Krippenkritik - Foto ashumskiy © fotoliaKürzlich hat mich eine Bekannte, Ärztin wie ich, mit Verve zur Brust genommen. Ihre Kritik lautete in etwa so:

Gute Erfahrungen
mit selbst-organisierter Krippe

„Ich habe gerade einige Ihrer Einträge gegen Krippenbetreuung von Kleinkindern im Internet gefunden und bin sehr verärgert, dass Sie die Krippen pauschal verurteilen. Ihre Sichtweise ist einseitig und Ihre Ausdrucksweise ist apodiktisch. Vielleicht könnten Sie sich ja wenigstens etwas konzilianter ausdrücken.

Ich selbst habe als junge Ärztin und Mutter vor nunmehr 28 Jahren mit meinen Kindern in unserer privat im Freundeskreis organisierten Krippe nämlich sehr sehr gute Erfahrungen gemacht.

Damals nahmen Kindergärten bei uns ja überhaupt keine Kinder unter 4 Jahren an, so dass wir (drei langjährig und immer noch befreundete Ehepaare mit zusammen damals 7 Kindern) eine pädagogisch ausgebildete Fachkraft für 20 Stunden in der Woche angestellt haben und zusammen mit jeweils einem Elternteil, meist (aber nicht immer!) war das eine von uns drei Müttern, die Kinderschar betreuten. Die Kinder kannten uns alle natürlich gut und waren miteinander so etwas wie Geschwister. Es war eine großartige Erfahrung, Sie können dazu gerne auch meine Kinder befragen.

Aus finanziellen Gründen kamen unsere Kinder sukkzessive mit fast fünf Jahren für ein Jahr vor der Einschulung in den ortsansässigen normalen Kindergarten. Dort fanden sie es lang nicht so schön wie in unserer Krippe. Das ist doch ein Positivbeispiel, oder etwa nicht?!“

Natürlich kann Kleinkindbetreuung in (kleinen) Gruppen gelingen, aber …

Meine Antwort auf diese Kritik – wieder in der Zusammenfassung:

Danke für die kritischen Worte, die ich sehr bedenkenswert finde. An meiner Kritik an der heute praktizierten Krippenbetreuung halte ich dennoch fest. Hier meine Gründe:

Sie hielten mir entgegen, dass es „ja auch gute Erfahrungen mit Krippen“ gebe, und verwiesen auf ihre eigenen Kinder, die vor fast 30 Jahren ab Alter 13 Monate in einer Gruppe von 7 Kindern dreier eng befreundeter Ehepaare, betreut wurden von einer gemeinschaftlich bezahlten Erzieherin und jeweils einem der sechs Elternteile.  Was Sie mir dazu erzählten, klang in der Tat sehr positiv, aber in vieler Hinsicht unterscheidet sich Ihr Setting zu dem der Krippen und Kindergärten: Alle Ihre Kinder waren miteinander verbunden  aufgrund der engen Freundschaft zwischen den Erwachsenen „ab Geburt“, d.h. Ihr Setting entsprach dem (von der früheren Familienministerin Ursula von der Leyen gezielt missbräuchlich zitierten) „afrikanischen Dorf“, das für die Kindererziehung gebraucht werde.

Was Sie privat umsichtig organisiert hatten, war wirkliche Kinderförderung und „nicht“ zu vergleichen mit der heute üblichen Gruppentagesbetreuung in einer „Kita“.

Die Unterschiede zwischen den einzelnen Kindern und ihrer Belastbarkeit ist groß

Sie haben Recht mit dem Argument unterschiedlicher Persönlichkeit der Kinder. Die sind nicht alle gleich empfindlich gegen den krippenbetreuungstypischen „stundenlangen Vertrauensperson-Entzug“ und der dadurch verursachten stressbedingten Negativwirkung auf die stress- und emotionsverarbeitenden Hirnsysteme. Es gibt Kinder, die genetisch so gerüstet sind, dass sie deutlich mehr Stress schadlos wegstecken als andere. Aber nur wenige spezialisierte Experten können über die „ungefähre“ Selbstregulationskompetenz eines Babys Auskunft geben, Laien, selbst Eltern, können das nicht wissen.

Die „real existierende Durchschnitts-Kita“ ist so: Altersgemischte (0 – 5 Jahre) unterteilte Gesamtgruppe von 10 – 30 Kindern, Betreuungsschlüssel von 1 : 5 – 1 : 15, häufige Bezugspersonenwechsel durch Urlaube, Krankheiten, Schichtwechsel des Erziehungspersonals, eher knapp gehaltene und in aller Regel nicht am Kind orientierte Eingewöhnungszeiten.

Die „Durchschnitts-Krippe“ richtet Schäden an

Das alles IST definitiv schädlich. Und weil es wissenschaftlich belegt ist, sehe ich keine Veranlassung, mich hier, wie Sie forderten, „konzilianter“ auszudrücken. Nur für eine winzige 1 – 2%-Gruppe „hochresilienter“ Kinder ist Krippenbetreuung schadlos – eine veritable Katastrophe bedeutet sie für die 5 – 8% „(epi)genetisch besondersverletzlichen Kinder“ (…deren Anteil übrigens offenbar im Zunehmen begriffen ist – Hauptfaktor Krippenbetreuung!).

Vergleichbare Negativeffekte auf die Entwicklung der Selbstregulation von Kindern haben ja auch Vernachlässigung und Misshandlung, was bedeutet, dass auch nicht jedes Kind innerhalb seiner Familie gute Entwicklungsbedingungen hat, aber man sollte gerade Kinder aus „dysfunktionalen“ Familien nicht auch noch in einer Krippe einer zusätzlichen Belastung aussetzen, oder sind Sie anderer Meinung….?!

Aber natürlich endet nicht jedes Krippenkind als psychischer Krüppel

Wenn ich „Katastrophe“ sage, meine ich damit natürlich nicht, dass die durch Krippenbetreuung selbstregulationsgeminderten Kinder bis zum Alter von 15 Jahren alle in der geschlossenen Psychiatrie oder im Gefängnis landen. Im Gegenteil, „kognitiv“ entsteht zwar keine messbare Förderung, wie behauptet, aber auch kein Schaden.  Ex-Krippenkinder können bei überdurchschnittlicher Intelligenz sogar beruflich recht erfolgreich sein. Für katastrophal halte ich, dass Kinder „ohne Not“, auf der Basis ihrer jeweiligen genetischen Empfindlichkeit, freudloser, stress- und krankheitsanfälliger, und im Verhalten aggressiver, impulsiver, reizbarer, feindseliger gemacht werden. (Wenn Sie möchten, nenne ich Ihnen gerne ein oder zwei prominente und öffentlich sichtbare Beispiele).

Aus der Gruppe der Ex-Krippenkinder als künstlich selbstregulationsgeminderte Menschen wird sich ein nennenswerter Teil der

  • zukünftigen Kinder und Jugendlichen mit Verhaltens- und Lernstörungen, Substanzabhängigkeiten und riskantem Verhalten, sowie der
  • zukünftigen Erwachsenen mit Berufs-, Gewichts- und anderweitigen Stressfolgen-Gesundheitsproblemen, Beziehungsschwierigkeiten und Scheidungen,
  • zukünftige Eltern mit Bindungs- und Erziehungsproblemen, Depressionen und psychosozialen Zusammenbrüchen

rekrutieren.

Dass dies keine düstere Utopie ist, zeigt sich anhand jüngster Zeitungsmeldungen über Zunahme von Depressionen und Übergewicht bei Kindern.

Es gab vor einigen Jahren noch Daten, an denen man den „Schadensunterschied“ zwischen alten und neuen Bundesländern erkennen konnte (neue Bundesländer –> mehr ADHS und Ritalinverordnungen, mehr Kindstötungen etc. SPIEGEL-Artikel 2008)…. allerdings sind seitdem im Osten die Krippen im Ganzen viel besser als zu DDR-Zeiten geworden, und wir im Westen sind heute so eilfertig mit der Anpassung an den diesbezüglich vermeintlich fortschrittlichen Osten, dass sich die genannten Verhältnisse der Zahlen zu nivellieren begonnen haben.

Vor fast 15 Jahren bezog der Krimologe Prof. Pfeiffer Prügel in den Medien, weil er mutmaßte: „Rechtsextremismus und Fremdenfeindlickeit: Ist die DDR-Erziehung schuld?„.  Dabei lassen die großen Studienergebnisse zu den Auswirkungen von früher Gruppentagesbetreuung diese Theorie inzwischen als sehr begründet erscheinen.

Ich weiß, liebe Frau G., dass Sie den Ausdruck „Katastrophe“  für übertrieben halten. Ich persönlich aber sehe die hier nur andeutungsweise aufgezählten Tatsachen in der Tat als katastrophal an.  Als Ärztin wie Sie steht mir eher das individuelle Leid Betroffener sowie die medizinischen Implikationen vor Augen, man kann jedoch auch sehr gut mit den Finanzen, d.h. der  Folgekostenseite für die Gesellschaft, argumentieren. Das wird nur leider bisher völlig vermieden, teils aus Unkenntnis, teils aus Ignoranz.

Sie hatten ja auch meinen Mann in Potsdam kennen gelernt. Wenn Sie mal dafür Zeit finden, lesen Sie bitte seinen pädiatrisch-fachlich basierten FAZ-Essay: Die dunkle Seite der Kindheit.

Ich glaube und gönne Ihnen und Ihren Kindern die frühere positive Erfahrung mit „Ihrem“ Betreuungssetting. Aber daraus abzuleiten, dass Krippen deswegen akzeptabel oder gar zu befürworten wären, hieße „das Rauchen für gesund zu erklären, weil Helmut Schmidt noch lebt“.

Mit Dank noch einmal für Ihre anregende Kritik und einem freundlichen Gruß in den Süden,

von Dr. Dorothea Böhm

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