Ohne Kinder wird man nicht erwachsen - Foto IStock © simonmastersEinmal eine ganz andere, ebenso verblüffende wie amüsante Sicht auf das Thema „Elternschaft“ verschafft dem Leser dieser Beitrag des Lehrers, Umweltschützers und Familien-Weltreisenden, Wilfried Richert.

Das Baby ist da

Pflegekinder, Stiefkinder oder leibliche Kinder – sie sorgen dafür, dass wir mit uns selbst konfrontiert werden, dass wir uns nicht darum herum drücken können, uns mit unseren Schattenseiten auseinanderzusetzen.

Die erste große Prüfung beschert uns unser Baby. Haben wir uns bis dahin unser Leben nach unseren Vorlieben eingerichtet, so fordert es jetzt von uns Hingabe – nicht nur ein wenig, sondern voll und ganz. Das haben wir bis dahin nicht trainiert. Es will gestillt werden, wenn es Hunger hat. Es will gewickelt werden, wenn die Windel voll ist. Es will in den Schlaf gewiegt und gesungen werden, wenn es müde ist. Es will eingelullt werden, wenn es mitten in der Nacht aufschreckt. Und wir haben zu tun, was es will, und wann es etwas will.

Wir müssen uns rückhaltlos auf einen anderen Menschen einstellen. Das ist für die meisten von uns etwas völlig Neues. Natürlich können wir versuchen, einen Stillrhythmus einzuführen, es ins Bett legen, wenn wir das wollen. Je strenger wir aber unseren Zeitplan unserem Baby aufzwingen wollen, umso mehr Schwierigkeiten bekommen wir. Wir müssen lernen abzuwarten, wann die Zeit gekommen ist, um einen Rhythmus in unseren gemeinsamen Tagesablauf zu bringen. Wir lernen, mit unserem Frust, unserer Ent-Täuschung, mit Schlafmangel und Überforderungsgefühlen umzugehen.

Wenn wir (noch) kein Kind haben, können wir uns nicht vorstellen, was dieser neue Lebensabschnitt fordert. Und diejenigen, die bereits ein Kind haben, hüten sich wohlüberlegt, uns von den Abgründen zu berichten, in die sie gestürzt sind. Wer kein Kind hat, würde es ohnehin nicht verstehen.

Wir werden vier- bis fünftausend Mal die Windeln gewechselt haben, bis unser Baby aus dem Wickelalter heraus ist. Rund eintausend Mal wird uns der Geruch von vollgeschissenen Windeln begegnen, wir werden sie ordentlich zusammenfalten, sorgfältig den Po sauber wischen. Wir werden unseren Ekel vor menschlichen Exkrementen überwinden und ein neues Verhältnis zu allem Menschlichen finden.

Und wir lernen, mit den alltäglichen Wehwehchen umzugehen, Fieber mit Hausmitteln zu kurieren, Trost spenden ohne auf die Uhr zu sehen.

Wenn wir in all den neuen täglichen Herausforderungen keine Belastungen sehen, sondern Chancen, durch die wir uns weiterentwickeln, Herausforderungen, an denen wir wachsen, dann werden wir die Babyphase unseres Kindes als einen neuen Erlebnisschatz empfinden. Und wir werden eine neue intensive Liebe in uns entdecken, die wir ohne unser Kind so nie empfunden hätten.

Und wenn dann noch die Absprachen, die Arbeitsteilung und die gegenseitige Unterstützung mit unserer Partnerin oder unserem Partner im ersten Babyjahr geklappt hat, dann können wir sicher sein, dass diese Beziehung belastbar ist und beständig sein wird.

Die Trotzphase

Niemand ist in der Lage, uns so in Rage zu versetzen, wie ein Kleinkind, das seine ganze Energie in seinen Trotz legt. Es will nicht, was wir wollen. Und das mit allen Mitteln: ohrenbetäubendes Schreien, sich-auf-den-Boden-werfen, spucken, aufstampfen, Dinge von sich schmeißen – alles ist denkbar. Und da stehen wir dann mit unserem Kleinkind, und es ist nicht vorzeigbar. Wir fühlen uns bis auf die Knochen blamiert.

Wie gehen wir jetzt mit unserer Wut um? Wir trainieren unsere Fähigkeit, geduldig und entspannt zu sein in allen Nerven zerrenden Lebenslagen. Und wir werden gezwungen (nicht zum letzten Mal), uns mit unserer Erziehung durch unsere Eltern auseinander zu setzen. Was haben sie uns angetan? Was haben wir ihnen zugemutet? Was verlangen wir von uns als Eltern? Finden wir unsere eigenen Wege, mit unseren Kindern umzugehen, oder machen wir uns (der Einfachheit halber) von den Ratschlägen anderer abhängig? Wie viel Selbstbewusstsein entwickeln wir gegenüber allen, die es schon immer besser wussten? Halten wir Stand, wenn unser Umfeld kopfschüttelnd über unser Erziehungsverhalten richtet? Finden wir gemeinsam mit unserer Partnerin oder unserem Partner eine gemeinsame Linie?

Jemand, der keine Kinder hat, wird diesen Prüfungen niemals so tiefgreifend ausgesetzt. Er wird auch nicht gelernt haben, dass es unsinnig ist, mit Kindern zu diskutieren. Das Einzige, das zählt, ist unser Verhalten, unser Handeln. Das beeindruckt ein Kind. Alles intellektuelle Gerede bleibt kleinen Kindern gegenüber wirkungslos.

Haben wir die Trotzphase unseres Kindes überstanden, sind wir wieder ein Stück erwachsener geworden und sollten uns (und unserer(m) Nächsten) anerkennend auf die Schulter klopfen. Und wir sollten daran denken, wie sinnvoll es wäre, wenn unser Kind ein Geschwisterchen bekäme. Einiges würde schwieriger, vieles würde leichter in den kommenden Jahren…

Die Pubertät

Ich überspringe die Grundschulzeit, in der wir mit anderen Eltern, mit Lehrerinnen und Lehrern und den Freunden und Freundinnen unseres Kindes klar kommen müssen. Schließlich kommt sie, die Herz und Nerven zerreißende Zeit der Pubertät. (Dass es diese Phase im Leben anderer Kulturen und zu anderen Zeit nicht gegeben hat, ist ein interessantes Thema, das spare ich hier aber aus.)

Unsere Kinder haben uns inzwischen dreizehn Jahre intensiv in allen Höhen und Tiefen erlebt und erfühlt. Sie kennen alle unsere Schwächen. Und sie halten uns jetzt unsere Ungereimtheiten als Spiegel vor. Sie reißen alle Fassaden ein, gern auch in Gegenwart von Freunden und Verwandtschaft. Sie wollen – trotz ihrer Stacheligkeit – von uns nur eines: dass wir echt und ehrlich mit ihnen sind, konsequent und liebevoll. Wer erwartet das sonst noch ernsthaft von uns? Die eigenen Eltern sind jetzt einfach nur peinlich, und das muss man ihnen auch deutlich machen in diesem Alter.

Stehen wir zu uns, zu unseren Fehlern – und zu unseren Erfolgen? Sind unsere Überzeugungen tiefgründig? Schein und Sein müssen übereinstimmen, das untersuchen sie akribisch. Wie offen sind wir wirklich? Gelingt uns das entspannte Gespräch über Sexualität, über unsere Beziehungen, früher und heute? Sie werden es herausfinden. Wie halten wir es mit Alltagsdrogen und Abhängigkeiten?

Von niemandem werden wir so gnadenlos auf den Prüfstand gestellt wie von unseren pubertierenden Kindern. Sie kennen uns zu gut. Verstecken geht nicht.

Wenn es uns gelingt, diese Zeit gemeinsam mit unserer Partnerin / unserem Partner und unseren Kindern ohne tiefe Verletzungen zu bewältigen, können wir einen doppelten Erfolg feiern. Zum einen haben wir unseren Kindern geholfen, in der Auseinandersetzung mit uns ihren eigenen Weg zu finden, ihren Blick auf Werte und Wertvorstellungen zu schärfen. Zum zweiten haben wir weitere große Schritte in unserer Entwicklung zu einer eigenständigen Persönlichkeit gemacht. Letztlich haben wir an Lebensweisheit gewonnen. Für diesen Prozess können wir unseren Kindern dankbar sein. Jemandem, der keine Kinder hat, wird etwas fehlen.

von Wilfried Richert