Stille Menschen sind eine starke und oft unbeachtete Kraft in unserer Gesellschaft. Sie haben keine Lobby, weil wir in erster Linie mit denen beschäftigt sind, die uns die Sicht auf sie versperren. Diese Geschichte soll großen und kleinen stillen Menschen eine Stimme geben und den anderen das Gefühl für sie; denn – wie Goethe treffend bemerkte: „Schweigen kann so laut sein, dass es nicht zu überhören ist.“ Sie werden sich wundern, wie viele „stille Kinder“ in Ihrem Hörbereich leben – und vielleicht gehören Sie ja selbst dazu.
Lautes Schweigen …
An diesem Morgen geht es ihm, dem namenlosen Kind, nicht ganz so wie immer. Es ist traurig und weiß nicht genau warum. Manchmal bäumt sich etwas in ihm auf wie eine riesige Walfischflosse im unendlichen Meer. Doch bevor es die richtigen Worte findet, verschwindet es auch schon wieder – ungesagt – in den Tiefen seines Inneren wie die Walfischflosse im Meer.
Es gibt Kakao zum Frühstück, einen Toast mit irgendwas. Die Mutter des Kindes lächelt liebevoll. Es ist ein kurzes Lächeln. Ein Lächeln, das man nicht auffangen, nicht erwidern kann – nicht an es anknüpfen. Es war so schnell und unvorbereitet wieder vorbei, wie es gekommen war. Das Kind lächelt auch, aber eigentlich wissen beide nicht mehr, warum. Zwischen der Kaffeemaschine, dem Butterbrot für die Schule und der noch aufzutragenden Wimperntusche tanzt die Mutter wie ein vom Sturmwind getragenes Herbstblatt hin und her – scheinbar ohne Ziel. Das Kind kann den schnellen Bewegungen der Mutter kaum folgen. Schließlich schaut es in die Kakaotasse und erkennt wundervolle Motive – wie in den weißen, langsam vorbeiziehenden Wolken am Himmel.
„Hast du deine Zähne geputzt, Liebes? Dein Gesicht? Ist es gewaschen? Du wirkst noch so müde. – Ich habe gleich einen wichtigen Termin. Kämmst du noch deine Haare?“
Das Kind schaut weiter versonnen in seinen Kakao. Die Worte der Mutter klingen wie ein Kilogramm Smarties, die in eine Blechdose fallen. Manche jedoch fallen neben die Dose auf das Setdeckchen aus Stoff. Es klingt als würden sie auf eine weiche, weiße Wolkenschicht fallen, aus der sich die Worte bilden: „Ich hab‘ dich lieb.“ Doch dann donnert eins dieser Smarties auf den harten Blechboden. Es scheint zu schreien: „Wir müssen los!“
Alles geht wie immer – problemlos, zeitgerecht und schnellliebevoll.
„Ich weiß“, hört das namenlose Kind seine Mutter sagen. „Ich weiß, dass du das alles verstehst. Ich habe immer gut gelernt und durfte studieren. Das Leben da draußen braucht mich. Am Wochenende kuscheln wir mal so richtig.“ – „Mama hat mich lieb“, denkt das namenlose Kind, zieht Schuhe und Jacke an, zerrt seinen Ranzen aus der Ecke und trottet hinter der Mutter her zum Auto.
Wie jeden Tag kommt das Kind eine Viertelstunde zu früh in die Schule. Es genießt die Zeit der Ruhe in der eisigen Kälte des Winters. Es spürt, dass es lebt. Die Lehrerin mag das Kind. Es ist aufmerksam, erledigt seine Arbeiten schnell und ordentlich und hat fast immer seine Hausaufgaben. Wenn es damit fertig ist, hilft es ihr oder den anderen Kindern in der Klasse. Es hat Zeit für Dinge wie: die Tafel wischen, den Boden kehren, die leere Milchkiste zum Hausmeister bringen und neue Kreide aus dem Lehrerzimmer holen. – Ab und zu widerspricht das Kind. Es sagt dann, dass ja auch noch andere Kinder für diese Arbeiten da wären. Doch die Lehrerin lobt es, lächelt hintergründig und weist auf die Unabkömmlichkeit eines solchen Kindes hin. Die anderen brauchen eben länger für ihre Aufgaben. Sie schaffen es nicht so leicht. Sie brauchen Zuspruch und Hilfe.
Manchmal sinnt das namenlose Kind auf dem Weg zum Hausmeister so vor sich hin. Es wüsste gern mehr, nein intensiver über die Dinge Bescheid. Über die Dinge dahinter eben. – Aber dazu ist keine Zeit, weder zu Hause noch hier; vielleicht am Nachmittag in der Betreuung. Aber jetzt? Es gibt Kinder, denen geholfen werden muss.
Nach der Schule geht das namenlose Kind in die Betreuung. Dort macht es pflichtbewusst seine Aufgaben. Doch auch hier geht niemand auf die vielen Fragen ein, die es hat: „Warum sehen Bienen anders? Wo wohnt Gott? Warum sind Walfischflossen so groß?“
Es gibt Mittagessen. Dann Spiele aus dem Regal. Und wenn die Sonne scheint, ist Kollektivtoben angesagt. Das ist schön. Manchmal darf es auch in der Küche helfen oder verlorene Spielsteine suchen, weil es so geschickt ist. Das muss gefördert werden, sagen dann alle. Das ist auch schön.
Einmal gingen sie ins Theater. Es war ein Stück über eine Prinzessin, die sich verlaufen hatte und nur unter Bewältigung vieler Aufgaben und Gefahren den Weg nach Hause fand. Mit Hilfe einer Knallerbse, einem sprechenden Regenwurm und dem Geist der guten Wege schaffte sie alle Hürden und fiel schließlich den Eltern erschöpft, aber glücklich in die Arme.
Das war auch schön. – Aber in Wirklichkeit gibt es keine sprechenden Regenwürmer, keine Wünsche erfüllenden Knallerbsen und auch keinen Geist der guten Wege.
Das namenlose Kind ist gestolpert und gefallen. Es weint. Leise und in sich hinein. Jemand kommt vorbei und hilft ihm auf. „Gut, dass nicht viel passiert ist“, sagt der Jemand und geht weiter. Das Kind weint immer noch – leise. Es begutachtet seine Knie und summt ein noch leiseres Heillied. Dann steht es auf, nimmt sich ein Buch und kuschelt sich in eine Ecke.
Plötzlich schreit ein anderes Kind laut auf. Es wurde von jemandem geboxt. Es schreit so laut, als hätte es einen schweren Unfall gehabt. Das Kind beobachtete wie sich drei Menschen um es kümmern, es trösten, es über den Kopf streicheln und ihm etwas zu trinken geben.
Ein größeres Kind läuft in die Küche und besorgt ein Kühlpack, ein anderes bringt einen nassen Waschlappen.
Das namenlose Kind liest weiter in seinem Buch. Vielleicht musste es ja nur lauter schreien? – Beim nächsten Mal.
Am Nachmittag kommt die völlig erschöpfte Mutter, um das Kind abzuholen. Es spürt, dass es ein anstrengender Tag war – für die Mutter.
„Hast du deine Hausaufgaben gemacht?“, fragt sie. Das Kind nickt und zeigt ihr sein Knie. Es hatte sich noch keine Kruste gebildet. Man konnte ganz genau sehen, wo es geblutet hat. – Sie war bestürzt, ganz kurz, und sagt: „Oh, du bist gefallen? Na ja, es ist ja schon wieder gut. – Komm, lass uns nach Hause fahren. Ich habe Hunger. Wir kochen uns etwas Leckeres, ja? Und dann gehst du früh ins Bett. Ich bin völlig fertig. – Aber eine Geschichte lese ich dir noch vor. Eine ganz kleine …“
Gerade will das Kind etwas sagen. Doch genau in diesem Moment versinkt dieses sich aufbäumende Gefühl wie die Walfischflosse im tiefen, dunklen Meer aus Nichts.
von Beate-M. Dapper