Rund um das Stillen, dieses unbezahlbare Geschenk für das Baby, wo Körpernähe und Geborgenheit für Mutter und Kind spürbar werden können, liegen Freude und Verzweiflung oft nah beieinander. Gerade dann wenn Stillschwierigkeiten auftreten, ist das Erleben mehr Frust als Lust, sowohl für die Mutter als auch für das Kind. Es stellt sich die Frage, wie in solch herausfordernden Situationen das Nähren des Kindes als Moment der Nähe und Verbundenheit erlangt werden kann.
Wege der Bindungsförderung – Stillen, mehr als nur Nahrung
Die salutogenetischen (an die Grundlagen der Gesundheit gehende) Auswirkungen des Stillens für Mutter und Kind sind heute weitreichend bekannt. Neben diesen gesundheitsfördernden Aspekten sind im Besonderen die emotionalen Prozesse von Bedeutung, die das Nähren des Kindes an der Brust mit sich bringen. Stillen ist Teil eines komplexen Vorgangs und unterstützt die Frau in ihrem Muttersein. Viele Vorgänge, die mit dem Stillablauf unweigerlich einhergehen, wie die Nahrungsaufnahme über eine einzige Bindungsperson, der ausgedehnte Körperkontakt, die taktile Stimulation und die nonverbale Kommunikation auf körperlicher Ebene sind nur einige von vielen Aspekten, die unbewusst beim Stillen auf Mutter und Kind einwirken.
Erlebt eine Mutter, wie das Kind bei ihr genährt, beruhigt und zufrieden in die Entspannung fällt, so stärkt dies das Vertrauen in ihre eigenen, sowie in die kindlichen Fähigkeiten. Diese Erfahrung bietet wertvolle Ressource im häufig recht turbulenten Familienalltag.
Stillen, nicht immer ein einfacher Weg
Stillen ist zwar die natürlichste Form der menschlichen Ernährung, nicht immer ist es aber ein einfacher Weg, auch wenn alle Voraussetzungen dafür bei einem gesunden Mutter-Kind-Paar körperlich angelegt sind. Viele Stillende finden sich in herausfordernden Situationen wieder, mit welchen sie vorab nicht gerechnet haben.
Geht das Stillen mit Schmerzen einher, weint das Kind an der Brust, ist es unzufrieden oder nimmt es nicht ausreichend zu, sind Unsicherheit, Zweifel und Überforderung nicht selten die Folge im mütterlichen Erleben. Dies wird dadurch verstärkt, dass Informationen und Meinungen rund um das Stillen vielfältig und widersprüchlich sind. All das hat weitreichende Folgen auf das Bindungsgeschehen von Mutter und Kind.
Stillen erfordert Teamwork
Stillen bedeutet Teamarbeit, bedeutet sich annähern, bedeutet sich vertraut machen mit der neuen Lebenssituation. Unsere Gesellschaft ist sehr schnelllebig, täuscht Kontrollier- und Vorhersehbarkeit vor. Dies allein stellt eine große Herausforderung dar, sind diese Aspekte nicht gerade die geeigneten Voraussetzungen für einen erfolgreichen Stillverlauf. Kinder benötigen in den ersten Wochen nach der Geburt viele Mahlzeiten. Die häufige Aufnahme, von zunächst kleinen Nahrungsmengen rund um die Uhr, kommt dem kindlichen Bedürfnis entgegen und fördert die Stoffwechselanpassung in diesem veränderten Lebensumfeld. Den sicheren Hafen für das Zurechtfinden in dieser turbulenten Zeit bieten die Eltern. Gerade die mütterliche Nähe ist das vertraute Umfeld für das Baby. Sie bietet ihm Sicherheit in dieser neuen Welt. Das Trinken an der Brust bedeutet Nahrungsaufnahme und Stärkung des kindlichen Gesamtbefindens. Vertraute Körpererfahrungen werden erlebt. Das Baby kann die Mutter über die Haut fühlen, ihren Herzschlag hören, ihre Atmenbewegungen wahrnehmen, ihren Geruch einatmen, die emotionale Verbundenheit spüren.
Das erfordert von der Mutter ein Sich-Einlassen auf das kleine Wesen mit all seinen Bedürfnissen. Das Nähren an der Brust ist ein unkontrollierbarer Vorgang, allein schon in Bezug auf die Trinkmenge und den einhergehenden unvorhersehbaren Stillzeiten. Es bedeutet für die Mutter die Aufgabe von Kontrolle und fordert sie heraus, sich dem Kind in seiner Kompetenz anzuvertrauen, den Weg des Stillens gemeinsam zu beschreiten.
Nähe wagen erfordert Mut
Nähe zum Kind wagen, Vertrautes verlassen, ungewisses Terrain betreten und sich auf dieses kleine Wesen wirklich einlassen erfordert Mut und Zuversicht in die eigenen Fähigkeiten, unabhängig in welcher Form das Kind genährt wird. Fragen und Zweifel treten in dieser neuen Lebensphase auf, eigene Schwächen zeigen sich. Es ist nicht immer ein einfacher Weg, sich diesen Gefühlen zu stellen. Dieser Entwicklungsprozess kann gelingen, insbesondere dann, wenn ein tragendes, unterstützendes Umfeld die Mutter auf diesem Weg begleitet, ohne beratschlagend zu belehren. Nicht immer erfahren dies Mütter. Ebenso wirken Erfahrungen rund um Schwangerschaft und Geburt mit hinein in die Stillzeit. Zeigen sich Schwierigkeiten, kann es hilfreich sein, professionelle Unterstützung im Außen zu suchen.
Wege aus der Krise
Gerade dann, wenn Stillen anders als erwartet verläuft, sich Mütter hilflos, verzweifelt und unfähig fühlen, geht Enttäuschung einher, Enttäuschung über sich, Enttäuschung über das Kind. Halten diese Gefühle an, so sollten sich Familien nicht scheuen, Unterstützung aufzusuchen, damit sich Verbundenheit und Nähe wieder einstellen kann.
Das Konzept der Emotionellen Ersten Hilfe (EEH), entwickelt in den 1990er Jahren vom Diplompsychologen Thomas Harms aus Bremen, ist eine Möglichkeit einer solchen Begleitung. Die EEH stellt die Stärkung von Bindungsprozessen ins Zentrum. Dabei gilt die eigene innere Verbundenheit als Voraussetzung, um sich auf das Gegenüber einlassen zu können. In der EEH wird davon ausgegangen, dass erst ein entspannter körperlicher Zustand das Eingehen auf einen anderen Menschen und seine Bedürfnisse möglich macht. Dies bedeutet konkret, Eltern vorab in ihren eigenen Bedürfnissen zu stärken. Lösungen werden nicht beim Kind durch Verhaltensänderungen gesucht, sondern Eltern werden dahin begleitet, die Dynamik hinter der Krise zu erkennen und die Gefühls- und Körperreaktionen, die belastende Situationen hervorrufen, wahrzunehmen und anzuerkennen. Orientierungsbarometer und zentrales Werkzeug ist dabei der Körper.
Stillen und Bindung
Bindung, ein emotionales Band, unabhängig von Raum und Zeit, ist für das Baby eine existenzielle Notwendigkeit. Die Verbundenheit zu einer Bezugsperson entspricht seinem emotionalen, neurobiologischen Grundbedürfnis. Die Art und Weise, wie der Mensch in den ersten Lebensjahren Beziehung erfährt, ist prägend und hat Einfluss auf alle weiteren Beziehungen. Somit trägt jeder Mensch die Sehnsucht nach Geborgenheit, Nähe und Liebe in sich. Stresssituationen mit einhergehendem, kurzfristigem Bindungsabbruch sind ein vollkommen normaler Bestandteil jeder Eltern-Kind-Beziehung. Die Problematik beginnt dort, wo dieser Zustand anhält.
Gerade beim Stillen, diesem körperlichen Prozess von Geben und Nehmen, zeigen sich viele Bindungsdynamiken. Diese ins Bewusstsein zu rücken und dem Belastenden darin auch seinen Ausdruck zu erlauben in einem Feld aus Sicherheit und Halt, entlastet die Situation. Eine solche Erfahrung ermöglicht Mutter und Kind sich in Verbundenheit zu begegnen. Das bedeutet auch innerhalb der Stillbegleitung mit den Familien einen individuellen Weg zu gehen, indem Familien einen für sich erforderlichen geschützten, wertfreien Raum erhalten, wo sich das Ihre entfalten darf. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von verschiedenen Fachleuten ist hier erstrebenswert und sollte all jenen ein Anliegen sein, welche Eltern-Kind-Paare auf ihrem Weg begleiten.
Dort, wo Familien in ihrer Kompetenz gestärkt werden, eine achtsame Begleitung auf Augenhöhe erfahren, können sich Entwicklungsprozesse entfalten und Eltern mit ihren Kindern in einem Feld aus Zuversicht und Vertrauen gemeinsam wachsen.
von Barbara Walcher
Links zum Thema
Stillen: Passt das zu mir? 7 Min., Quelle: Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) in der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) 2022
Informationen und Adressen von Stillberaterinnen IBCLC
Informationen und Adressen von Fachberaterinnen EEH
Broschüre „Stillen“ Für einen guten Start
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