Persönlichkeit - Foto © Kerstin PukallWie kommt es, dass zwei Wesen mit gleichem Erbgut unter genau gleichen Bedingungen dennoch sehr unterschiedliche Persönlichkeiten entwickeln?

Dieser Frage sind deutsche Forscher vom Max-Planck-Institut und den Universitäten Dresden, Berlin, Münster und Saarbrücken nachgegangen – zunächst einmal am „Mausmodell“: Genetisch gleiche neugeborene Mäuse wurden in die gleiche Umgebung mit vielen anregenden Gegenständen gesetzt, die es zu erkunden galt. Dabei wurden mit Hilfe von Mikrochips die Bewegungen der Mäuse nachverfolgt, gleichzeitig die Bildung neuer Gehinrzellen und ihre „Verschaltung“ ebenso gemessen, wie das Verhalten der Mäuse in verschiedenen Situationen.

Es stellte sich heraus, dass trotz exakt gleicher Voraussetzungen und Bedingungen jede der Mäuse sich anders entwickelte, mehr oder weniger Gehirnzellen bildete – je nach „Lerneifer“ und neugieriger Beschäftigung mit den Dingen der Umgebung. Das Gehirn wuchs an seinen Aufgaben. Jede Maus entwickelte mit jeder neuen Erfahrung ihre ganz individuellen „Charakter-Eigenschaften“ und Verhaltensweisen.

Unter gleichen Bedingungen entwickeln sich unterschiedliche „Charaktere“

„Die Tiere hatten nicht nur alle das gleiche Erbgut, sie waren auch alle den gleichen Umweltbedingungen ausgesetzt“, beschreibt Studienleiter Professor Gerd Kempermann, den Versuchsaufbau. „Gleichzeitig war das Gehege so abwechslungsreich, dass jede Maus in dieser Umgebung ihre ganz individuellen Erfahrungen machte. Deswegen unterschieden sich die Tiere im Laufe der Zeit immer mehr in ihrer Erfahrungswelt und in ihrem Verhalten.“

Am Ende des dreimonatigen Experiments waren vor allem die Gehirnregionen unterschiedlich entwickelt, die für  Lernen und Gedächtnis zuständig sind, und  jede der Mäuse hatte ein eigenes „Profil“ ausgebildet. Diese Unterschiede sind also „erworben“ oder „erarbeitet“, nicht „geerbt“ oder durch unterschiedliche Voraussetzungen in der Umwelt bedingt.

In einer vielfältigen Umgebung im eigenen Rhythmus lernen

Eine Kontrollgruppe von genetisch gleichen Mäusen, die aber in eher „langweiligen“, anregungsarmen Umgebungen aufwuchsen, bildete deutlich weniger Gehirnzellen, als die Tiere in der Versuchsgruppe. „Aus Sicht der Bildungsforschung zeigen unsere  Experimente, dass eine reichhaltige Umwelt die Neubildung von Gehirnzellen und damit die Entwicklung von Individualität befördert“, kommentiert Prof. Ulman Lindenberger, Direktor des Forschungsbereichs Entwicklungspsychologie am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (MPIB) in Berlin.

Aber nicht nur die Möglichkeiten in einer reichhaltigen Umgebung zu lernen, sondern auch die „Freiheit“, sich die Dinge im eigenen Lernrhythmus anzueignen, bestimmen die individuelle Entwicklung der Mäuse in diesem Experiment. Ob und in welcher Form diese Ergebnisse auch auf die Persönlichkeitsentwicklung von Menschen, vor allem in der frühen und frühesten Kindheit, übertragbar sind, bleibt dahingestellt.

Mut zum Erkunden und Entdecken kommt aus dem sicheren Vertrauen

Die Frage allerdings nach einer der entscheidendsten Voraussetzungen für individuelle Erfahrungen und Persönlichkeitbildung wurde in diesem Experiment nicht gestellt: Welche Bedeutung für die individuelle Entwicklung des Gehirns und der „Persönlichkeit“ hat die aktive Neugier und Entdeckerfreude als Folge einer engen Bindung der Mäuse (und Menschen) zu den Eltern am Beginn des Lebens?

Wenn gleichartige Wesen in gleicher Umgebung unterschiedlich intensiv, aufgeschlossen und mutig auf die Anregungen der Umwelt zugehen und zugreifen und  dadurch unterschiedlich lernen und unterschiedliche Charaktere ausbilden, muss es für diese Unterschiede Gründe geben.
Eine Antwort ist sicher das angeborene Temperament und die unterschiedliche Sensibilität für Impulse von außen.

Eine andere Antwort aber – wichtiger, weil Menschen darauf einen entscheidenden Einfluss haben – kennen wir aus der wissenschaftlichen Forschung der vergangenen 20-30 Jahre: Die symbiotische Mutter-Kind-Bindung am Anfang des Lebens und etwas später das sichere Vertrauen in eine oder wenige zentrale Bezugspersonen. Dieses Urvertrauen gibt dem Kind – egal mit welchem Temperament ausgestattet – das Halteseil, mit dem es ohne Angst und mit sicherer Zuversicht die steilen und oft bedrohlich erscheinenden Erfahrungsberge erklettert. Wo dieses Urvertrauen fehlt, fehlt auch die Zuversicht in die eigenen Fähigkeiten. Die so Alleingelassenen „klammern“, ziehen sich ängstlich in sich zurück, verweigern das Lernen im Umgang mit der Welt und verpassen ihre frühe Chance zur Bildung einer freien, willensstarken Persönlichkeit.

von Redaktion fürKinder

Links zum Thema

Julia Freund et al., Emergence of Individuality in Genetically Identical Mice, Science,  340/6133, 756-759, Mai 2013, online vorab publiziert

Quelle: Pressemitteilung von CRTD, DZNE und MPI für Bildungsforschung