Risiken der frühen Krippenbetreuung - Foto iStock© matsperssonOJe stärker der Krippenausbau vorangetrieben wird, umso mehr steigt die Nachfrage der Eltern. Diese sich durch den Mainstream entwickelnde Eigendynamik fegt über die Köpfe der Kleinsten hinweg und kaum jemand der Akteure sieht die Not der Kinder.

Aus der Krippenforschung geht hervor, wie sehr die Kinder in der Krippe unter Stress stehen. Warum das so ist, wird mit den nachstehenden Ausführungen erklärt. Es wird gezeigt, was sich in den ersten zwei bis drei Jahren in der Entwicklung ereignet und warum die frühe Krippenbetreuung mit Risiken verbunden ist.

Zur psychischen, sozialen und kognitiven Entwicklung beim Baby und Kleinkind

Trennungs- und Verlassenheitsängste

In den ersten 6 Monaten empfindet sich das Baby als eine Einheit mit der Mutter. In den Folgemonaten spürt es nach der Phase des Fremdelns zunehmend, dass dies so nicht stimmt; denn es bemerkt das Getrenntsein durch seine Fortbewegungen. In diesem Zeitraum hat es idealerweise eine Bindung an die Mutter (oder an eine andere dauerhaft verlässliche Betreuungsperson) entwickelt, die die Basis für seine Welterkundung ist. Zu dieser Sicherheitsbasis kehrt das Kind von seinen Erkundungen immer wieder zurück, wenn es die Trennung bemerkt.

Steht die Mutter dann zur Verfügung, stabilisiert sich die sichere Bindung des Kindes. Ist die Mutter nicht greifbar, erlebt das Baby und Kleinkind massive Trennungs- und Verlassenheitsängste, die den größten Stress in seinem jungen Leben verursachen. Der Grund für diese Ängste ist die Tatsache, dass das Kind noch kein Vorstellungsgedächtnis hat. Es kann sich noch kein Bild von der Mutter in einem anderen Raum machen. Es fühlt sich völlig allein gelassen auf dieser Welt, und lässt sich von anderen kaum trösten.

Das Vorstellungsgedächtnis bildet sich sehr langsam über das Wiedererkennungsgedächtnis aus. Im Laufe des ersten Lebensjahrs erkennen die Kinder das, was sie schon einmal gesehen haben wieder, in der Zwischenzeit ist es im Gehirn aber nicht gespeichert. Im zweiten Lebensjahr entwickelt sich daraus das Vorstellungsgedächtnis so weit, dass das Kind zwischen 18 und 24 Monaten ein Bild von den Eltern im Kopf speichern kann. Dann sagt es ICH zu sich selbst und weiß, dass es ein von der Mutter getrenntes Wesen ist. Diese Erkenntnis führt bei vielen Kindern noch einmal zu deutlichen Trennungs- und Verlassenheitsängsten, die sich durch Klammerverhalten und Schlafstörungen zeigen können. Die eher ängstlichen und sensiblen Kinder sind davon besonders betroffen.

Die erste Entdeckung der Welt im Schutz der Eltern

Das fehlende Ichbewusstsein im ersten und das schwache im zweiten Lebensjahr führt auch dazu, dass die Kinder sich selbst nicht steuern können, sondern von den äußeren Reizen angezogen werden und darauf reagieren. Sie haben auch ihre Impulse nicht unter Kontrolle. Bei einem gesicherten Gehaltenwerden durch die Eltern fühlt das Kind sich in dieser Zeit ausgesprochen wohl, wenn es gleichzeitig entsprechend seinen Impulsen die Dinge und die Umgebung erkunden kann. Dabei erwirbt es unbewusst über die angeborenen Antriebe der Nachahmung, des Erkundens und des Manipulierens der Gegenstände die Grundlagen der Intelligenz, ohne dass es speziell gefördert werden muss.

Es strahlt bei neuen Entdeckungen meistens die Eltern an; strahlen sie zurück, fördern sie damit nachhaltig die angeborene Leistungsbereitschaft des Kindes. Zu diesem vom Kind ausgehenden selbstgesteuerten Lernen haben Kleinkinder weitere Antriebe, die den Wissenszuwachs ohne Förderung von außen sicherstellen. Dazu gehört das Deuten von Babys mit dem Finger auf Gegenstände, das spätere „Da!“ und das „Was ist das?“ der Zwei- und Dreijährigen. Diese aktive Wissensansammlung benötigt immer direkt eine Antwort, um das Selbstwirksamkeitsgefühl des Kindes zu stärken und seine entwicklungsfördernde Neugier zu stillen.

Wenn das Kind sich mit ungefähr zwei Jahren selbst als Person unter den anderen erkennt und bemerkt, dass es nicht mehr in einer „ozeanischen Suppe“ schwimmt, in der alles zusammengehört, empfindet es ein seltsames Wegtreiben der Gegenstände und Personen. Das zeigt sich im Verhalten des Kindes daran, dass es ständig ‚meins‘ sagt und alles Greifbare festhält. Dieses Festhalten der Gegenstände (und bei vielen Kindern auch der Mutter) ist in dieser Zeit als psychische Stütze notwendig, weil das Erkennen, nicht mehr mit allem verbunden zu sein, das Kind stark verunsichert. Das Üben des Abgebens von Dingen in dieser Zeit verstärkt die Unsicherheit und verlängert die „meins“-Phase, die entwicklungsbedingt vier bis sechs Monate dauert.

Die unbewusste Ichbezogenheit

Als Ausgleich für diese Verunsicherung hat das Kind ab jetzt einen ausgeprägten eigenen Willen, der von seinem ichbezogenen Standpunkt aus geht. Es hält sich für den Mittelpunkt der Welt und glaubt, alles zu können. Die Anforderungen von anderen werden nicht verstanden und führen vermehrt zu Wutanfällen, zumindest bei den Kindern mit einem außenorientierten Temperament. Wenn Kinder sich nach den Anforderungen anderer richten, tun sie das nicht aus Einsicht, sondern weil sie den Eltern gefallen wollen oder sich in fremden Situationen ohne die Eltern unsicher fühlen.

Diese häufig gegenüber der Mutter gezeigten Wutanfälle haben auch die Funktion, die erkenntnismäßige Ablösung von der Mutter voranzutreiben. Der Vater ist weniger betroffen, denn die Ablösung geschieht von der Mutter. Ein angemessener Umgang mit den Wutanfällen fördert die Identitätsentwicklung und das soziale Verstehen.

Wenn das Kind nach der senso-motorischen Entwicklungsphase mit zwei bis zweieinhalb Jahren dieses erste Gleichgewicht in der geistigen Entwicklung erreicht hat, benötigt es ein ganzes Jahr der weiteren aktiven Welterkundung, um diese Errungenschaften zu stabilisieren. In den ersten zwei bis drei Jahren ist also nicht das soziale Lernen das Hauptentwicklungsthema, sondern das Kind muss sich erst selbst erkennen und sich in seine Umwelt einordnen. Erst dann sind Kapazitäten frei für das soziale Lernen mit anderen.

Was bedeuten diese Entwicklungsmerkmale für eine frühe vielstündige Krippenbetreuung?

Wenn die Kinder zwischen dem ersten und zweiten Geburtstag in die Krippe kommen, sind sie mit der Bewältigung der erkenntnismäßigen Trennung von der Mutter beschäftigt. Gleichzeitig stabilisiert sich die sichere Bindung des Kindes an die Mutter. Das kann nicht gelingen, wenn die Mutter bei diesem Prozess nur wenig anwesend ist, denn das Kind muss diesen Prozess konkret erfahren und kann ihn nicht abstrakt im Kopf vollziehen. Das Krippenkind wird damit in seiner Ich-Entwicklung gleich zu Beginn eingeschränkt.

Die während des Ablöseprozesses auftretenden Trennungs- und Verlassenheitsängste sind gerade in der Zeit zwischen 8 und 16 Monaten und 20 und 24 Monaten besonders stark und eine Ursache für die in allen Untersuchungen festgestellte Stressbelastung der Krippenkinder. Über die Auswirkungen dieser unzeitigen Trennungserfahrungen gibt es umfangreiche Literatur.

Stille, „brave“ Kinder leiden am stärksten

Besonders die hoch sensiblen, eher ängstlichen Kinder, die starkes Klammerverhalten zeigen, vertragen die Fremdbetreuung vor dem 3. Geburtstag gar nicht. Leider sind es auch diejenigen, die am wenigsten protestieren. Sie suchen sich in der Krippe eine andere Bezugsperson, an die sie sich anklammern. Wenn das nicht gelingt, weil z.B. keine der Mutter ähnliche Erzieherin da ist oder die Erzieherinnen zu wenig Zeit haben, verhalten sich diese Kinder still und ziehen sich zurück, um nicht noch mehr Stress zu haben. Sie sind mit der Aufrechterhaltung ihres inneren Gleichgewichts beschäftigt. Wenn Kinder keine Sicherheit haben, suchen sie nur die und brauchen ihre ganze Energie dafür. Bei solch stillen, distanzierten Kindern wurde bei Untersuchungen zur Krippenbetreuung der höchste Stresspegel festgestellt. Unter diesen Bedingungen ist Bildung nicht möglich!

Dass der Stress durch die Aktivierung des biologischen Bindungssystems beim Kind entsteht und dass Vertröstungen bis zum Mittag oder Abend nicht greifen, wird von den Stressforschern nicht erwähnt! Dabei führt die häufige und anhaltende Aktivierung des Stress-Systems beim Kleinkind zu erhöhter Krankheitsanfälligkeit und durch Veränderungen im Neurotransmitter-System zu erhöhter Stressanfälligkeit auch im späteren Alter!

Stress durch Reizüberflutung in der Gruppe

Eine weitere Stressbelastung ist die Reizüberflutung. Kinder sind in den ersten zwei Jahren entwicklungsbedingt nicht in der Lage, sich mehrere Stunden auf viele Spielpartner und Aktionen einzustellen. Die senso-motorische Entwicklung benötigt ruhigen Raum, der vom Kind selbstgesteuert erkundet werden muss, damit sich alle Fähigkeiten ungestört entwickeln können. Viele Gleichaltrige über lange Zeiträume beeinträchtigen durch die ständige Überforderung die Entwicklung des Kleinstkindes. Darüber hinaus kann die im zweiten Lebensjahr noch ungefilterte Reizoffenheit der Kinder zu einer Schwächung der Wahrnehmungskraft führen, da sie aufgrund des noch nicht voll ausgebildeten Ichbewusstseins sich gegen die Reiz-Flut nicht wehren können. In der Folge besteht die Gefahr, Konzentrationsprobleme zu entwickeln.

Die oben geschilderten Entwicklungsmerkmale der Ichbezogenheit und der ‚Meins-Phase‘ der ungefähr Zweijährigen machen den Kindern zusätzlichen Stress, da sie diese in der Krippensituation kaum ausleben. Denn aufgrund des latenten Unsicherheitsgefühls besonders des ruhigeren Krippenkindes hält es sich hier, so gut es kann, zurück. Es versucht damit, sein inneres Gleichgewicht einigermaßen zu halten. Das führt zum inneren Rückzug, der die Ichbezogenheit verfestigt.

In der Krippe zeigen die unter 2jährigen eher ein vermeintlich soziales Verhalten, das zu diesem Zeitpunkt jedoch eine ‚Überlebensstrategie‘ ist: Sie bestehen nicht auf den Dingen, sondern trösten bei Traurigkeit eines Kindes dieses mit seinem Lieblingsspielzeug. Vor dem Icherkennen reagieren die meisten Kinder impulsmäßig auf Traurigkeit und Weinen eines anderen, weil die Gefühlsansteckung das Kind stark beeinträchtigt. Es versucht dann, das negative Gefühl an der Quelle abzustellen. In so fern ist das kein bewusstes soziales Verhalten, aus dem das Kind für später lernen kann.

Dass fast alle kleinen Kinder Probleme in der fremden Betreuungssituation haben, ist am typischen Verhalten der Mehrheit der unter Zweijährigen in der Kinderkrippe zu erkennen: sie spielen kaum miteinander, sondern meistens allein oder sie scharen sich um eine Betreuerin. Die Experten nennen das Inselverhalten. Die Kinder lassen sich gut anleiten und gehorchen (sie machen alles, was gesagt wird, essen auch gesittet, was zu Hause nicht funktioniert). Auch das ist eine Maßnahme, das innere Gleichgewicht einigermaßen stabil zu halten. Es wird von Erwachsenen positiv gesehen und als Anpassung gedeutet; diese Anpassung strengt das Kleinstkind aber übermäßig an, was zur dauerhaften Überforderung mit verstärkter Unruhe führen kann.

Das Verhalten weist aber auf ein grundsätzliches Problem der frühen Fremdbetreuung hin: Es dürfte klar sein: wenn sich die unter Zweijährigen noch nicht als eigenständige Person wahrnehmen, also noch keinen festen Standpunkt haben, nichts einordnen und einschätzen können, noch kein Bewusstsein vom eigenen Willen haben, keine Kontrolle über Situationen und ihre Gefühle, dann müssen sie sich bei Unsicherheitsempfinden am nächst greifbaren Erwachsenen orientieren, um nicht als Irrlichter durch den Raum zu schwirren.

Große Gefahr der Bindungsstörung bei Ganztagsbetreuung

Bei Ganztagsbetreuung und bei Betreuung im ersten Lebensjahr besteht zusätzlich die Gefahr der Bindungsstörung, die das weitere Leben des Kindes erheblich beeinträchtigt. Die Bindungsentwicklung ist, wie oben ausgeführt, neben dem liebevollen Umgang mit dem Kind auf die weitgehende Anwesenheit besonders der Mutter in den ersten zwei Jahren angewiesen, – und zwar wegen des fehlenden Vorstellungsgedächtnisses im ersten Jahr und dem wenig stabilen im zweiten Jahr. Das in dieser Zeit von vielen Kindern gezeigte Klammerverhalten ist Bindungsverhalten. Kann es nicht befriedigt werden, entwickeln sich Bindungsstörungen.

Bildung ohne Bindung ist kaum möglich

Die von den Krippenbefürwortern behauptete frühe Bildung ist aus all diesen Gründen kaum möglich. Obige Ausführungen zur Entwicklung des Kindes haben gezeigt, dass die Bildung des Kindes in den ersten zwei bis drei Jahren nur im Schutz und der sicheren Bindung an die Eltern optimal verlaufen kann. Am Beispiel des kindlichen Fragens nach den Dingen ist zu sehen, dass auch dafür das direkte Antworten der Bezugsperson von hoher Bedeutung für den Wissenserwerb des Kindes ist, der in dieser Zeit fast vollständig über das selbstgesteuerte Lernen stattfindet.

Schlussbemerkungen

Es ist unstrittig, dass für manche Kinder aus sozial schwachen Familien eine Krippenbetreuung besser ist als sie der emotionale Verwahrlosung oder Misshandlung durch die Eltern auszusetzen. Allerdings sind diese Kinder viel besser in einer Pflegefamilie aufgehoben als in einer Kinderkrippe. Für die meisten Kinder ist die frühe Krippenbetreuung jedoch mit Entwicklungsrisiken verbunden.

Der wachsende wirtschaftliche, soziale und politische Druck auf die jungen Eltern, ihre Babys immer früher in die Fremdbetreuung zu geben, hat für viele dieser Kinder langfristig erhebliche negative Folgen für Gesundheit und Sozialverhalten. Dieser Druck blendet erfolgreich alle Erkenntnisse der neueren Entwicklungspsychologie und frühkindlichen Verhaltensforschung aus und blockiert einen rationalen gesellschaftlichen Diskurs über die optimale Balance von guten Entwicklungsbedingungen für die Kleinsten und den angemessenen Voraussetzungen für die Selbstverwirklichung ihrer Eltern.

von Dr. Erika Butzmann 

Links zum Thema

Auf der Webseite „Erste gute Kinderjahre“ finden Sie ergänzende Informationen zum Thema.

Eine französische Fassung des Beitrags von Erika Butzmann, „La garde en crèche expose les tout petits à des risques“

Hinweis
Dieser Beitrag ist die Kurzfassung eines Vortragsmanuskripts. Der vollständige Text mit genauerer Beschreibung einzelner Aspekte, den Forschungsergebnissen zur frühen Krippenbetreuung, Empfehlungen für Eltern bei notwendiger Krippenbetreuung sowie den Quellenangaben kann bei der Autorin angefordert werden. Kontakt: erika.butzmann@ewetel.net