Sind wir ein Volk der krankgeschriebenen Kinder? Der Kinderarzt und Bestseller-Autor „Kindheit ist keine Krankheit“, Dr. Michael Hauch, meint: ja!
44 Prozent der Jungen und 31 Prozent der Mädchen haben in Deutschland bis zu ihrem 15. Lebensjahr mindestens eine Physio-, Ergo- oder Logotherapie hinter sich. In drei von vier Fällen war das jeweils völlig überflüssig – und hat den Kindern eher geschadet.
Jedes Kind ist, wie es ist, und sollte auch so sein dürfen
Hauch wehrt sich in Vorträgen quer durch Deutschland gegen den überbordenden Trend, Kinder in einer Art Prokrustes-Bett an eine Norm-Entwicklung anzupassen und alles, was dieser Norm nicht – oder noch nicht – entspricht, als therapiebedürftige Abweichung einzuordnen.
Jedes Kind ist anders und voller Überraschungen
Jedes Kind ist anders! Und jederzeit gut für eine Überraschung. Eigentlich ein Gemeinplatz, der aber immer mehr aus dem Blick gerät. Kinder werden zu Projekten, durchgeplant und ständig optimiert. Im Zeitalter der Machbarkeiten, in der die Lebenssituation von Eltern aber immer unsicherer und unvorhersehbarer wird, muss zumindest der Nachwuchs auf den geraden Weg zum Lebenserfolg gebracht werden. Abweichungen auf diesem Weg, Besonderheiten und Sonderbarkeiten, werden erschrocken registriert, vermessen und therapiert. Das fängt lange vor der Empfängnis an und begleitet das Kind in immer häufigeren Tests und Therapien durch die Schwangerschaft, das Babyalter, Kindergarten und Schule bis zur Einmündung in die vorgesehene Wunschkarriere.
ADHS: Krank oder nur außergewöhnlich
Was abweichendes, therapiebedürftiges Verhalten ist und was (noch lange) nicht, wird immer wieder an der Diagnose ADHS diskutiert. Diese Diagnose hat sich in den vergangenen Jahren explosionsartig vermehrt, ebenso wie die Therapien mit Medikamenten wie Ritalin. Weil sich hier die Symptome mit den durch übermäßige Stressbelastung ausgelösten Verhaltensweisen der Kinder überlappen, lässt sich auch für Fachleute kaum trennen, ob ADHS vorliegt oder nicht.
Das ist sicher einer der Gründe warum so viele Kinderärzte und Therapeuten bei diesem Trend mitmachen. Das Interesse der Pharmaindustrie an diesem Boom liegt ohnehin auf der Hand.
Aber warum sind ein besonders lebhaftes Temperament, überdurchschnittliche Hibbeligkeit oder längere Phasen von Bockigkeit, die früher eher achselzuckend registriert oder autoritär von den Erziehungspersonen unterdrückt wurden, plötzlich krankhaft und bedürfen einer medikamentösen Therapie? Woher die Angst vor der Überschreitung von Grenzen (der Normalität), die erstaunlicherweise immer enger und enger gezogen werden?
Kein Wunder, dass sich die Zahlen der diversen Therapeuten seit der Jahrhundertwende fast verdreifacht haben, dass die Aufwände für Dokumentation und Tests in Krippen, Kindergärten und Schulen immer mehr Zeit kosten, Zeit die dringend benötigt würde für Zuwendung und individuelle Entwicklung.
Das Problem der „Entwicklungsfenster“
Unbeabsichtigt haben die Fortschritte der neurobiologischen und Hirn-Forschung, die Entdeckung der ungeheuren Potentiale an Nervenzellen schon kurz nach der Geburt und deren schrittweise Verknüpfungen in bestimmten Lern- und Entwicklungs-„Fenstern“ das Missverständnis befördert, dass diese Phasen maximal – je mehr desto besser – genutzt und von außen unterstützt werden sollten. Jede Abweichung von den vordefinierten „Fenstern“ erscheint krankhaft und ein Grund zur Sorge.
So gerät schon das Baby und Kleinkind zur entwicklungspädagogischen Stopfgans und die frühkindliche Entwicklung zur permanenten Reparaturveranstaltung. Das natürliche Wechselspiel zwischen Geborgenheit und Aufbruch, zwischen Bindung und Forscherdrang wird ständig gestört und unterbrochen durch Fremdvorgaben von außen.
Aber gerade auch die moderne Hirnforschung belegt ja, dass diese Fremdeinwirkung das kindliche Lernen, die Verschaltungen und Signale im Hirn eher stört als befördert. Schon der Kindertherapeut Wolfgang Bergmann hatte in seinem letzten Buch die Eltern seufzend gebeten „Lasst Eure Kinder in Ruhe“. So könnte auch die Überschrift über den Ausführungen von Dr. Michael Hauch lauten. Aus seiner langjährigen Praxis berichtet er von verunsicherten Eltern, aufgeschreckt durch Testergebnisse und „Analysen“ in Kita und Schule, die um Schulerfolg, Abitur und Karriere ihrer Sprösslinge bangen und schon mit fertigen Therapievorschlägen in die Praxis kommen, um sich die Verordnung abzuholen.
Wider die Förderhysterie – Bindung zuerst
Dieser von Politik und gesellschaftlichem Mainstream befeuerten Hysterie hält Hauch die simplen Wahrheiten eines gesunden kindlichen Aufwachsens entgegen: Liebevolle Zuwendung einerseits und genügend Frei- und Spiel-Räume – im wahrsten Sinne des Wortes – für eigene Erfahrungen und Lernprozesse. Entscheidend sei von Anfang an die Entwicklung einer sicheren Bindung zwischen Kind und Betreuungsperson(en), zunächst vor allem die Mutter, dann Vater, Großeltern, das sprichwörtliche „ganze Dorf“.
Wenn dafür ausreichend Zeit, die Gelegenheit und die Personen vorhanden wären, könnten die Eltern ihre Erziehungsaufgabe mit sehr viel mehr Gelassenheit und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und in die Welt des Kindes wahrnehmen, so Hauch. Weniger Starren auf Bewertungen, Messungen und – oft zweifelhafte – Testergebnisse, weniger Angst vor eigenen Fehlern und stattdessen Horchen auf das eigene, unverfälschte, „authentische“ Bauchgefühl – schließlich sei die „Kindheit keine Krankheit“.
zur Person Dr. Michael Hauch
In einer Podiumsdiskussion nach dem Vortrag von Dr. Michael Hauch in Verden ergänzte die Pädagogin und Psychologin, Dr. Erika Butzmann die Ausführungen des Vortragsredners:
Der derzeitige gesellschaftspolitische Mainstream spiele eine gewichtige Rolle bei der von Dr. Hauch beschriebenen Problematik.
Die Umdeutung kindlicher Entwicklungsschritte als Rechtfertigungsversuch für Fremdbetreuung
„Mit Beginn des Krippenausbaus bei uns wurde in der Entwicklungspsychologie eine subtile Umdeutung der eigentlich gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse vorgenommen, wahrscheinlich mit dem Ziel, die umfassende Bildung der Kinder von Anfang an in staatlichen Institutionen zu legitimieren. An einem Beispiel will ich das verdeutlichen:
Was ist „normal“, was therapiebedürftig?
Von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzfgA) gibt es die Bildungsmodule der „Frühen Hilfen“, die von namhaften Experten formuliert wurden. Darin wird bei 6 bis 9 Monate alten Kindern u.a. „soziale Ängstlichkeit“ und „anklammerndes Verhalten“ als Entwicklungsstörung aufgeführt. Ein solches Verhalten ist für Babys zu dieser Zeit und oft bis weit ins zweite Lebensjahr hinein aber durchaus normal.
Einerseits liegt der genannte Zeitpunkt zu Beginn in der Fremdelphase (= soziale Ängstlichkeit) und andererseits empfinden die Kinder aufgrund des noch fehlenden Vorstellungsgedächtnisses (innere Bilder der Eltern) massive Trennungsängste (=anklammerndes Verhalten), wenn die Mutter verschwindet. Das gilt besonders für eher ängstliche und sensible Kinder und für die meisten anderen, wenn sie müde und erschöpft sind. Dass das Klammerverhalten bei Wiederkehr der Mutter bedeutsames Bindungsverhalten ist, kommt in diesen Texten nicht mehr vor. In diesen ansonsten sehr guten Texten gibt es immer wieder Beispiele, wo normales Verhalten als Störung aufgeführt wird.
Soll mit der Umbenennung von Bindungsstörungen der Krippen-Mainstream gestärkt werden?
Zu den Umdeutungen in der Psychologie gehört auch die Neudefinition von Bindungsstörungen. Jetzt werden nur die gehemmte und ungehemmt als klinisch relevante Störung bezeichnet; es handelt sich dabei jedoch um die Kinder, die gar keine Bindung entwickeln konnten. Die bis Anfang der Nullerjahre geltenden Definitionen von Bindungsstörungen werden jetzt als normale Bindungsstrategien bezeichnet, obwohl besonders die Kinder mit einer unsicher-ambivalenten Bindung verhaltensauffällig sind und je nach Ausprägung Kinder und Eltern darunter leiden. Damit wird vonseiten der Fachwissenschaften legitimiert, dass durch zu frühe und zu lange Fremdbetreuung besonders das unsicher-ambivalente Bindungsmuster entsteht.
Hinzu kommt, dass offensichtlich der „kompetente Säugling“, den Martin Dornes in den 90-er Jahren präsentierte, von vielen wörtlich genommen und deshalb immer wieder Babys total überschätzt werden in ihren frühen Fähigkeiten. Ihre emotionale Abhängigkeit von der primären Bezugsperson wird kaum mehr gesehen. Dies kann dazu führen, dass die Kinder von Anfang an immer wieder überfordert werden mit überhöhten Erwartungen durch die Eltern.
Mit kognitiven Bildungsprogrammen werden Kleinkinder überfordert
Des weiteren gibt es ein Überangebot an kognitiver Bildung in den Krippen durch den staatlich verordneten Förderwahn. Besonders in den ersten zwei Jahren sind die Kinder damit überfordert. Sie haben zu der Zeit einen starken biologischen Antrieb, um ihre Umwelt zu erkunden, wenn es ihnen gut geht. Das ungestörte Ausleben dieses Erkundungsdrangs ist die Grundlage für alle späteren kognitiven Fähigkeiten. Werden solche interessengeleiteten Aktivitäten des Kindes häufig gestört, erzeugt dies über die normale Stressbelastung des Krippenkindes hinausgehenden zusätzlichen Stress, was sich durch negatives Verhalten später äußert. Diese in den ersten zwei bis drei Jahren angesammelten Stresserfahrungen treten u.U. als Verhaltensauffälligkeiten um den 4. Geburtstag herum zu Tage, weil die Kinder dann eine neue Stufe des Selbsterkennens erreichen und ihre eigenen negativen Grundgefühle bewusster wahrnehmen und nach außen tragen. Dann sind die Ursachen aber nicht mehr herauszufinden, so dass auch keine Idee zur Abhilfe vorhanden ist. Also sind wiederum die Fachleute gefragt.“