Mein besonderes Kind - Foto iStock © mdmillimanEin bewegender und ungeschminkter Bericht einer Mutter über die (Irr-)Wege einer Familie mit einem Kind, das aus dem Rahmen fällt, im Labyrinth deutscher Sozial- und Hilfesysteme. Wir haben hier ganz bewusst auf jeden redaktionellen Eingriff verzichtet, um die subjektive Betroffenheit und die zornige, daher oft pauschale Abrechnung der Mutter mit den Behörden und Instanzen nicht zu verwässern.

Da solche „Fälle“ und die Sichtweise der Betroffenen immer wieder vorkommen, ja in vieler Hinsicht „typisch“ sind, andererseits aber natürlich manche Vorgänge aus Sicht der handelnden Personen in den Institutionen anders beurteilt werden müssten, haben wir Dr. Herbert Renz-Polster, Kinderarzt, Wissenschaftler und Buchautor um einen „Blick von außen“ auf diesen Bericht gebeten. Seine Anmerkungen im Anschluss an den Erfahrungsbericht der Mutter.

SILAS WAR ANDERS

Silas war irgendwie anders. Er mochte keine Bücher und wollte auch von Liedern nichts wissen. Machte er seinen Mund auf, kroch selten ein Wort heraus. Drei Jahre lang war das auch nie ein Problem für uns, dann ist unser Kind eben nicht gemäß Tabelle und von Fremdbetreuung hielten mein Mann und ich ohnehin nichts. Doch plötzlich ging alles ganz schnell, wir verloren die Kontrolle und fremde Menschen nahmen das Ruder unserer Familie in die Hand.

ALLEIN UNTER UNS

Eigentlich war nicht nur unser Sohn etwas anders, unsere ganze Familie fiel durch das gesellschaftliche Raster: Keine Fremdbetreuung, gemütliches Familienbett und Stillen, bis unser Sohn eben nicht mehr wollte. All das und unser wortkarger Junge entsprach irgendwie nicht der Norm, weshalb es auch wenige Familien wie uns gab. Erst recht nicht in den hiesigen Spielgruppen, die erstaunlicherweise damit warben, die Eltern-Kind-Bindung zu stärken.

Silas fiel zwar auf durch seine Freude an Bewegung und dem großen Interesse für Neues, konnte aber den Anforderungen einer Spielgruppe immer seltener gerecht werden. Er wollte eben lieber toben, klettern und mit Spielzeug spielen, als den fröhlichen Klatsch- und Singspielen beizuwohnen. Gab ich ihm ein Spielzeug seiner Wahl, störte das die Gruppe, da es ja auch noch andere Kinder gab, die sich ebenfalls gerne dazu hinreißen ließen. Dass er am Ende einer solchen Stunde hungrig war und wir, statt mit den anderen aufzuräumen, erst einmal nach Bedarf gestillt haben, hat sicher auch seinen Beitrag geleistet. Bereit meine Philosophie deshalb zu ändern, war ich nicht, da Toleranz für mich nur eingeschränkt möglich war – ich denke, es ging anderen Müttern mit mir genauso.

Mit etwa zwei Jahren gingen so langsam die letzten Eltern-Kind-Kurse zu Ende. Da gab es dann den Mini-Kindi, bei dem die Eltern für zwei Stunden gehen und ihr Kind abgeben können – für unseren Sohn undenkbar, so ganz ohne Mama. Also blieben mein Sohn und ich oft unter uns.

Bis 15:00 Uhr sind die Spielplätze nahezu leer gefegt und mit dem gleichaltrigen Nachbarjungen stand Silas in lebhafter Konkurrenz, wobei mein Kleiner oft den Kürzeren zog. Zwar hatten die beiden Interesse aneinander, konnten aber irgendwie nichts damit anfangen. Die Erwartung, dass die Kinder in diesem Alter so schön miteinander spielen ist doch eher eine Hoffnung, um besorgte Mütter in der Kita mit einem guten Gefühl zu entlassen.

Die Zeiten bei uns zuhause, in denen mein Sohn schlief, habe ich gerne mit Lesen verbracht. Die Bücher von Wolfgang Bergmann, Carlos González oder Rüdiger Posth haben mich in meinen Wünschen und Vorstellungen von einer glücklichen Kindheit bestätigt. In diesen kurzen Momenten des Tages wusste ich, dass ich eine tolle Mama bin und dass unser Sohn ein richtig liebenswerter kleiner Junge ist, der sich selbst ehrlich mag und seine Umwelt auch.

ENDLICH EIN GESCHWISTERCHEN

Dieser kleine Junge hing nun fast drei Jahre fest an meinem Rockzipfel. Er gehörte zu den Kindern, die zwar einfach losliefen, ohne sich auch nur einmal umzudrehen, aber Mama dürfte auf keinen Fall weggehen. Das gestand ich ihm auch zu, soweit es mir als Hausfrau und Mutter möglich war, also immer, Tag und Nacht.

Mit der Geburt seines kleinen Bruders im November 2014 änderte sich schlagartig unser kleines Familienleben.

Schockiert über die neuen Zustände wurde Papa schnell zum Ideal der abenteuerlichen Unternehmungen und das Abschiedsküsschen für Mama wurde eingeführt. Unser Großer nahm erstaunlich gut seine neue Position ein, der er mit seinen fast drei Jahren gewachsen schien. Es gab für mich also gar keinen Grund seine Entwicklung in Frage zu stellen.

An zwei Personen in meinem näheren Umfeld konnte ich gut sehen, was mit einem Menschen passiert, der von Kindesbeinen an wegen auffallender Defizite wie die Aggression eines Kleinkindes, Sprachverzögerung oder Allergien von Arzt zu Arzt geschleift wird. Bei beiden Personen sind heute weitgreifende Selbstwertmängel zu erkennen und nach Aussage hält sich keiner von beiden für „geheilt“. Kurzum, es gab für uns nichts zu verlieren, wenn man ganz einfach in den natürlichen Gang der Dinge vertraut.

Dass es sich bei dieser Ärzteschleiferei nicht um ein Relikt der 80ger Jahre handelte, sondern lediglich um eine Vorstufe von massiver Kindermodifikation, sollte mir noch klar werden.

AUF DEM SINKENDEN SCHIFF

Dann kam der Kindergarten, als Silas gerade drei Jahre alt geworden war.

Dass er nicht sprach, war auf einmal ein sehr großes Problem. Nicht für uns, aber für die Einrichtungen. Einen Platz im Waldkindergarten verloren wir, weil die Betreuerinnen nur noch zu zweit waren, davon eine Jungfachkraft. Der andere Platz war in einem Regelkindergarten, in dem mir einerseits der Umgang mit den Kindern nicht gefiel und sich unser Sohn ausgrenzte. Eine Bezugsbetreuerin war nicht in Aussicht. Mir wurde nahegelegt mich doch einmal bei dem Kindergarten für behinderte Kinder zu bewerben, da könne man besser auf den Jungen eingehen.

Ich habe bis jetzt noch keine einzige Kindergärtnerin getroffen, die zugesteht, dass ein Kind zuhause besser aufgehoben sein könnte, als in einer Einrichtung. Es war beschämend, dass diese Leute keinen Funken Respekt vor den emotionalen Bedürfnissen eines Kindes hatten. Dass eventuell eine unzureichende Ausbildung über die psychische und emotionale Entwicklung eines Kindes das Problem sein könnte, zog niemand in Erwägung. Und was in meinen Augen besonders fehlt ist die natürliche Mutterliebe, deren Nähe und Instinkt niemals durch Ausbildung ersetzt werden kann. Natürlich musste es stattdessen an meinem Sohn liegen, der stillschweigend zum Problemkind erklärt wurde.

Ich habe dann lange vor dem Computer gesessen und recherchiert. Und siehe da: Ein Kind muss mit drei Jahren noch gar nicht reif für den Kindergarten sein – sehr gut, es passte wieder alles, zumindest für den Augenblick.

WAS IST „NORMAL“?

Wenn ein Kind so ganz anders aufwächst als die meisten Kinder in unserer Zeit und dann noch zusätzlich irgendwie anders ist, ist es unheimlich schwierig überhaupt einzuschätzen, was „normal“ ist und was nicht. Selbst unser Kinderarzt ließ sich ungern zu einer Aussage hinreißen.

Deshalb erhielten wir eine Überweisung zum Sozialpädiatrischen Zentrum, wo ich mir durch die Vielfalt der Experten eine eindeutigere Aussage erhoffte. Eine Stunde logopädischer Beurteilung verlief ganz gut, Silas liebt neue Zimmer voller Spielsachen und ging auf die Kontaktaufnahme der Logopädin gerne ein. Ihre Fangfrage mit dieser falschen, mitleidigen Stimme, dass ich schon viel Arbeit mit dem Haushalt und den Kindern hätte, beantwortete ich souverän mit:  „der Haushalt steht hinten an“. Denn wäre ich stöhnend darauf eingegangen, gehe ich davon aus, dass eine Überforderung meinerseits dokumentiert worden wäre – hätte ja super ins Bild gepasst: Das verwahrloste Kind.

Der zweite Termin war beim Professor. Da sich unser Sohn auf die nette Frau in dem schönen Spielzimmer gefreut hatte, war der Widerwille groß, als er in dieses kalte Untersuchungszimmer gebracht wurde. Spielzeug schien hier überflüssig und die körperliche Untersuchung erfolgte trotz starker Gegenwehr meines Jungens.

Einige Tage später kam der Bericht, der unseren Sohn geradezu auf Autismus zuschneiderte: Er könne angeblich nur an den Händen gehalten die Treppe im Wechselschritt laufen und habe keine Freude an gemeinsamen Unternehmungen, auch wenn es sich um seine Interessen handele. Natürlich mit dem Verdacht auf frühkindlichen Autismus und dem dringenden Bedarf der Eingliederung in einen Kindergarten. Jedoch war das Gegenteil der Fall und ich forderte den Professor umgehend auf, den Bericht zu korrigieren. Er habe alles minutiös notiert – seltsamerweise hieß mein Sohn zwischendrin plötzlich Benedikt – und er stelle mir frei den selbst korrigierten Bericht an Therapeuten weiterzureichen, ändern würde er den Bericht nicht mehr. Meine Schwiegermutter kommentierte die „Diagnose“ mit den Worten, dass nun alles bestätigt sei, was wir alle bereits wussten. Sie schien auch Expertin für Ferndiagnose ‘Autismus’ zu sein. Der Bericht landete im Müll.

Daraufhin kaufte ich mir Bücher über Autismus, wie „Buntschatten und Fledermäuse“ oder „Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann“, aber ich konnte meinen Sohn nicht annähernd wiedererkennen. Sein großes Sozialinteresse, seine Frusttoleranz, seine Anpassungsfähigkeit und besonders seine Sportlichkeit entsprach absolut nicht dem Bild eines Autisten. Und trotzdem ließ ich mich immer mehr auf das Ärztespiel ein.

DAS ÄRZTESPIEL GEHT WEITER

Wir erhielten ein Rezept für Logopädie mit Verdacht auf Autismus und ein Rezept für Ergotherapie, mit dem Hinweis “Therapie für Autismus”. Man machte sich nicht einmal mehr die Mühe der Diagnose die zwei für eine Mutter entscheidenden Worte „Verdacht auf“ hinzuzufügen.

Bei der Ergotherapie wurden seine Hände im Spiel geführt, damit er die Bewegungen lernt. Er sollte zuhause nur noch an genau einer ganz bestimmten Stelle angezogen werden und wenn er nicht mehr woanders angezogen werden möchte, sei das der Erfolg.

Anmerkungen wie „Das wirke am Anfang etwas militant, man müsse dabei authentisch bleiben“ oder Geschichten von autistischen Kindern, die schreiend unterm Tisch sitzen, lösten bei mir keinen Bezug auf uns aus und wurden einfach unter „Fragezeichen“ bei mir abgelegt.

Am Ende der dritten Stunde wollte unser Sohn sich seine Jacke nicht anziehen lassen. Das ging so weit, dass er zum Schluss schreiend am Boden lag und die Therapeutin ihn versuchte in die Jacke zu zwingen. Als ich sagte, er ziehe sie doch eh gleich wieder aus, ließ sie ihn los.
Ich war sprachlos, die Situation entglitt mir und ich fühlte mich ohnmächtig, ausgeliefert, ein Gefühl aus meiner Kindheit, das mich stark vereinnahmte.

Grenzen wurden durchbrochen, die wir erst erkennen konnten, als es schon geschah. Mir fiel auf, dass unser tägliches Leben nur noch aus Beurteilungen bestand, einem andauernden, flüchtigen Versuch einzuordnen, einzuordnen, einzuordnen.

Diese Therapeutinnen wirken allgemein sehr freundlich, gehen den Kindern entgegen und bauen ersten Kontakt auf. Da ist nichts Abschreckendes, nichts was einen ehrlich darauf hinweist, was als nächstes passiert. Diese „Helfer“ wenden ihr medizinisches Wissen an, um den Kindern Gutes zu tun, um ihnen die bestmögliche Integration zu verschaffen. Also spielten wir Eltern irgendwie mit.

ABA, kurz für Applied Behaviour Analysis, nennt sich die Therapieform, die nun auch unser Sohn bekommen sollte. Sie gilt in medizinischen Kreisen als sehr wirksam, da diese Kinder viel besser an das Verhalten normaler Kinder angepasst sind, was in Tests deutlich bewiesen wurde. Ich habe mich erneut vor den Computer gesetzt und ausgiebig informiert. In einem Forum für Autismus wird diese Methode an Kleinkindern von Autisten selbst als Dressur und Folter bezeichnet, da sie, wie viele andere Methoden unserer aufgeklärten Zeit, das Kind passend macht ohne Rücksicht auf das Recht des Menschen auf persönliche Entfaltung und emotionale Unversehrtheit. In diesem Zusammenhang habe ich mich an das Buch “Der Luzifer-Effekt” von Dr. Zimbardo erinnert, das diesen allzu leichten und unauffälligen Übergang von Recht zu Unrecht deutlich macht. In Antworten auf meine Frage, was ihnen, den Autisten, im Leben am meisten Mut und Stärke gäbe, waren das dort übrigens immer die Menschen, bei denen sie sie selbst sein dürften, sich akzeptiert und angenommen fühlten.

VERZWEIFLUNG

Mir wurde immer schlechter, meine Gedanken konnten sich nicht mehr lösen und kreisten in vielen schlaflosen Nächten nur noch um das eine Thema: Wie soll es weitergehen? Was ist richtig, was ist falsch? So viele Fragen und niemand, der mir eine Antwort geben konnte. Eins war klar, die Fachwelt hatte noch viel weniger Ahnung von unserem Sohn als wir selbst. Schwerwiegende Fehleinschätzungen und seine überbewerteten Defizite standen im Mittelpunkt, während seine Fähigkeiten, seine Hingabe zu seinen Hobbys wie Insekten oder Flugzeugen und seine feine freundliche Körpersprache ignoriert und im ganzen Bild nur zu fahlen Schatten wurden. Angeblich würde er kein Wort verstehen, obwohl ich und mein Mann sehr oft den Eindruck hatten, und dass er nicht prompt auf Fremde hört, finde ich eher angemessen als ungewöhnlich.

Dieser Junge, auf den ich so stolz bin, mit seiner ruhigen, manchmal zu erwachsenen Art, mit seinem in sich gekehrten Schweigen, mit seiner Sehnsucht nach Liebe und mit seinem kindlichen Lachen, das wie eine Erinnerung an glückliche Tage klingt.

Irgendwann wurde es unerträglich, fast keine anderen Themen gab es noch zwischen meinem Mann und mir, meine innere Unruhe, die fast hysterische, nicht greifbare Rastlosigkeit zeigten mir, dass hier gerade etwas ganz falsch läuft. Es war ein erbarmungsloses Gefühl, wie sich die Welt gegen uns zu stellen schien. Verantwortungslose Stigmatisierung vergiftete unsere Gemeinschaft.

SCHLUSSSTRICH

Es war mein Mann, der den Schussstrich zog. Er sagte, dass dies alles nur noch Unruhe in unsere Familie bringe und beendete alles: Keine Ergo, keine weiteren Termine, keine Ärzte mehr, es war genug, es war schon mehr als genug. Lediglich die Logopädie führten wir mit gemischten Gefühlen fort. Als die Therapeutin allerdings ohne Absprache und auch ohne unseren Willen eine Loslösung von der Mutter herbeiführen wollte, brach ich auch diese Maßnahme ab.

Abgesehen davon, dass ich entwicklungspsychologische Eingriffe einer Fachkraft, die hierfür unzureichend ausgebildet ist, überhaupt nicht schätze, war die Empfehlung im Bericht zu Logopädie, Ergotherapie, Frühförderung und dringendste Eingliederung in einen dem Entwicklungsstand entsprechenden Kindergarten, ein wahrer Rundum-Sorglos-Komfort-Wochenplan für ein dreieinhalb Jahre altes Kind, das nicht den Qualitätsstand der Deutschen Industrienorm erfüllt. Ich empfand es zutiefst demütigend und beleidigend, wie mit dieser Empfehlung die Funktion und der emotional Halt unserer Familie herabgewürdigt wurde und die Notwendigkeit der Betreuung und Förderung durch ausgebildete Fachkräfte unseren Sohn zu was auch immer machen sollten.

Dass unsere Weltbevölkerung in der Zukunft ganz andere Probleme hat als das Bruttosozialprodukt, wie die Übersäuerung der Weltmeere, stellt diese Methoden und Ansichten zusätzlich in ein Licht der Perversion.

Es wurde klar, dass ein Kind nicht einfach zum Therapeuten geht und, bis auf das Sprechen, bleibt wie es ist. Es wird nicht wie in der Autowerkstatt der Anlasser gewechselt und alles ist wieder gut. Es handelt sich immer um einen Eingriff in die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen, dessen Folgen aus wissenschaftlicher Sicht aus jedem Einzelfall heraus unabsehbar sind. Die Behauptung, dass eine Therapie im schlimmsten Fall nichts bringt, ist eine verantwortungslose Lüge, der wir wenigstens rechtzeitig auf die Schliche gekommen sind.

ALLES ZURÜCK AUF ANFANG

Wir wollten nicht von einem Experten zum nächsten rennen, bis die Würde unserer Familie vollständig untergraben und unser Sohn kaputt therapiert ist. Wir wollen keine „Hilfe“ mehr, keine gutgläubigen Experimente, keine gutgemeinten Ratschläge, keine Berichte, die dem Kind nicht gerecht werden. Wir tragen die Verantwortung für das Wohlergehen unseres Sohnes selbst und suchen niemanden, der sie uns, besonders in dieser Form, abnimmt.

Wir sind heute auf dem progressiven Stand, der die Kindermedizin von der Medizin der Erwachsenen klar abgrenzt. Psychologische Eingriffe bei Kindern werden erst seit wenigen Jahrzehnten durchgeführt und dokumentiert. Für diese Medizin, die noch in den Kinderschuhen steckt und mit Sicherheit sehr fehleranfällig ist, steht unser Sohn nicht mehr als Versuchsobjekt zur Verfügung.
Es ist ekelerregend, wie unsere Familie durchleuchtet und herabschauend evaluiert wurde und ich hoffe, dass andere Mütter die Gelassenheit finden, Vertrauen in die natürliche Entwicklung ihres Kindes zu haben.

Ich bin fest davon überzeugt, dass unsere Familie, wie auch jede andere Familie, ihren eigenen Charakter hat und, was mir besonders wichtig ist: auch das Recht darauf. Die Kombination aus der Familie meines Mannes und mir ergibt eine neue Konstellation, deren Auswirkung keine Wissenschaft der Welt abzusehen vermag.

Dieses Recht kann und darf uns niemand absprechen, es würde die Pfeiler des Grundgesetzes in Frage stellen. Mitte April war alles vorbei und ganz langsam kehrt wieder der wunderbar strukturlose Alltag ein. Silas hat für September 2015 einen Platz im Waldkindergarten bekommen.

Oft sagte man uns, dass wir Eltern die besten Experten für unsere Kinder seien. Und genau so ist es auch. Nichts wird je den natürlichen Instinkt einer Mutter ersetzen können.

von Lena Obermiller

Anmerkungen von Dr. Herbert Renz-Polster zum Bericht „Mein besonderes Kind“

Dr. Herbert Renz-Polster

Zuerst einmal: mein Dank an die Autorin, dass sie diese Geschichte aufgeschrieben hat! Sie lässt sich und ihrer Familie dabei ja ein ganzes Stück weit „ins Herz“ blicken. Spannend wird der „Fall“ für mich vor allem dadurch, dass die Mutter ihre inneren Zwiespälte schildert, ihren eigenen Kampf und Unsicherheit.

Da würde ich gerne anknüpfen. Denn anders als die Mutter es empfindet („Ich habe bis jetzt noch keine einzige Kindergärtnerin getroffen, die …“) ist auch das pädagogische und medizinische System von Unsicherheit und Zwiespälten geprägt. Auch da ringen Menschen um ihre Rolle, auch da machen Menschen Entwicklungen durch, auch da gibt es nicht nur wohlmeinende, sondern auch kompetente Fachkräfte, die Kinder und Familien in ihren Bedürfnissen wahrnehmen und verstehen. Auf so manchem Fachkongress fliessen ja gerade deshalb Tränen! Eben WEIL sich die Fachkräfte ihrer Begrenzungen bewusst sind, eben WEIL sie wissen, dass die Rahmenbedingungen ihrer Arbeit oft nicht stimmen!

Reden wir deshalb über diesen Rahmen, über das pädagogische und medizinsiche „System“ also. Ich finde in der geschilderten Geschichte viele wunde Punkte, die wir unbedingt im Auge behalten müssen wenn wir dafür sorgen wollen, dass dieses System überhaupt für Kinder und Familien funktioniert:

  • Der enge Begriff von Normalität etwa. Kinder sind unterschiedlich, das ist die Grundlage ihrer Individualität. In diesem Fall wurde das Kind zum Beispiel aufgrund seiner späten Sprachentwicklung als „förderbedürftig“ qualifiziert. Die sprachliche Spätentwicklung ist aber per se keine Krankheit oder Störung – auch die in einer Herde weiter hinten laufenden Schafe sind zumeist normal, auch wenn unter ihnen das eine oder andere fußkranke Schaf sein kann. Man muss unendlich vorsichtig sein, bevor man einem Kind eine „Störung“ attestiert, auf dem Spiel steht ja nichts anders als sein Gefühl von Wert und Zugehörigkeit! Diese Vorsicht vermisse ich in dieser Geschichte.
  • Die „Abklärung“ in einer nicht kindgerechten Kunstwelt: natürlich wird ein Kind verunsichert, wenn es von Menschen, zu denen es keine Beziehung hat, beurteilt und eingeordnet wird. Das ist leider ein erhebliches Problem, gerade bei der Entwicklungssdiagnostik, denn welches Kind „spielt“ schon gerne mit Fremden und dazu noch dessen Spiele! Die meisten Entwicklungstests haben deshalb eine erhebliche Fehlerquote, bei vielen der in KiTas gängigen Sprachstandstests liegt diese bei 30-50% – ein Kind, das mehrere solcher Entwicklungstests durchläuft hat demnach eine fast 100 prozentige Chance irgendwo eine „Störung“ attestiert zu bekommen!
  • Viel zu selten wird auch thematisiert, dass eine Entwicklungsunterstützung – selbst dort, wo eine wirkliche Entwicklungsstörung vorliegt –  immer nur über das vertraute Beziehungsnetz des Kindes möglich ist. Kinder lernen das Sprechen nicht bei Experten, und sie werden auch nicht geschickt oder sozial kompetent durch die „Therapie“, sondern indem sie Beziehungen gestalten zu Menschen, die ihnen etwas bedeuten, und mit denen sie deshalb dringend kommunizieren wollen! Jede Förderung des Kindes muss deshalb zum Ziel haben, das vertraute Beziehungsnetz des Kindes zu stärken. Auch hier ist in dieser Geschichte vieles schief gelaufen.

Gerade Familien, die manche Dinge anders machen als der Mainstream sind in der Gefahr, von einem mit einem engen Normalitätsbegriff operierenden System ausgegrenzt zu werden. Rasch stehen dann Urteile im Raum und rasch wird die „Schuld“ für die vermeintliche Störung in dem gesehen, was diese Familien eben anders machen. Das läuft tatsächlich dem Grundrecht auf Selbstbestimmung entgegen.

Ich finde es bemerkenswert, dass sich die Eltern aus dieser Falle haben lösen können. Wir brauchen solche Beispiele, denn der Trend ist eindeutig: jeder zweite 4-jährige Junge ist oder war schon einmal in einer „Therapie“, und in vielen KiTas wird durch Sprachstandstests und Entwicklungsbeobachtungen eine regelrechte Rasterfahndung nach Defekten betrieben.

Gleichzeitig wird das vernachlässigt, was die Entwicklung der Kinder trägt: die achtsamen, wertschätzenden, verlässlichen Beziehungen. Wenn wir die aber aus  dem Auge verlieren – oder gar im Namen irgendwelcher „Therapien“ oder „Förderangebote“ sogar schwächen –  läuft unser pädagogisches und medizinisches Hilfssystem wirklich Gefahr letzten Endes zu einem totalitären System zu werden.

von Dr. Herbert Renz-Polster