Mit Hilfe von Kinderbüchern kann es Kindern gelingen, Worte für die Herausforderungen des Lebens zu finden, für die es bislang nur Gefühle gab. Im Interview führt uns Julia Scheider, Diplompsychologin mit dem Schwerpunkt Psychologie der Partnerschaft und der Familie und systemische Paar- und Familientherapeutin, zur inneren Bilderwelt der Kinder. Lorene Friedrich hinterfragt wie wir mit unserem Kind ins Gespräch kommen, um die Stolpersteine des Lebens wegzuräumen und um Platz und Gelegenheiten zu schaffen, um die kindlichen und elterlichen Ressourcen zu erweitern.
Lorene Friedrich: Welchen Platz nehmen Kinderbücher in deiner Familie ein?
Julia Scheider: Wir haben eine Bücherkiste, die mir als Mama sehr am Herzen liegt, weil hier Kinderbücher enthalten sind, deren Themen einen Platz in unserer Familie haben sollen, z.B. wie man als Familie mit Wut umgeht, mit Traurigkeit oder auch körperlichen Schmerzen. Hier können meine Kinder die Erfahrung sammeln, dass es auch anderen Menschen oder Tieren manchmal schlecht geht und was hier getan wurde, damit es wieder besser wird. Kinderbücher sind aber auch für uns Eltern eine tolle Brücke, weil wir dadurch Sicherheit erlangen, wie wir mit unseren Kindern ins Gespräch gehen können.
Lorene Friedrich: Wie wählen Eltern das richtige Buch aus?
Julia Scheider: Grundsätzlich kann jedes Buch, ob nun Kinderbuch oder Kinderfachbuch, genutzt werden, um die Bindung zu stärken. Die Begeisterung ist das viel Entscheidendere! Wenn Eltern ein gutes therapeutisches Kinderfachbuch haben und merken, dass es nicht ihre Seele berührt oder dass sie keine Freude beim Vorlesen haben, sind sie mit einem einfachen Kinderbuch besser beraten.
Lorene Friedrich: Gibt es Themen, für die Kinderbücher auch ungeeignet sein können?
Julia Scheider: Kinderbücher können ein Teil des Ganzen sein, ein Teil des Familienlebens, ein Teil der Art und Weise, wie eine Familie sich an bestimmte Themen heranwagt. Nicht mehr und nicht weniger. Ein schönes Kinderbuch kann nichts Ungünstiges bewirken denke ich, wenn mit Leichtigkeit und Offenheit ans Lesen herangegangen wird. Vielleicht aber kann eine bestimmte Herangehensweise ungünstig sein. Wenn beispielsweise Eltern bemerken, dass ihr Kind nicht gerne in den Kindergarten geht, dann besorgen sie vielleicht ein Kinderbuch, in dem ein Kind vor ähnlichen Herausforderungen steht und gezeigt wird, dass das Kind am Ende der Geschichte gerne in den Kindergarten geht. Haben Eltern nun die Erwartung, dass ihr Kind seinen Standpunkt verändert und setzen sich und ihr Kind damit unter Druck, wäre das ungünstig. Oder aber, wenn Eltern von ihren Kindern Dinge erwarten, die sie aufgrund des Entwicklungsalters noch nicht leisten können.
Lorene Friedrich: Du schreibst auf deiner Homepage „Illustrationen können dort ansetzen, wo wir keine Worte mehr finden“. Kannst du dazu etwas sagen?
Julia Scheider: Wir leben in einer sehr leistungsorientierten, eher kognitiven Gesellschaft, in der Gefühle im Alltag oft nicht viel Platz bekommen. Oft sind beide Eltern berufstätig. Da bleibt nicht viel Raum, um mit seinen Gefühlen sein zu dürfen. Mit den Illustrationen ist es eine ganz besondere Sache, weil Kinder sich in ihnen wiederfinden können, in einem mimischen Ausdruck oder einer Körperhaltung. Sie erleben hier etwas, dass sie selbst oft gar nicht in Worte fassen können. Durch Illustrationen können also Emotionen angestoßen werden. Ein Kind sieht zum Beispiel in einem Buch, dass es einem Tier ganz schlecht geht. Das alleine genügt oft schon, dass ganz viel aus dem Kind herausbricht. Bilder können aber auch Absurditäten und Witz transportieren. Das gemeinsame Lesen soll ja ganz viel Spaß machen. Und manche Illustrationen sind reich an vielen bunten Details, die zum Entdecken einladen und jüngere Kinder bei der Erweiterung ihres Wortschatzes unterstützen können.
Lorene Friedrich: Was können wir Eltern aus Kinderbüchern lernen?
Julia Scheider: Eltern sehen, genauso wie ihre Kinder: Wir sind nicht alleine, es geht anderen Menschen ähnlich. Eltern können sich dadurch inspirieren lassen. Sie finden Anregungen, wie sie mit ihrem Kind ins Gespräch kommen können oder wie sie ihm helfen können, eigene Anteile zu integrieren. In Fachteilen therapeutischer Kinderbücher finden sie außerdem Hintergrundwissen – meistens geht es ja darum zu verstehen, dass ihre Kinder ganz normal reagieren.
Lorene Friedrich: Was können Kinderbücher, was andere Medien nicht schaffen?
Julia Scheider: Ihr großer Vorteil im Gegensatz zu anderen Medien ist ihre Langsamkeit. Man hat wahnsinnig viel Ruhe und Zeit, um über Bilder und Themen zu sprechen. Das ist bei digitalen Medien nicht der Fall. Doch egal welches Medium auch genutzt wird, ist es wichtig, dass Eltern Spaß daran haben. Dann profitieren beide Seiten – das Kind und seine Eltern.
Vielen Dank für dieses Interview!
Über unsere Interviewpartnerin: Julia Schneider
ist Diplompsychologin mit dem Schwerpunkt Psychologie der Partnerschaft und der Familie und systemische Paar- und Familientherapeutin. Sie hat darüber hinaus noch viele weitere Qualifikationen, nachzulesen auf ihrer Praxis-Website www.halthafen.de
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