Fremdbetreuung bedeutet Stress für die Kinder, insbesondere die Kleinsten, mit Langzeitfolgen, die in jüngster Zeit immer häufiger und eindringlicher in wissenschaftlichen Studien dargestellt werden.
Hier ein kurzer Überblick über die bisherigen Ergebnisse:
Forschung zur Wirkung der Betreuung von kleinen Kindern in Kindertagesstätten, insbesondere Kinderkrippen, gibt es schon seit über 50 Jahren. Neben beschwichtigenden mehren sich vor allem solche Ergebnissen, die auf das Risiko von späteren körperlichen und seelischen Folgen verweisen (Shpancer 2006). Kinder erleben Stress bei Fremdbetreuung, der auf noch junge und leicht verletzbare Hirne trifft.
Die Forschungen zu diesem Thema durchlaufen drei Stadien, die jeweils mit einem Erkenntnisgewinn verbunden sind:
1. Direkte Beobachtung und Befragung der Beteiligten
Hier sei an erster Stelle die NICHD-Studie (Belsky et al. 2007, 2010, 2010 a) erwähnt. In einer umfassenden Langzeitstudie wird die Wirkung von verschiedenen frühen Fremdetreuungsformen (bis 4 ½ Jahre) auf mehr als 1.300 Kinder der USA erforscht. Resultate der Betreuungswirkungen auf die Kinder und Jugendlichen bis zu 15 Jahren liegen vor.
Die wichtigsten Ergebnisse: Bei einer hohen Qualität der externen Betreuung bis 4 ½ Jahre kam es zu etwas mehr sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten der Kinder bis zum Jugendalter im Vergleich zu nicht fremdbetreuten Kindern.
Aber je mehr nichtverwandtschaftliche Betreuung an wöchentlichen Stunden und Monaten/Jahren Kinder bis 4 ½ Jahre erlebt hatten, desto mehr traten externe Verhaltensprobleme auf, wie Trotz und häufige Wutanfälle, Zerstörung von Sachen, Lehrer-Schüler-Konflikte, Schwächen im Sozialverhalten, mangelnde Empathie etc. je nach Altersstufe. Auch stärker „Internalisierendes“ Verhalten, Kontaktschwäche, Rückzug in sich selbst bis hin zu Depressionen wurden als Konsequenz beobachtet.
Das bezog sich insbesondere auf die Krippenerziehung bzw. nachfolgende institutionelle Gruppenerziehung. Auch bei hoher Qualität der Einrichtung traten solche Probleme auf. Die Werte lagen aber nicht im klinischen Bereich. Der Einfluss der Qualität der Mutter-Kind-Beziehung und des Elternhauses war bezüglich der sozialen, emotionalen, kognitiven und sprachlichen Entwicklung allerdings viel größer als jegliche Form der externen Betreuung.
Die NICHD-Studie wird durch andere umfangreiche Forschungsergebnisse weitgehend bestätigt, etwa die englischen FCCC – Family, Children and Child Care Study – (Stein et al. 2012, Eryigit 2013). Zu ähnlichem Resultat kommt eine Schweizer Studie (Averdiyk et al 2011): Je mehr gruppenbezogene externe Kindertagesstätten-Betreuung Kinder zwischen 0 und 7 Jahren erlebt hatten, desto stärker zeigte sich der Anstieg von Problemen in folgenden Bereichen: Aggressives Verhalten, motorische Unruhe mit Aufmerksamkeitsdefiziten, nicht aggressives externalisiertes Verhalten, Angst und Depressionen.
Einen interessant Beitrag liefert auch das Quebecer Projekt „5 Dollar pro Tag für Kindesbetreuung“ (Baker/ Milligan 2008). Nachdem in diesem Bereich von Kanada die Kinderbetreuung in Form von Krippen, Tagesmüttern, Pflegefamilien etc. staatlich stark subventioniert wurde, nahm die Berufstätigkeit der Mütter von kleinen Kindern an Zahl und Umfang zu und parallel dazu stieg die externe Kinderbetreuung deutlich an. Jedoch berichteten nun die Eltern über vermehrte Hyperaktivität, Angst, Aggressivität und Krankheitsanfälligkeit ihrer Kinder. Auch sie selbst zeigten in der Erziehung vermehrt Probleme, mangelnde Effektivität sowie schlechtere Interaktionen mit ihren Kindern. Die Eltern hatten nun ebenfalls vermehrte Stresserscheinungen und Gesundheitsprobleme. Auch litt ihre Ehe- bzw. Partnerbeziehung.
Wegen dieser Risiken einer frühen externen Gruppenbetreuung und dem großen Einfluss des Elternhauses, so die Folgerung der Autoren aus ihren Studienergebnissen, sollte die Familienerziehung von Kleinkindern finanziell gefördert werden. So hätten Familien ohne großen finanziellen Druck eine echte Wahlmöglichkeit zwischen einer Fremdbetreuung und der Erziehung ihrer Kleinkinder durch sie selbst. Darüber hinaus sollten ihre Erziehungskompetenz gestärkt und ihre Erziehungsleistungen in der Öffentlichkeit stärker anerkannt werden. Gleichzeitig sollte aber auch die Qualität von institutionalisierter Gruppenbetreuung von Kleinkindern verbessert werden.
Fazit: „Es ist nicht länger haltbar, dass Entwicklungswissenschaftler und Krippenverfechter leugnen, dass frühe und extensive Krippenbetreuung, wie sie in vielen Gemeinden verfügbar ist, ein Risiko für kleine Kinder und vielleicht für die ganze Gesellschaft darstellt…“ (Belsky 2007).
2. Die Messung des Stresshormons Cortisol über den Speichel
In den späten 90er Jahren des letzten Jahrhunderts gab es Fortschritte in der frühkindlichen Stressforschung. Mit der Entnahme von Speichelproben konnte die Konzentration des Stresshormons Cortisol nun relativ einfach gemessen und damit Aussagen über den körperlichen und psychischen Stress gemacht werden. Damit waren die Forscher bei der Beurteilung von früher externer Betreuung nicht mehr nur von direkten Beobachtungen der Kinder sowie Befragungen von Eltern und lehrern abhängig, was die Genauigkeit der Aussagen erhöhte.
Ein chronisch hoher Cortisolausstoß in früher Kindheit kann zu Gesundheitsproblemen führen. So wurden eine Schwächung des Immunsystems, vermehrte Infektionen, eine Beeinträchtigung von Gedächtnis, Emotionalität sowie des Neuronenerhalts beobachtet. Als Langzeitfolgen können emotionale Dysfunktionen, Depressionen, Angst und Essstörungen auftreten (Gerhardt 2004). Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass im Gehirn der Hippocampus, der präfrontaler Cortex und die Amygdala beeinträchtigt werden – die Gehirnregionen, die sowohl für die kognitive als auch die emotionale Steuerung „zuständig“ sind.
Für Kleinkinder sinkt daheim der Stresspegel tagsüber, in der Krippe steigt er an. Die Grafik zeigt Veränderungen der Cortisol-Werte zwischen der Mitte des Morgens (AM) und der Mitte des Nachmittags (PM) zu Hause und in gruppenbezogener Tagesbetreuung (Vermeer/ van Ijzendoorn 2006).
Der Cortisol-Anstieg bei sicher gebundenen Kindern ist geringer als bei unsicher gebundenen in der Eingewöhnungs- aber nicht mehr in der Trennungsphase (Ahnert et al., 2004).
Die Autoren Vermeer und van Ijzendoorn (2006) haben 9 Studien ausgewertet, die Cortisolproben während der institutionellen Gruppenbetreuung und zu Hause untersucht hatten. Bei kleinen Kindern daheim sinkt normalerweise der Cortisolgehalt vom Morgen, wo er den höchsten Wert erreicht, zum Nachmittag und Abend hin ab (siehe Fig.1, „home“). Aber 70 – 90 % der ganztägig in Kindertagesstätten mit guter bis sehr guter Qualität betreuten Kinder zeigten einen Cortisol-Anstieg (Fig. 1, „daycare“). Der auf das Kindesalter bezogener Anstieg verlief kurvenlinear, mit einem Höhepunkt zwischen zwei und drei Jahren, und war mit 5 – 6 Jahren kaum noch relevant. Das ist einer der Gründe, warum einigen Experten von einer externe Gruppenbetreuung vor 3 Jahren abraten.
Eine andere Studie untersuchte 70 Kindern im Alter von 15 Monaten in ganztätiger Krippenbetreuung. Den Kindern wurden zu Hause und am Vormittag in der Einrichtung Cortisol-Speichelproben entnommen (Ahnert et al 2004). In der Einführungsphase bei Anwesenheit der Mutter (durchschnittlich 2 Wochen) zeigten sicher gebundene Kinder einen geringeren Cortisolanstiegen als unsicher gebundene Kinder. In der Trennungsphase, welche die Kinder ganztägig ohne ihre Mütter in der Kinderkrippe verbrachten, lag der Anstieg aber generell zwischen 70 – 100 % gegenüber den häuslichen Werten, ohne dass signifikante Bindungsunterschiede feststellbar waren (siehe Abbildung aus Ahnert 2004).
Offensichtlich, so die Autoren, ist der ganztägige Aufenthalt in der Kinderkrippe ohne die Anwesenheit der Mutter für die Kinder generell so überwältigend, dass bezüglich des Stressanstiegs die Art der Bindung zur Mutter keine Rolle mehr spielt. Auch nach 5 Monaten gab es noch immer deutlich höhere Cortisolwerte gegenüber den häuslichen bei ebenfalls keinen signifikanten Bindungsunterschieden.
Kinder von Müttern mit langen oder unregelmäßigen Arbeitszeiten blieben auch nach dem Krippenaufenthalt unsicher gebunden oder ließen diese neu entstehen.
Roisman et al (2009) unterzogen 869 Personen der NICHD-SECCYD-Studie, welche die ersten drei Jahre mütterliche Unsensibilität und/oder Krippenerziehung erlebt hatten, mit 15 Jahren einer morgendlichen Cortisolmessung. In beiden Gruppen lagen die Cortisol-Werte nach dem Aufwachen durchschnittlich signifikant niedriger als bei anderen Jugendlichen. Die Krippenqualität schlug sich in den Messungen nicht nieder. Die Autoren sehen hierin eine Bestätigung der Vermeidungs-Hypothese. Sie besagt, dass früher interpersonaler Stress zur Herabsetzung der basalen Cortisolwerte im späteren Leben führt. Dies geschieht durch Änderung der Stresssystem-Funktion im Gehirn.
Die Folgen sind freilich noch nicht geklärt. Aber die Autoren weisen darauf hin, dass in einer anderen Untersuchung Erwachsene mit erhöhtem antisozialem Verhalten niedrigere Cortisolwerte zeigten.
3. Umfassendere Hirn- und Genetik-Stressforschung
In neuester Zeit gibt es in der Stressforschung eine noch engere Zusammenarbeit zwischen Pädagogik und Psychologie, Psychopathologie, Psychoendokrinologie, Neurowissenschaft sowie molekularer Genetik und Epigenetik. Sie geht weit über Cortisolmessungen hinaus. Mit modernen Methoden wie elektrophysiologischer Messungen und bildgebende Verfahren werden beim „Early Life Stress“ (ELS) deren Wirkungen auf Neuronenkreisläufe, Hirnstrukturen, endokrine Systeme und genetische Niederschläge erkundet. Auch wenn noch keine speziellen Ergebnisse bezüglich möglicher Folgen von Stress in früher Fremdbetreuung vorliegen, lassen doch erste Forschungen aufhorchen.
Unter der Leitung der Züricher Neurowissenschaftlerin Isabell Mansuy sind nach der Geburt Mäuse über 10 Tage wiederholt von dem Muttertier getrennt und das Muttertier zusätzlich gestresst worden (Ruegg 2010). Die jungen Mäuse wurden depressiv, zeigten soziale Probleme und verhielten sich in neuen Situationen apathisch. Dies hielt lebenslang und über drei Generationen an.
Es lag bei den jung gestressten Tieren keine Veränderung der DNS vor, sondern eine Abwandlung des Methyl-Profils in Gehirn und Spermien, was typisch für einen epigenetischen Vorgang ist. In anderen Worten: Nicht das Erbgut selbst wurde durch den frühen Stress verändert, sondern die Steuerung der DNS, z.B. das An- und Abschalten. Methyl hängt sich bei einigen Genen an eines der 4 Erbsubstanzbausteine, das Cytosin und vermag diese zu steuern. Der Stress brachte die Methylierung durcheinander und verändert die Steuerung der betreffenden Gene.
So befremdlich und oftmals nicht notwendig solche Tierversuche nach meiner Meinung (B.B.) auch sind. Die Forscherin I. Mansuy jedenfalls sieht hier Parallelen zu früh gestressten und später psychisch kranken Menschen und will sich dieser Frage näher widmen.
Auch hat man schon bei Jugendlichen eine abgewandelte Methylierung an DNS-Zellen festgestellt, die durch depressive und andersartig gestresste Mütter und Väter in früher Kindheit Belastungen ausgesetzt waren (Kober u.a. 2011).
In einer Langzeitstudie wurden 92 Kinder untersucht (Lubi et al 2012). Nachdem im vorschulischen Alter die Unterstützung der Kinder durch ihre Mütter erforscht worden war, maß man im Alter zwischen 7 und 13 Jahren das Volumen ihres Hippocampus – der Hirnregion, die Erfahrung und Erinnern steuert, für Lernprozesse von Beduetung ist und dämpfend auf Stress wirken kann – mit Hilfe von bildgebenden Verfahren. Es zeigte sich eine Verbindung zwischen früher mütterlicher Unterstützung und einem größeren Volumen des Hippocampus. Das Ergebnis war hoch signifikant. Die Autoren betonen die Bedeutung von frühen Erfahrungen und die wichtige Rolle der elterlichen Unterstützung für eine gesunde Hirnentwicklung bei Kindern.
von Burghard Behncke
Links zum Thema
„Aktuelle Studien zu psychosozialem Stress in früher Kindheit und seine möglichen Folgen“ Vortragsfolien von Burghard Behncke
„Kindergesundheit als gesellschaftlicher Auftrag“ Vortragsfolien von Dr. Rainer Böhm
„Trends-Fremdbetreuung“ von Burghardt Behncke
Die Trennung von der Mutter, kann nicht nur zu kognitiven und emotionalen Beeinträchtigungen führen, sondern beeinflusst auch die Sinneswahrnehmung negativ.: „Vereinsamung macht unsensibel“, Spektrum.de