Aufgewachsen in einer alkoholkranken Familie schreibt Sabine Schütz über ihre eigenen Kindheitstage und wie sie sich im späteren Erwachsenenleben immer wieder einmal mit den Folgen ihrer Vergangenheit auseinandersetzen muss(te). Dabei hat sie in einem Brief an ihren Vater auch sprachlich ihren ganz eigenen Stil gefunden.
Aus dieser sehr subjektiven Schilderung wird das manchmal (sehr) belastete Erbe einer Kindheit in einer Alkoholiker-Familie sehr plastisch nachvollziehbar und soll Gesellschaft und Politik aufrütteln, das teilweise vorprogrammierte – und manchmal sehr leidvolle – Schicksal betroffener kleiner Kinder durch bessere und gezieltere Unterstützung zu verbessern bzw. zu verhindern.
Redaktion fürKinder
Darf es heute persönlich sein
Vater.
Du wärst heuer 80 Jahre alt geworden.
Im April.
Eigentlich wollte ich Dir bereits zu diesem Anlass schreiben.
Gedanken.
Zum Jubiläum.
Sozusagen.
Es hat ein klein wenig länger gedauert.
Ob Du wohl noch leben würdest. Wenn damals nicht dieser tödliche Unfall gewesen wäre. Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich nicht. Ich kann es mir auch gar nicht vorstellen. Dass Du noch da wärst.
Du warst ja schon damals – mit Mitte Vierzig und auch die vielen Jahre davor psychisch schwer erkrankt, alkoholabhängig, immer wieder aggressiv und gewalttätig.
Der Alkohol hätte in Deinen 80 Lebensjahren wahrscheinlich längst Dein Gehirn zerstört. Oder andere Organe. Oder Du hättest Dich vielleicht doch umgebracht. Wie Du dies immer öfter angekündigt hattest. In Deinen letzten Lebensjahren. Vor dem tödlichen Unfall. Oder Du hättest Schlimmeres getan. Oder wir hätten etwas getan. Gegen Dich. Ich weiß es nicht.
Du. Mein Vater. Der Säufer. Der Grantler. Der Aggressive. So viele meiner Kindheitserinnerungen. Nur zwölf Jahre lang in einem erkrankten System. Meine ersten zwölf Lebensjahre. Du. Mein Vater. Der Säufer. Der Gewalttätige. So auch viele Jahre später mein einziger Zugang zu Dir. Einmal. Daran kann ich mich gut erinnern. Das war etwa ein Monat vor Deinem Tod. Da haben wir einen ganzen Tag gemeinsam verbracht. Zusammen mit meiner Mutter. Und einer Tante. Da warst Du so, wie Kinder sich ihren Vater wünschen.
Gut gelaunt.
Lustig.
Ja sogar.
Übermütig.
Ich hatte den ganzen Tag über schreckliche Angst vor Dir.
Was würdest Du wohl heute dazu sagen. Wenn ich Dir das erzählen würde. Dass ich Dich damals wohl genauso sehr oder vielleicht sogar noch mehr gefürchtet habe, als wenn Du betrunken warst.
Warum ich ihn mir umgehängt habe. Wurde ich kürzlich gefragt. Diesen schweren Mantel des Alkoholikerkindes. Warum ich mich immer noch mit diesem Thema befasse. Obwohl dies doch immer wieder zu Belastungen in meinem Leben führen kann. Obwohl es manchmal sogar ausgrenzt. Obwohl es mir auch mitunter den Boden unter den Füßen wegzieht. Weil ich kritisch hinterfrage. Weil ich manchmal schonungslos bin. Auch mir selbst gegenüber. Und ja Vater. Ich tat auch das. Immer wieder einmal. Trinken. Und wenn. Dann oft zu viel. Die Voraussetzungen für eine Trinkerin hast Du mir mitgegeben. Weißt Du. Vater. Es war eine meiner größten Ängste. Alkoholabhängig zu werden. Wie Du. Doch Vater. Alkohol. Gehört nur noch ganz selten zu meinem Leben. Und wenn doch einmal. Dann in geringen Mengen. Genusstrinken nennt man das heute. Derzeit.
Ja. Ich habe mich immer wieder damit beschäftigt. Mit der Familienkrankheit Alkoholismus. Obwohl ich manchmal verzweifelt bin. Und. Obwohl sich mir hin und wieder einmal – vielleicht auch genau aus diesem Grund – die schädigenden Muster von früher in den Weg stellen.
Du siehst Vater.
Du bist doch immer in meinem Leben.
Obwohl Du schon so lange tot bist.
Ich konnte es wohl nie wirklich akzeptieren. Dieses krankhafte System. Dieses Schweigen. Müssen. Dieses. Das war eben so. Dieses. Nach außen hin so tun. Als sei alles in Ordnung. Und tat es trotzdem. Schweigen. Und tu es heute noch viel zu oft. Verbergen. Und doch. Ich war wohl immer wieder eine Rebellin. Bockig auch. Schon als junges Mädchen. Und doch auch. Immer wieder gefangen. Mein Kriegsschauplatz aus Kindertagen ist mir auch in meinem Erwachsenenleben hin und wieder zum Gefängnis geworden. Vater. War es bei Dir auch so. Hattest Du auch diesen. Deinen Kriegsschauplatz. In den Du uns dann alle mit hineingezogen hast.
Warum ich ihn mir also umgehängt habe. Diesen schweren Mantel des Alkoholikerkindes. Vielleicht ist es ja das „Vermächtnis“ meiner Familienkrankheit Alkoholismus, welches mich immer wieder zum Handeln antreibt. Denn. Weißt Du. Vater. Auch wenn ich mir das viele Jahre lang gewünscht habe. Auch immer wieder eingeredet. Eben weil ich mich ja auch so sehr mit dem Thema auseinandergesetzt habe. Dass ich eine von denen bin. Die es unbeschadet geschafft haben. Resilient eben. So gehöre ich doch zu den zwei Drittel jener Kinder, die immer wieder einmal in den Krieg ziehen müssen. Die versuchen. Schlachten zu gewinnen. Gegen schädigende Muster. Gegen schädigende Menschen. Gegen sich selbst. Bisher. Erfolgreich.
Denn. Weißt Du. Vater. Ganz plötzlich kann es passieren. Dass er weggezogen wird. Der Boden. Unter den Füßen. Und plötzlich ist sie da. Diese Störung. Diese Krise. Diese Erkrankung.
Und wie es bei manchen Personen eine organische ist. Krebs vielleicht. Ist es bei manchen Personen eine psychische. Depression vielleicht. Diese eine. Diese häufig gestellte Frage bei solch erkrankten Menschen unterscheidet sich meist nur durch ein einziges Wort.
Während sich eine Person mit einer Krebsdiagnose fragt.
Ob sie jetzt sterben muss.
Frage ich mich während so einer Zeit.
Ob ich jetzt sterben darf.
Doch eigentlich.
Wollen wir beide.
Leben.
Denn. Wie bei Krebserkrankungen die Zellen von gesunden in kranke verändert werden mit dem Versuch, den eigenen Körper auf diese Weise zu zerstören, werden bei psychischen Erkrankungen Gedanken von „Metastasen“ und „Tumoren“ befallen, manipuliert, verbösartigt. Bis sie die Person völlig unter Kontrolle haben. Bis sie diese von ihrem sozialen Umfeld völlig isoliert haben. Und die betroffene Person nur noch eines will. Den eigenen Körper zerstören. Vernichten.
Denn beide Krankheiten haben häufig ein gemeinsames Ziel.
Den Tod.
Ja Vater. Heute weiß ich. Dass Du diese Manipulation auch gekannt hast. Und ich weiß auch. Die Auswirkungen damals für mich als Dein kleines Kind waren schlimm. Und ja. Ich habe sie in den letzten drei Jahren niedergeschrieben. Meine Familiengeschichte. Ich habe mich auf die Suche gemacht. Auch nach Deinem Leben. Ja. Vater. Besonders nach Deinem Leben. Von dem ich so gut wie nichts wusste. Ich habe versucht. Dich kennenzulernen. Das kleine Kind kennenzulernen. Das Du einmal gewesen bist. Ich habe die Zimmer von meinem Zuhause durchleuchtet. Ausgeleuchtet. Und auch. Die Umgebung. Das soziale Umfeld. Die Gesellschaft. Die Politik. Die Alkoholindustrie. Als erwachsene Tochter nun. Und es hat doch vieles verändert. Es hat mich. Was Dich betrifft. Milder werden lassen. Denn. Es hat Dich immer mehr menschlich werden lassen. Es hat Dich für mich auch immer mehr zu einer zutiefst verletzten Kinderseele werden lassen.
Und so möchte ich Dir gerne zu Deinem 80. Geburtstag sagen. Auch wenn ich froh bin. Dass Du nicht mehr da bist. In meinem Leben. So möchte ich Dir doch sagen. Als Erwachsene nun. Dass es mir leidtut. Was Du selbst erleiden musstest. Und dass es mir wehtut. Was Du mir als kleines Kind angetan hast. Und doch. Hatten wir etwas gemeinsam. Genau das. Was ich eben – wie auch immer mehr Personen – für andere Betroffene und ganz besonders für die kleinen Kinder ändern möchte.
Wir hatten beide keine Hilfe. Und. Im Gegensatz zu heute. Wir hatten auch keine Chance damals. Welche zu bekommen. Und wir schwiegen. Und wir verbargen.
Und ich schweige.
Und ich verberge.
Noch heute.
Viel zu oft.
Als würde es noch immer gelten.
Dieses oberste Gesetz.
Der Alkoholikerfamilien.
Schweig.
Still.
Du siehst Vater.
Du bist doch immer in meinem Leben.
Obwohl Du schon so lange tot bist.
Doch Schweigen.
Über Tragisches in der Vergangenheit.
Wird nie zu einer Verbesserung führen.
Nicht in der Gegenwart.
Und nicht.
In der Zukunft.
Das wissen wir doch beide.
Nicht wahr.
Weißt Du.
Ich habe Dir verziehen.
Vater.
Auch das möchte ich Dir sagen.
Nein.
Ich denke.
Das möchte ich Dir schenken.
Und auch mir.
Zu Deinem Jubiläum.
Wo immer Du auch jetzt bist.
Ich weiß.
Es hat lange gedauert.
Aber vielleicht hat es auch gar nicht so lange gedauert.
Denn.
Ich hätte das niemals gedacht.
Dass ich Dir je vergeben würde.
Von Wut und Hass ausgefüllt.
Eine traurige und verletzte Kinderseele.
War ich.
Über viele Jahre lang.
Doch ja Vater.
Ich weiß.
Meine Vergangenheit ist unveränderbar.
Unsere gemeinsame Vergangenheit ist unveränderbar.
Doch ich kann sie ins Licht stellen.
Und sichtbar machen.
Um vielleicht.
Eine bessere Zukunft zu gestalten.
Für die vielen unschuldig betroffenen Kinder.
Welche wir beide auch einmal waren.
Vater.
Ich hoffe.
Du treibst mich an.
Weiterzumachen.
Denn manchmal.
Ja manchmal ist er tatsächlich zu schwer.
Dieser Mantel.
Dann muss ich ihn beiseitelegen.
Und wieder versuchen.
Mich der bunten Vielfalt.
Meines jetzigen Lebens zu widmen.
Doch Vater.
Ich hoffe.
Du machst mich mutig.
Mein Schweigen.
Immer mehr zu brechen.
Für uns beide.
Um zu verändern.
Zum Positiven.
Für die vielen betroffenen Kinder.
In alkoholbelasteten Familien.
Denen ich so sehr wünsche.
Dass sie die hilfreiche Unterstützung bekommen.
Die sie oftmals so dringend benötigen.
Und weißt Du Vater.
Auch wenn ich ihn mir immer wieder umhänge.
Diesen schweren Mantel des Alkoholikerkindes.
So bin ich heute.
Meistens.
Doch.
So.
Viel.
Mehr.
© Sabine Schütz | www.fingerzeig.at | kinder@fingerzeig.at | August 2022