Mutterliebe auf Französisch - Foto sandsun © iStockEine gründliche Analyse eines längst überholten Vorurteils über Frankreich als Musterland der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, fasst Karin Finkenzeller in der Wirtschaftswoche zusammen mit dem Titel:

Frankreichs Mütter begehren auf

„Das Bild Frankreichs als Musterland für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bekommt Risse. Die Mütter wollen endlich mehr Zeit für ihre Kinder. Doch die will man ihnen nicht geben.“

Lesen Sie dazu auch diesen Artikel über französische Mütter von einer französischen Autorin, die in Berlin lebt.

Mutterliebe auf Französisch

Sie stillen schnell ab, wenn sie überhaupt damit anfangen. Sie sind drei Monate nach der Geburt wieder im Job. Und wenn es sein muss, bekommt Bébé ein Schlafmittel.

Seit Jahren wird sie hierzulande in allen Varianten serviert: Die französische Mutter, die alles mit links wuppt. Spätestens am Ende ihrer zehn Mutterschutzwochen ist sie wieder im Beruf – Vollzeit, versteht sich, nicht etwa Teilzeit. Und das ist nicht alles! Mit 2,1 Kinder durchschnittlich pro Frau macht sie die gallischen Renten sicher. Darüber hinaus ist sie in der Lage, ein Drei-Gänge-Menü mit guter Laune und schlanker Taille zu zaubern. Egal ob 1, 2, 3 oder 4 Kinder – sie läuft weiter auf Stöckelschuhen, denn sie möchte die Femme fatale für gewisse Stunden bleiben.

So viel zum Mythos und zum Glanz der französischen Mutter.

„Aber wie schafft sie das alles überhaupt?“, fragt mich Martina vor unserem Berliner Kindergarten, der Kinder frühestens mit 1,5 Jahren annimmt. Ja, richtig, wie fühlt sich das an, mein Baby mit kaum drei Monaten von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends in der Krippe abzugeben? Denn das tun die meisten Französinnen, das ist in dem Fall kein Märchen!

In die Krippe mit 3 Monaten

Weinend ruft mich meine Freundin Isabelle aus Paris an. Jede Nacht hat sie furchtbare Alpträume. Marie, drei Monate alt, habe gerade mit der Krippe angefangen. Es sei so schön gewesen, überhaupt noch einen Platz zu bekommen, mit all den gut ausgebildeten Betreuern. Und nicht nach einer nou-nou, einer Tagesmutter, zu suchen, die eine Konkurrentin im Herzen ihrer Tochter hätte werden können. Aber jetzt diese Quälerei. Isabelle gehört zu den wenigen Müttern, die den Ehrgeiz haben, trotz Beruf weiter zu stillen. Sechs Monate ist gut, das hat die französische Politik erst vor wenigen Jahren entdeckt. Am ersten Tag brachte also Isabelle die frisch abgepumpte Milch in die Krippe. „Wir haben keine Lagermöglichkeit“, sagte die Leiterin, die ihr empfohlen hatte, vor dem Krippenanfang abzustillen. „Außerdem ist es zu wenig Milch, Ihr Kind wird hungern.“ Von Berlin aus empörte ich mich: „Hör mit der Krippe auf. Marie ist zu klein, um den ganzen Tag von dir getrennt zu sein!“ Aber der äußere Druck war stärker: „Alle machen es hier so. Es ist normal. Warum sollten wir es nicht schaffen? Außerdem brauchen wir das Geld. Wovon sollen wir leben?“ Wochenlang weigerte sich ihre Tochter, in der Krippe aus der Flasche zu trinken. Lieber wartete sie auf die vertraute Mutterbrust. Das Kind nahm ab. Nachts schlief Isabelle kaum, weil Marie stündlich Nahrung nachholen wollte. Ihr Chef fing an, über ihre mangelnde Leistung zu schimpfen. Außerdem hatte er gehört, dass Isabelle auf der Toilette ihre Milch abpumpe. Das fand er unappetitlich. Das Stillen nahm ein jähes Ende. Das Baby passte sich an, die Mutter auch.

Abschaffung des Mutterinstinktes

Der eigentliche Trick der Französin ist nicht die ganztägige Krippe. Sondern die Abschaffung ihres mütterlichen Instinktes. Das hat Tradition: Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die Kinder reicher, gebildeter Frauen gleich nach der Geburt zu einer Amme aufs Land gebracht. „Ich bin doch keine Milchkuh!“, sagt noch heute die feine Französin. Außerdem schade es der Form der Brust. Wenn es ums Stillen geht, gehört Frankreich zu den europäischen Schlusslichtern. Die Priorität ist, dass maman schnell wieder Geld verdient. Als Ersatz für den Körper-, Haut- und Stimmkontakt zwischen Mutter und Kind gibt es eine Armada von Fläschchen, doudous, wie Schmusetiere und Schnuffeltücher heißen, Dudelmusik und Baby-Parfum. Dass Kinder im Elternbett schlafen, ist verpönt. Tragetücher gibt es kaum. Üblich ist ein sportlicher Kinderwagen. Bébé soll schnell sitzen lernen.

PDA, Antibiotika und Beruhigungsmittel

Ich erinnere mich noch gut, wie ich mit meiner französischen Cousine nach der Geburt ihres ersten Kindes in einem Pariser Krankenhaus telefonierte. Mit erschöpfter Stimme sagte sie, es habe alles gut geklappt, ja, natürlich mit PDA, also der üblichen Betäubungsspritze gegen den Geburtsschmerz. Aber jetzt sei ihr furchtbar übel! Das lag an den Medikamenten, die sie nahm, um zu vermeiden, dass die Milch einschoss, denn zum Stillen hatte sie keine Zeit. Drei Monate später war sie zurück im Beruf und kämpfte gegen eine Chefin, von der sie gemobbt wurde. Heute hat sie drei Kinder und ist eines krank, kann sie es trotzdem in die Krippe bringen. Denn wenn es sein muss, nimmt ihre crèche die Kleinen auch mit 39 Grad Fieber. Ein Einzelfall? Nein! Französische Kinder müssen sich der Welt der Erwachsenen früh anpassen. Frankreich ist im europäischen Vergleich Spitzenreiter, wenn es darum geht, Antibiotika zu verschreiben. Maman muss ja zur Arbeit – und das Kind schnell wieder gesund werden. Für Schwäche und Krankheit haben französische Mütter keine Zeit.

Drill zur Unabhängigkeit

Die Rabenmutter ist in Frankreich kein Begriff – dafür die Glucke. Als mère poule gilt eine, die ihre Kinder behüten will und sie dabei erdrückt. Sie bringt sie nicht in die Krippe, um sie abhängig von sich machen. Das Schreckensbild der zerstörenden „Großen Mutter“ geht um. Sie lässt ihre Kinder gar nicht ins Leben hinein, sie verschlingt sie.

Von der Bindungstheorie keine Spur. Dass ein Mensch eine sichere Bindung in seinen zarten Lebensjahren braucht, um später wirklich unabhängig und stark zu sein – davon habe ich in meiner ersten Heimat nie gehört.

Eine typische Szene in Frankreich: Meine Freundin Sandrine bewegt sich gelassen in ihrer Pariser Wohnung, während ihre zwei Monate alte Tochter auf der Couch im Wohnzimmer weint. „Dieses kleine Teufelchen versucht ständig, mich um den Finger zu wickeln, damit ich mich um sie kümmere. Sie soll lernen, dass es so nicht geht“, kommentiert sie. Drill zur Unabhängigkeit. Kleinkinder sollen keine Küken sein, deshalb lassen Mütter sie früh los. So früh, dass Mutterliebe brutal erstickt.

Schlaf- und Beruhigungsmittel im Fläschchen

Oder im Haus meiner Eltern. Dort ist es unmöglich zu hören, ob jemand im zweiten Stock weint. Heute noch legen Gäste oft ihre Babys dort allein in ein Gitterbett zum Schlafen. Ohne Babyfon. Das Kind muss lernen, allein klarzukommen. Die Eltern möchten ihren Apéritif in Ruhe trinken.

Vielleicht haben sie auch dem Baby einen „kleinen Saft zum Einschlafen“ gegeben? In ihrem Buch „Tränen nach der Geburt“ berichtet die französische Autorin Elisabeth Geisel, dass 16 Prozent der Babys in der Pariser Region vor dem neunten Lebensmonat regelmäßig Schlaf- und Beruhigungs- mittel bekommen. Der Flasche lässt sich ziemlich viel beimischen. Und wenn maman zu nervös ist, nimmt sie auch eine Tablette. Denn morgen hat sie eine wichtige Konferenz.

Raus mit dem Kind, zurück in den Job

Das Geheimnis der französischen Mutter? Sie delegiert Mütterlichkeit und Erziehung. Nicht nur an die Krippe ab drei Monaten und an die Schule ab drei Jahren, sondern auch an die Medizin. Sogar vor der Geburt passen in erster Linie Geräte und Ärzte auf ihr Baby auf. Sie steht im Hintergrund und macht eine Diät – die neuen, durch den runden Bauch entstandenen Kilos sind lästig. Bei der Geburt will sie eine Betäubung. Bei gut 66 Prozent aller Geburten erhalten Frauen eine PDA, Tendenz steigend, in manchen Kliniken sind es heute schon 90 Prozent. So leicht wie ein Zahn soll das Kind herausgeholt werden – und die Mutter soll schnell wieder fit für den Job sein. Eine Utopie! Wer auf die Narkose verzichtet, gilt als masochistisch. Natürliche Geburten und Geburtshäuser gibt es kaum. In Frankreich stößt die Idee auf Unverständnis, dass eine natürliche Geburt für Mutter und Kind Vorteile haben kann: weniger Dammrisse und -schnitte, weniger Zangengeburten, eine bessere Mutter-Kind-Bindung, weil das Hormon Oxytocin bei der natürlichen Geburt ausgeschüttet wird. Die Französin gebärt nicht, sie wird technisch entbunden.

Babyaugen leuchten in Deutschland anders

„Haben dann französische Kinder alle einen Knall?“, fragt mich Martina. Ich bin mir zumindest sicher, Babyaugen leuchten in Deutschland anders. Zu Besuch in Frankreich brabbelte ich mit Säuglingen und wollte bei ihnen denselben Sonnenstrahl herauslocken. Ich fand fast immer Trauer in ihren Gesichtszügen.

Vielleicht ist es ja kein Zufall, dass die Franzosen laut US-Forschungsinstitut NCPA zur Weltspitze beim Verbrauch von Psychopharmaka und Antidepressiva gehören.

Weiblichkeit, Mütterlichkeit, Gemütlichkeit – dafür gibt es keine passende Übersetzung in der Sprache von Coco Chanel. Warum? Ich wage eine provokante These: Könnte es sein, dass gerade wegen der verdrängten Mütterlichkeit die Erotik und vielleicht auch die ausgeprägte Wein- und Esskultur in Frankreich einen so großen Raum einnehmen? Und könnte es sein, dass damit vielleicht die mangelnde emotionale Bindung in der frühen Kindheit ausgeglichen wird? Nach dem Motto: Wenn wir schon als Babys nicht an der Mutterbrust saugen durften, dann gönnen wir uns wenigstens als Erwachsene leckeres Essen und edlen Bordeaux.

Arbeitswelt- statt frauengerecht

Die ultimative Trumpfkarte der französischen Mutter ist die hohe Zahl ihrer Kinder. So furchtbar könne es also nicht sein. Aber seit wann ist eine hohe Geburtenrate ein Hinweis darauf, dass es Müttern und Kindern gut geht? Mich wundert es, wie schnell manche Feministinnen sich den Interessen der Rentenabsicherung anpassen. Ich vermute eher, französische Mütter kriegen deswegen so viele Kinder, weil ihre Sehnsucht nach Mütterlichkeit nicht erfüllt wird. Sie rennen ihr immer hinterher, indem sie weitere Kinder bekommen. Zudem gibt es einige finanzielle Vorteile dort erst ab dem dritten Kind. Nach dem ersten sieht es düster aus. Das schafft einen enormen Druck, schnell in den Job zurückzukehren. Das deutsche Elterngeld ist im Vergleich paradiesisch.

Das französische System als frauengerechtes Ideal? Wohl eher arbeitsweltgerecht – und dafür werden Kleinkinder, deren Bedürfnisse stören, „aufbewahrt“ (was die wörtliche Übersetzung von „garder“ ist). Die Frauen erleichtern Männern nicht nur das Familienleben, sondern auch noch das Geldverdienen – ist das wirklich feministisch? Denn auch in Frankreich beteiligen sich Männer an Haushalt und Erziehung nach gusto. Auch dort verdienen sie wesentlich mehr Geld. Viele zahlen nach einer Scheidung keinen Unterhalt, der Staat nimmt sie nicht in die Pflicht. Warum soll Frankreich ein Frauen-Eldorado sein, wenn für die beim besten Willen nicht auch noch zu delegierenden Familienaufgaben nur eine Stunde am Abend bleibt? Wann hat die Mutter mal frei?

Als Baby möchte ich nicht in Frankreich wiedergeboren werden, verzeihe es mir, maman. Natürlich gibt es auch sehr mütterliche Frauen in Frankreich, aber sie sind die Minderheit. Allerdings lehnen sich immer mehr auf gegen das Diktat der schnellen und vollen Rückkehr in den Beruf. Sie schauen mit Sehnsucht nach Deutschland: das Land, in dem Frauen Zeit zum Muttersein haben. Wie schön, dass ich hier lebe.

von Geneviève Hesse

Geneviéve Hesse

Unsere Gastautorin: Geneviève Hesse

*1968, schreibt als deutsch-französische Journalistin u.a. für Le Nouvel Observateur, La Vie, Der Spiegel, Psychologie Heute, Emotion und Die Gazette, www.g-hesse.de

Links zum Thema

„Frankreichs Mütter begehren auf“, WirtschaftsWoche