Persönlichkeitsentwicklung - Foto iStock © yarutaDass die Umstände des Aufwachsens und der Persönlichkeitsentwicklung vor allem in früher Kindheit das gesamte Leben eines Menschen, seine körperliche und seelische Gesundheit, sein Verhalten in der Gesellschaft und seinen Umgang mit den eigenen Kindern entscheidend prägt, ist in den vergangenen Jahrzehnten in zahlreichen Studien immer neu und unter immer neuen Aspekten belegt worden.

Wesentlich dazu beigetragen hat die Bindungstheorie, die Erkenntnis, dass eine sichere Bindung zunächst an die Mutter, dann auch an andere Bindungspersonen, dem Kind die verlässliche Basis schafft, die Welt um sich herum zu erkunden, zu lernen, auf Herausforderungen und Widerstände angemessen zu reagiern und mit anderen, unterschiedlichen Menschen zu kooperieren. Die Art der Bindung selbst aber und die Entwicklung etwa der Mutter-Kind-Beziehung ist abhängig von einer Fülle äußerer Bedingungen, die in jüngster Zeit immer mehr in den Fokus der Forschung geraten sind.

Was sich in der „evolutionären Entwicklungsnische“ abspielt, prägt das Schicksal des Menschen ein Leben lang

Wie die seit Urzeiten kaum veränderten Grundbedürfnisse von Babys und Kleinkindern nach Nahrung, Schutz und Zuwendung und die durchaus kulturell bedingten und wandelbaren Formen der mütterlichen/elterlichen Reaktionen auf diese Bedürfnisse einerseits und die äußeren Bedingungen, unter denen in einer sich ständig wandelnden Umwelt diese Prozesse ablaufen sich wechselseitig bedingen, ist die spannende Frage, mit der sich auch die aktuelle amerikanische Studie einer Forschungsgruppe von der Universität von Notre Dame beschäftigt:
Unveränderliche Bedürfnisse und ihre (Nicht-)Befriedigung in einem abgrenzbaren gesellschaftlichen „Entwicklungsraum“, einer „evlutionären Entwicklungsnische“ (evolved developmental niche). Eine Art „Kindheitskokon“, der von inneren Problemen und äußeren Verhältnissen ständig gebeutelt, verformt oder gar aufgebrochen wird. Die Ergebnisse fassen die AutorInnen in einer Mitteilung der Universität so zusammen:

Haben Sie Zuneigung empfangen, konnten Sie frei spielen und fühlten Sie sich voll unterstützt in Ihrer Kindheit? Kindheitserfahrungen wie diese scheinen viel damit zu tun zu haben, ob es Erwachsenen gut geht und wie vernünftig und moralisch sie sich verhalten.

In einem Artikel im Journal „Angewandte Entwicklungsforschung“ der Universität Notre Dame zeigen Psychologin Darcia Narvaez und ihre Kollegen Lijuan Wang and Ying Cheng, dass Kindheitserfahrungen, die unsere evolutionären Bedürfnissen erfüllen, zu glücklicheren, reiferen und gesünderen Erwachsenen führen (Evolved Developmental Niche Provision Report: Moral Socialization, Social Thriving, and Social Maladaptation in Three Countries).

Narvaez schreibt, dass einer der Gründe, warum das Geschick der Kinder in den USA hinter das anderer Länder zurückfällt, darin besteht, das  „wir vergessen haben, dass wir sozial lebende höhere Primaten sind, die angeborene evolutionär entstandene Entwicklungsbedürfnisse haben“.

Die „Pfeiler“ der Entwicklungsnische

Wir Menschen entwickelten uns mit einer Kinderfürsorge, die dem Entwicklungsstand des Kindes entspricht, und es hat sich in 30 Millionen Jahren so  während der Evolution des Menschen entwickelt. „Wir nennen es die evolutionäre Entwicklungsnische“, so Narvaez.

Als Beschreibung dieser Nische nennt Narvaez folgende 6 Bedingungen:

  • Sanfte und beruhigende nachgeburtliche Betreuung,
  • prompte Reaktion auf im Verhalten oder in der Mimik erkennbare Bedürfnisse (vor dem Weinen!),
  • konstante physische Präsenz mit viel liebevollen Berührungen,
  • nach Bedarf Stillen,
  • spielerische Interaktionen mit Fürsorgern und Freunden und eine soziale Umgebung, die Kindern gegenüber generell freundlich, sensibel und zugewandt ist.

In einer intakten „Evolutionsnische“ entwickeln sich heile Persönlichkeiten …

Narvaez, Wang und Cheng baten Erwachsene, ihre eigene Kindheit auf diese „Evolutionsnischen-Bedingungen“ hin zu reflektieren: Wieviel liebevolle Zuwendung haben sie erhalten? Wie frei waren sie in ihrem Spiel, im und außer Haus? Wie häufig waren sie mit der ganzen Familie zusammen? Wie sehr und wie oft fühlten sie sich umfassend unterstützt?

Erwachsene, die mehr von dieser Art der elterlichen Begleitung genossen haben, sind seltener depressiv, haben weniger Ängste, eine höhere Fähigkeit zur Empathie und zeigen mehr Vertrauen und Zuneigung. Erwachsene, die weniger von diesen Bedingungen erfahren haben, sind psychisch angeschlagener, gestresster in sozialen Bedingungen und weniger fähig dazu, die Perspektive anderer einzunehmen.

… mit ethischer Haltung und moralischem Stehvermögen

„Unsere Forschung zeigt, dass, wenn wir Kinder nicht mit dem versorgen, was sie evolutionär bedingt brauchen, dann werden sie zu Erwachsenen mit verminderten sozialen Fähigkeiten und moralischem Stehvermögen“, schreibt Narvaez. „Mit toxischem Stress in der Kindheit verhindern wir das Wachsen guter Persönlichkeitseigenschaften und machen Menschen stressempfindlicher. Es ist schwer, einfühlsam zu sein, wenn man den Fokus nicht auf den anderen ausrichten kann. Wir sind umgeben von Erwachsenen, die zu häufig traumatisiert bzw. zu früh und zu lange mit Zuwendung unterversorgt waren“.

In früheren Veröffentlichungen haben Narvaez und ihre KollegInnen gezeigt, dass Kinder, die unter mehr von den genannten evolutionären Nischenbedingungen aufwuchsen, mehr Empathie, Selbstkontrolle und moralisches Empfinden aufwiesen. Narvaez, die im Jahr 2000 an die Universität Notre Dame kam, führt Studien zu moralischer Kognition, Entwicklung und Charakter durch. Mehr zu dem Thema Kinderbedürfnisse und Erwachsenenmoralkompetenz schreibt sie in dem Buch „Neurobiologie und die Entwicklung von Moral: Evolution, Kultur und Weisheit“, dem der William-James-Buchpreis 2015 der Amerikanischen Psychologischen Gesellschaft verliehen wurde.“

übersetzt von Dorothea Böhm