhalten und normale Gefühle für beide, Mutter und Baby, seien.

Erika Butzmann: Ihre Social-Media-Plattform für Mütter hat Ihnen Ihre anfänglich so guten Gefühle genommen und etwas als normal bezeichnet, was zumindest für Henry nicht normal ist. Er fühlt sich nämlich total verlassen, wenn seine Mama nicht bei ihm ist und weiß absolut noch nichts davon, dass sie wiederkommt. Die lange Zeit ohne Mama führt dazu, dass er die Erinnerung an sie verliert und wenn sie dann nach einer Ewigkeit wieder auftaucht, erkennt er sie erst gar nicht gleich wieder; dann aber hat er panische Angst, sie wieder zu verlieren.

Der Stresspegel steigt

HuffPost: „Es fühlte sich gut an, etwas für mich zu machen. Und sobald Henry sich eingewöhnt haben wird, dachte ich, würde ich auch wieder eine Balance in meinem Alltag finden. Einerseits arbeiten und auf der anderen Seite weiterhin total vernarrt in meinen süßen Jungen sein. Denn sonst würde ich in dem Meer von Windeln, Abstillen und Füttern verloren gehen. … Mit diesen Gedanken war ich entschlossen, durch diese harte Phase zu kommen. Doch es verlief völlig anders. Henry kam nach Hause und war übermüdet. Ich war emotional ausgelaugt und hatte wenig Geduld.

Eva Rass: Die Ursache von Henrys Zustand ist klar: Normalerweise zeigen Kinder hohe Cortisolwerte am Morgen, die bis zum Mittag stark abfallen und bis zum Abend weiter sinken. Kinder in außerfamiliärer Gruppenbetreuung haben häufig erhöhte Cortisolwerte während der gesamten Betreuungszeit. Manchmal kehrt sich der normale Verlauf sogar um und die Kinder sind zum Abend hin immer angespannter. Eine hohe Stressbelastung zeigt sich sogar in qualitativ sehr guten Einrichtungen und Kleinstgruppen mit zwei Kindern. Am empfindlichsten auf die Betreuung reagieren Ein- bis Zweijährige. Nach sehr anstrengenden Erfahrungen sind die Anzeichen deutlich: Die gestressten Kinder weinen aus kleinen Gründen, brauchen viel Zuwendung und sind schnell überfordert. Was sie den ganzen Tag problemlos geschafft haben, ist abends herausfordernd und schwierig.

Weinen am Abend

HuffPost: „Wenn ich Henry das letztes Mal am Abend füttere, ist das eigentlich ein schöner Moment. Doch diesmal lief alles schief. Er weinte und ich auch. Danach rief ich meine gute Freundin Liz an und sagte zu ihr: ,Ich kann das nicht mehr!’”

Erika Butzmann: Weil er vorher so viel Angst hatte, musste er an diesem Abend immer weinen und konnte sich vor lauter Erschöpfung nicht auf das Abendessen einlassen. Auch wenn Henry sich nach einiger Zeit beruhigte, geht es ihm immer noch nicht gut. Solange sich in seinem Gehirn keine inneren Bilder seiner Mutter entwickelt haben, wird er immer wieder von Trennungs- und Verlassenheitsängsten geplagt werden, die sein noch nicht ausgebildetes Stress-System strapazieren. Diese inneren Vorstellungen entwickeln sich langsam in den ersten 18 bis 24 Monaten. Davor kommt es immer wieder zu stressreichen Ängsten, die sich nie ganz verflüchtigen. Wie jammerschade, dass Sie das alles nicht wussten.

Besserung in Sicht?

HuffPost: „Nach einiger Zeit in der Krippe schien es so, als hätten wir uns beide etwas beruhigt. Unsere Abend-Routine wurde Stück für Stück besser.“

Eva Rass: Achtung bei der vermeintlichen Gewöhnung an die Krippe: Kleine Kinder zeigen nicht unbedingt, wie es ihnen geht! Sie sind Anpassungskünstler und ihre innere Anspannung strahlt nicht unbedingt nach außen. Ein Kind, das scheinbar zufrieden und ruhig mit Spielzeug spielt, kann in dieser Situation durchaus hoch gestresst sein.

Nach der Eingewöhnung scheinen sich viele Kinder in der Fremdbetreuung zurechtzufinden und wirken glücklich. Ihre Eltern sind erleichtert. Doch nach einiger Zeit in der Betreuung zeigt sich oft, dass die Verarbeitung von Stress den Kindern viel abverlangt. Diese Anpassung darf nicht – wie schon erwähnt – mit Reifung verwechselt werden, verbraucht aber viel Entwicklungsenergie, die für „Eigentliches“ daher nicht zur Verfügung steht.

Das erste Krabbeln

HuffPost: „Die Zeichen, dass Henry die Krippe voranbringen wird, kann ich mittlerweile sehen. Er hat offensichtlich die anderen Babys dort beobachtet: Heute Abend ist er das erste Mal richtig gekrabbelt!Eine wunderbare Entwicklung. Und ich hoffe, dass es weiter so aufwärts gehen wird.“

Erika Butzmann: Liebe Mutter von Henry, das Krabbeln hätte der Kleine auch zu Hause gelernt, denn körperliche Fähigkeiten entwickeln sich am Anfang von ganz allein ohne das Vorbild anderer Kinder. Es ist schade, dass Sie sich Ihre so guten Muttergefühle von den anderen haben weg reden lassen. Handeln Sie künftig lieber nach Ihrem Bauchgefühl, das ist für Henry genau das Richtige.

von Dr. Erika Butzmann und Prof. Dr. Eva Rass

Quelle und Anmerkung der Redaktion: Der Text erschien ursprünglich in der HuffPost USA und wurde von Martina Zink aus dem Englischen übersetzt und angepasst. Unsere online-Redaktion bat die Erziehungsexpertin Dr. Erika Butzmann und die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Prof. Dr. Eva Rass darum, Abschnitte des Erlebnisberichts aus fachlicher Sicht zu kommentieren. Wir danken den Autorinnen für ihre Beiträge!