Das Essen sollte für Kinder in jedem Alter angenehm sein – eine Gelegenheit, Essen zu genießen. Kleinkinder lernen beim Essen neue Dinge, entwickeln psychomotorische Fähigkeiten und haben Freude daran gemeinsam zu essen. Aber warum dürfen sie nicht so essen, wie sie wollen und können?
Die Auswirkungen zeigen sich erst später. Mehr als 20 von 100 Kindern und Jugendlichen im Alter von elf bis 17 Jahren gelten als auffällig bezüglich ihres Essverhaltens. Etwa ein Fünftel zeigt Symptome einer Essstörung, so die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Mädchen sind häufiger betroffen als Jungen.
„Mein Kind isst nicht(s)” ist einer der Sätze, mit denen Kinderärzte fast täglich in ihrer Praxis konfrontiert werden. Besorgte Mütter berichten entsetzt, wie wenig ihre Kinder essen und schildern mit welchen Tricks sie versuchen, Nahrung in ihr Baby oder Kleinkind hineinzubringen. In vielen Familien wird die Mahlzeit mit der Einführung von Beikost zu einem täglichen Kampf.
Dr. Carlos González, Kinderarzt und Experte für Ernährung und Stillen, kennt diese Problematik. Er erklärt seit vielen Jahren, warum Kinder nicht essen und warum es ein Fehler ist, Babys zum Essen zu überreden. Hier eine Zusammenschrift seiner Erkennisse:
Warum isst ein Kind nicht?
es gibt nichts zu essen • das Kind hat keinen Hunger • das Kind ist krank
Der erste Grund ist in unserer Gesellschaft meist auszuschließen. Ein gesundes Kind isst in der Regel, wenn es hungrig ist, allerdings nicht immer das, was die Mutter möchte und schon gar nicht so viel, wie es nach ihren Vorstellungen essen müsste. Verwunderlich ist dabei, stellt González fest, dass die Kinder noch nicht verhungert sind, obwohl sie laut Aussage der Mütter “nichts” essen.
Gestillte Babys lehnen oft feste Nahrung über einen langen Zeitraum ab, nicht selten bis zum Alter von acht Monaten oder gar einem Jahr. Die Mutter verzweifelt und das Kind leidet, weil ständig versucht wird, es zum Essen zu überreden oder gar zu zwingen. Wie kommt es nun dazu, dass (anscheinend) immer mehr Kinder die Nahrungsaufnahme verweigern?
Die Empfehlungen zur Einführung von Beikost werden engmaschiger
González vergleicht, wie sich die Empfehlungen, wann das Baby feste Nahrung erhalten beziehungsweise wie lange es ausschließlich gestillt werden sollte, im Verlaufe der letzten 100 Jahre verändert haben. Dann hat er das “Phänomen” der nicht essenden Kinder sowie die Sorge der Mütter, dass ihre Kinder nicht essen, anhand der diesbezüglich in Kinderpflegebüchern auftretenden Ratschläge beleuchtet und einen erkenntnisreichen Zusammenhang gefunden:
„Anfang des 20. Jahrhunderts wurde in spanischen Büchern zur Säuglingspflege eine Zeit von zwölf Monaten mit ausschließlicher Muttermilchernährung empfohlen. Gleichzeitig findet sich nirgends ein Hinweis in diesen Büchern, wie mit einem Kind zu verfahren sei, das nicht essen will.
Je weiter das Jahrhundert fortschreitet, umso jünger sollen die Kinder laut den Empfehlungen der diesbezüglichen Bücher sein und umso mehr Ratschläge gibt es, was mit einem Kind zu tun sei, das nicht essen will. Wird noch zu Beginn der dreißiger Jahre nur ganz kurz auf dieses Thema eingegangen, so sind 30 Jahre später schon seitenweise Abhandlungen zu finden, was mit einem die Beikost (im Alter von drei bis sechs Monaten) verweigernden Kind zu tun sei und die Seitenzahlen zu diesem Thema werden von Jahr zu Jahr mehr.“
Wie viel Nahrung braucht ein Kind?
Der Nahrungsbedarf eines Kindes hängt von seiner Körpergröße, seiner Aktivität und vom Wachstum des Kindes ab. Allerdings ist es nicht so, dass das Kind wächst, wenn es isst, sondern umgekehrt sagt González: „das Kind isst, wenn es wächst“. Der Nahrungsbedarf des Kindes lässt sich daher nicht pauschal bestimmen.
Neugeborene
Fakt ist: Neugeborene brauchen eine ganz besondere hochkalorische Ernährung.
Sechs Monate alte Kinder
In der Mitte des ersten Lebensjahres können Säuglinge eine „schlechtere“ Ernährung vertragen, da Ihre Bedürfnisse nicht mehr so groß sind. Diese Lebensmittel ersetzen die Muttermilch nicht, sondern ergänzen sie.
Kinder zwischen einem und vier Jahre
Ein Kind im Alter zwischen einem und vier Jahren benötigt etwa 1000 bis 1100 kcal pro Tag (das entspricht etwa 102 kcal pro Tag und kg Körpergewicht). Doch wenn ein “nicht essendes Kind” täglich nebenbei: 1/2 l Milch (335 kcal), einen Becher Joghurt mit Früchten (141 kcal), einen Schokoriegel (275 kcal) und 150 ml Apfelsaft (85 kcal) zu sich nimmt, ergibt das zusammen bereits eine Kalorienaufnahme von 836 kcal. Wie soll das Kind dann noch zwei komplette weitere Mahlzeiten essen können, wenn es seinen Kalorienbedarf bereits zu gut 80 Prozent quasi “nebenbei” gedeckt hat?
Wie lange kann ein Baby ausschließlich mit Muttermilch ernährt werden?
Die WHO-Empfehlungen lauten ganz klar, dass ein Baby erst mit dem vollendeten sechsten Lebensmonat zusätzliche Beikost ergänzend zur Muttermilch benötigt. Nun gibt es aber bekanntermaßen viele gestillte Kinder, die zu diesem Zeitpunkt noch keine Beikost akzeptieren. González hat deshalb eine Aufstellung gemacht, wie viel Muttermilch (MM) ein Baby im Alter zwischen neun und zwölf Monaten benötigt, um den empfohlenen Bedarf an verschiedenen Nährstoffen zu decken:
Energie: 830 kcal = 1185 ml MM, Vitamin B: 0,4 µg = 412 ml MM, Eiweiß: 9,6 g = 910 ml MM,
Vitamin A: 350 µg = 700 ml MM, Vitamin C: 25 mg = 625 ml MM
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Reicht die Menge an Nährstoffen in der Muttermilch?
Diese Angaben zeigen, dass Muttermilch den Bedarf des Kindes an vielen Nährstoffen lange zu decken vermag und nicht unbedingt Eile geboten ist, das Kind zum Essen zu zwingen. Ohnehin sind die Empfehlungen dazu, wie viel ein Baby benötigt meist zu hoch. Die Empfehlungen beruhen beispielsweise darauf, dass untersucht wird, welche Mengen gesunde, reif geborene Babys im Durchschnitt essen. Daraus werden Richtwerte berechnet, die sich immer an den Höchstmengen orientieren und zusätzlich noch Sicherheitszuschläge enthalten.
Babys benötigen auch weniger Eisen, als meist angegeben wird. Dabei lässt sich beobachten, dass die meisten Kinder instinktiv das essen, was bei einem Mehrbedarf an Eisen sinnvoll ist.
Muttermilch – eine vertraute Geschmacksnote
Babys sind Skeptiker, wenn sie neue Lebensmittel essen sollen. Dieses Misstrauen ist ein Schutzmechanismus, der das Kind davor bewahren soll, etwas zu essen, was ihm nicht bekommt. Bevorzugt isst ein Baby das, was auch seine Mutter isst, denn dieser Geschmack ist ihm durch die Muttermilch vertraut. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass ein Baby gekochte Karotten ablehnt, wenn die Mutter nie gekochte Karotten isst.
Muttermilch liefert mehr Kalorien als Gemüse
Die meisten Babys mögen kein Gemüse, aber sie essen gerne Bananen, Nudeln und Süßigkeiten. Ein Vergleich der Kaloriendichte ergibt, dass Babys Nahrungsmittel mit einer größeren Kaloriendichte bevorzugen und Muttermilch liefert mehr Kalorien als Gemüse und die meisten Nahrungsmittel, aus denen Mahlzeiten für Babys hergestellt werden. Um die gleiche Menge an Kalorien, wie sie in 100 ml Muttermilch enthalten sind, durch den Verzehr von Karotten aufzunehmen, müsste das Kind fast 400 g gekochte Karotten essen!
Daraus lässt sich ein Zusammenhang zwischen Unterernährung und Nicht-Stillen erklären. González:
„da der Magen des Babys klein ist, benötigt es hochkalorische Kost. Gemüse kann nicht in so großen Mengen gegessen werden, wie es notwendig wäre, um das Kind mit genügend Kalorien zu versorgen“.
Was lernen Kinder beim Essen?
González schreibt in seinem Buch „Mein Kind will nicht essen“, dass die Lebensmittel nicht püriert werden müssen und auch keine besondere Nahrung erforderlich ist. Fast immer kann das Baby grundsätzlich das gleiche Essen essen wie das der Erwachsenen. (Nähere Angaben im Buch ab Seite 134)
Wenn ein Baby die Nudel, eine Erbse oder ein Stückchen Huhn selbst in den Mund stecken darf, lernt es:
- mit der Hand zu greifen, zu halten, in den Mund zu stecken
- zu kauen, zu schlucken
- die Aromen und die Zusammensetzungen der verschiedenen Lebensmittel zu unterscheiden
- zu entscheiden, was es am liebsten mag und was es am wenigsten mag
- wann es Hunger hat und wann es genug gegessen hat
Wie viel weniger Lernmöglichkeiten hat es, wenn das Baby gefüttert wird, wir es etwa mit einem „fliegenden“ Löffel ablenken? Bekommt es Brei gefüttert, kann es die Geschmacksrichtungen nicht unterscheiden, weil alles gemischt ist. Es kaut nicht, es schluckt nicht mehr als Flüssigkeiten, es kann nicht entscheiden, ob es hungrig oder satt ist.
Erziehung im Wandel der Zeit
Regeln ändern sich! Vor Jahrzehnten hieß es noch: „Man spielt nicht am Tisch“. War dem doch so, bekam das Kind kein Essen mehr. Heutige Eltern scheinen das Spielen am Tisch sogar zu fördern. Sie lenken das Kind mit Spielzeug, mit Fernsehen oder anderen digitalen Medien ab.
Ein Baby, das isst, sollte sich auf das konzentrieren, was es tut. Es ist nicht klug, ihn abzulenken oder ihn zum Lachen zu bringen, um seinen Mund zu öffnen, geschweige denn, ihm Essen in den Mund zu geben, während es läuft oder weint.
Beim Essen in Beziehung sein
Essen ist für den Menschen ein zutiefst sozialer Akt. Wir treffen uns zum Essen mit Freunden, gehen auf Partys und feiern im Kreis der Familie. Babys sind gesellige Wesen und lieben es, dabei zu sein, während wir essen. Das gleichzeitige Essen hat neben der Förderung der Sozialisation einen wichtigen Vorteil: Eltern, die mit dem eigenen Essen beschäftigt sind, können dem Kind nicht ihre volle Aufmerksamkeit schenken.
Laut González weiß das Kind ganz genau, was und wann es essen muss. Deshalb lautet sein Fazit:
„Zwingen Sie ein Kind niemals zum Essen. NIEMALS!“
von Gitta Hülsmeier
Quellen:
Vortrag, Carlos González, Herbststein
Buch: Mein Kind will nicht essen, Carlos González, La Leche Liga
serPadres, Spanische Zeitung, Carlos González