In die Schatztruhe geschaut, Kinder geben Zeichen - Foto plainpicture©neuebildanstaltSeit über zwanzig Jahren arbeite ich in den ambulanten Hilfen zur Erziehung, einer Leistung aus dem Spektrum der Kinder- und Jugendhilfe, die es in ihrer Ausgestaltung erlaubt, an die jeweiligen Bedarfe und Möglichkeiten einer Familie angepasst zu werden. Wer nur den Gesetzesartikel kennt, wird kaum vermuten, wie die Umsetzung in der Praxis aussehen kann.

KINDER GEBEN ZEICHEN!

Es sind oft die Kinder, die durch ihr Verhalten in Kita oder Schule auffallen und signalisieren, dass zuhause etwas nicht stimmt. Manche Kinder sind auffallend hilfsbereit oder besonders schweigsam, andere zeigen selbstschädigende Verhaltensweisen, sind leicht reizbar oder fast täglich in Schlägereien verwickelt. Oft verhalten sich Kinder in der Schule oder der Kita komplett anders als zuhause und Eltern können sich gar nicht vorstellen, dass ihr Kind, das zuhause kaum zu bändigen ist, in der Schule schweigsam und verträumt wahrgenommen wird und sich nicht am Unterricht beteiligt.

Bei den Grünbergs* war es umgekehrt. Die 8-jährige Bella war zuhause lieb und fürsorglich, in der Schule geriet sie täglich mit anderen Kindern in Streit. Frau Grünberg hatte schon zwei Mal ihren Arbeitsplatz vor Dienstschluss verlassen müssen, um ihre Tochter aus der Schule abzuholen. Die alleinerziehende Mutter von drei Kindern wurde zunehmend gereizter und zuhause wurde es immer ungemütlicher. Der 15-jährige Lenni hatte angefangen zu kiffen, und die 14-jährige Sophia verkroch sich tagelang in ihrem Zimmer. Einmal war Frau Grünberg in einem heftigen Streit sogar die Hand ausgerutscht. Da beschloss sie sich Hilfe zu holen und ging zur Familienberatung und dann zum sozialpädagogischen Dienst des Jugendamtes.

Ob wir uns in schwierigen Situationen Hilfe holen oder ob wir denken, alles alleine stemmen zu müssen, hängt unter anderem davon ab, was uns über das Helfen und die Hilfebedürftigkeit vermittelt worden ist und wie wir Hilfeprozesse erlebt haben.

HILFE HOLEN WILL GELERNT SEIN

Frau Grünberg war früh Mutter geworden. Das Leben mit den Kindern brachte großes Glück, aber der Familienalltag war auch mit vielen Schwierigkeiten verbunden. Die Probleme zwischen ihr und dem Vater der Kinder führten schließlich zur Trennung und dass die beiden trotzdem als Eltern für die gemeinsamen Kinder sorgen können, schien lange unmöglich.

Die Familie hatte oft Besuch vom Jugendamt und Frau Grünberg wusste, dass die häusliche Situation mehr als einmal grenzwertig gewesen ist. Die zuständige Sozialarbeiterin nahm sich jedes Mal Zeit. Sie hörte zu, ließ die Erwachsenen und auch die Kinder zu Wort kommen, machte Lösungsvorschläge, berücksichtigte die Einwände und Wünsche der Beteiligten und gemeinsam ist es jedes Mal gelungen, wirklich hilfreiche Hilfepläne zu erstellen.

Kinder brauchen Räume, in denen sie ihr Leben, so wie sie selbst es erfahren und deuten zum Ausdruck bringen können, Menschen, die ihnen zuhören und Erwachsene, die ihnen erklären, was geschieht, in einer Sprache, die es Kindern ermöglicht sich zurechtzufinden.

 „Ein ganzes Buch könnte ich schreiben!“

In die Schatztruhe geschaut, Schreibwerkstatt- Foto © Mechthild RömerDiesen Satz habe ich von Frau Weber gehört, von Frau Grünberg und von anderen Müttern und Vätern, die mir in meiner Berufspraxis begegnet sind und auch ich könnte ein ganzes Buch schreiben, gefüllt mit bewegenden und berührenden Geschichten, die mir die Menschen anvertraut haben. So wie Frau Grünberg, die ihren Kindern niemals etwas zumuten wollte, das sie selbst als traumatisierend in ihrer eigenen Kindheit erlebt hatte und doch war sie mitten im Wiederholungsprogramm gelandet. Die kleine Bella hatte beobachtet, wie ihre Mutter von ihrem neuen „Freund“ beschimpft, beleidigt und geschlagen wurde. Mit ihrem auffälligen Verhalten in der Schule hatte die Achtjährige dafür gesorgt, dass ein Veränderungsprozess in Gang kommen konnte und wir im Rahmen einer sozialpädagogischen Familienhilfe tätig wurden.

Zwei Jahre brauchte es, bis es allen Familienmitgliedern deutlich besser ging und sie auch wieder miteinander redeten. In dieser Zeit hatten mein Kollege und ich in unterschiedlichen Konstellationen Gespräche geführt, die von erlebnispädagogischen Interventionen begleitet wurden.

Ich verabschiedete mich mit einem kleinen Büchlein aus meiner Schreibwerkstatt, in dem ich die Highlights der Zusammenarbeit festgehalten und auch die Kopie einer gemeinsam erstellten Familienzeichnung eingefügt hatte. Die Mutter, der getrennt lebende Vater, die Großeltern, Bella und ihre Geschwister waren als Blumen, Bäume, Tiere oder Symbole dargestellt und zu jeder Person gab es Anmerkungen zu ihren positiven Eigenschaften oder Fähigkeiten.

Lenni, Sophia und Bella haben gelernt: Es ist kein Scheitern, sondern eine Kompetenz, wenn man sich in schwierigen Zeiten Unterstützung holt.

ALLES HÄNGT IRGENDWIE MITEINANDER ZUSAMMEN

In die Schatztruhe geschaut, Lebensbereiche - Foto © Mechthild RömerManchmal haben wir das Gefühl von einer Glückssträhne gesegnet zu sein und manchmal scheint alles schief zu laufen oder die Probleme sind so miteinander verknotet, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll. So geht es auch vielen Familien, wenn ich sie kennenlerne. Am Anfang meiner Tätigkeit steht ein Problem, es gibt Schwierigkeiten im familiären Miteinander und nun kommt es darauf an, in einer verlässlichen Arbeitsbeziehung, die gewünschte Veränderung zu erreichen. Ich schaue in den Alltag und das Leben fremder Familien hinein und beobachte die Wechselwirkung verschiedener Lebensbereiche. Ich beobachte auch, wie Berufliches in das Private hineinwirkt und umgekehrt. Für Menschen in pädagogischen und therapeutischen Berufen ist diese Selbstbeobachtung ausgesprochen wichtig. Insbesondere dann, wenn ein Thema uns auf besondere Weise berührt, lohnt es sich genauer hinzuschauen und zu fragen, worum geht es hier genau? Das eigene Gewordensein zu verstehen, die eigenen Handlungsmuster und deren Veränderungspotenzial zu erkennen, nennt man auch biografische Kompetenz. Sie gilt als Schlüsselqualifikation, entwickelt sich prozesshaft und ist ausgesprochen hilfreich überall dort, wo Menschen mit Menschen in Beziehung gehen, beruflich und privat. Es gibt zahlreiche Methoden für die aktive Beschäftigung mit dem eigenen Gewordensein und dem eigenen Noch-werden-können und es ist nie zu früh oder zu spät sich der eigenen Geschichte zuzuwenden.

Biografiearbeit ist immer freiwillig, wird nicht bewertet und gibt Orientierung.

KREATIVE BIOGRAFIEARBEIT

Lebensbücher „Mein Buch über Mich“

In die Schatztruhe geschaut, Lebensbuch - Foto © Mechthild RömerDie Workshops „Mein Buch über Mich“ führe ich am liebsten an drei aufeinanderfolgenden Tagen durch, wenn möglich in Kombination mit einem „Erzählsalon“. Das Angebot ist geeignet für Menschen ab etwa 9 Jahre. Jede und Jeder gestaltet die Seiten für das persönliche Lebensbuch. Es wird gemalt, geschrieben, gezeichnet, collagiert, zusätzlich können Fotokopien eingefügt werden, und zu den Bewegungspausen gibt es (zumindest außerhalb von Corona) einen Platz für Fragen und Gespräche bei Saft oder Tee und Gebäck. Am Ende werden die Blätter, mit einer ganz einfachen Technik, zu einem Buch gebunden. Das besondere ist, dass nicht jedes Blatt das gleiche Format hat. Große Blätter werden so gefaltet, dass sie ins Buch passen, verziert und beschriftet und eine gewöhnliche Seite bekommt einen ganz besonderen Zauber.

Erinnerungsbücher „Von Mir für Dich über Uns“

In die Schatztruhe geschaut, Erinnerungsbuch - Foto iStock © shapechargeAls ich vor etwa zehn Jahren über den Zeitraum eines Jahres ein Buch für einen geliebten Menschen gestaltete, konnte ich die heilsame Kraft der Biografiearbeit besonders intensiv am eigenen Leib erfahren. In zwölf Monaten sind zwölf Seiten entstanden mit Beschreibungen zu dem was mich bzw. uns gerade bewegte, dem Rückblick auf die gemeinsam gelebte Zeit und dem Ausblick auf Chancen, die noch in der Zukunft liegen. Am Ende hielt der Mensch, um den es hier ging, ein liebevoll gestaltetes und einzigartiges Buch mit guten Erinnerungen, hilfreichen Gedanken und Zuversicht auf das was kommt in der Hand und ich hatte ein Jahr lang die Gelegenheit genutzt, Dinge, die noch zu fragen oder klären waren, aus dem Weg zu räumen und wir beide konnten uns einem neuen Lebensabschnitt und neuen Entwicklungsaufgaben zuwenden. Erinnerungsbücher eignen sich um Übergangsphasen zu dokumentieren, dies kann ein Umzug sein, der Wechsel zur Oberschule, Trennung der Eltern oder auch den Umgang mit Krankheit und Sterbeprozesse begleiten, wie der Film „damit du mich nie vergisst“ über die Memory-Books aidskranker Mütter in Uganda an ihre Kinder zeigt.

Gemeinsame Bücher „Von Uns über Uns“

Die Umsetzung dieses Formats in strukturierter Form steht noch bevor. Im Februar 2022 werde ich ein Projekt starten, in dem Großeltern mit ihren Enkelkindern eingeladen sind, Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Verbindendes zu Papier zu bringen. Ich bin gespannt.

Wer gerne mit bastelt, wird reichlich Anlässe für die gemeinsame Gestaltung eines Büchleins finden: Geburtstage, Reisen, Ausflüge oder auch gemeinsame Aktivitäten wie Spielen in der Natur, im Garten und drinnen. Basteln, Kochen, Musizieren oder Übernachtungen bei Oma und Opa bieten oft reichlich Material.

Familienmemory/Erzählmemory

In die Schatztruhe geschaut, Memory - Foto © Mechthild RömerIch bin eine, die es mag, wenn am Ende eines gemeinsamen Prozesses etwas bleibt, zum Anfassen und zum Anschauen. Das kann eine Collage sein, ein Leporello oder ein Brief, in dem das Miteinander, die Zusammenarbeit reflektiert und dokumentiert wird.

♥   Der Sohn meiner Nachbarin bestellte ein Frieda-Memory bei mir. Frieda war der Name seiner Katze. Den Wunsch erfüllte ich ihm gern.

♥   Bei Familie Grubisch, die ich in Form der sozialpädagogischen Familienhilfe (Teil der ambulanten Hilfen zur Erziehung) unterstützte, war es etwas aufwändiger. Wir hatten einen ganzen Monat Zeit, um uns einem würdigen Abschied zu widmen. Ein neuer Kollege war nicht nur angehender Sozialarbeiter, sondern auch erfahrender Fotograf, und die Familie war offen für Experimente. Also lud ich zum Fotospaziergang ein, wählte mit der Familie zwölf Bilder aus, die ich auf das bekannte Memoryformat zuschnitt, auf dickes Papier laminierte und fertig waren die Spielkarten. Hübsch verpackt, in einem mit der Tochter gebastelten Kästchen. Mein Abschlussbericht fiel in diesem Fall aus der Norm, waren doch vier Fotos vom Familienfotospaziergang eingefügt.

♥   Und zur Hochzeit ihrer Tochter stellte meine Freundin ein Memory mit ausgewählten Kinderfotos des Brautpaares und Aufnahmen aus der gemeinsamen Zeit zusammen, die Bilder ließ sie in einer kleinen Druckerei auf runde Unterlagen pressen.

von Mechtild Römer

*alle Namen wurden geändert