Unsere Tragegeschichte - Foto © Kerstin Pukall… begann im achten Schwangerschaftsmonat vor dreieinhalb Jahren in der Stadtbibliothek. Vor meiner ersten Schwangerschaft habe ich mir kaum Gedanken um Säuglingspflege gemacht und stand damals ziemlich orientierungslos vor den vollen Regalen mit den Büchern zu diesem Thema. In einer Reihe von gleichaussehenden Ratgebern stolperte ich über den Titel „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ von Jean Liedloff. Wer will schon sein verlorenes Glück nicht finden?

Ich griff also zum Buch und sah auf der Titelseite eine indianische Frau mit  Kleinkind auf der Hüfte! Schon seit meiner Kindheit in der russischen Tundra, wo wir als Geologenkinder in der Nähe (aber leider nicht mit) einheimischer Kinder aufwuchsen, hatte ich eine Vorliebe für andere Lebensweisen und Kulturen.

MEIN ERSTES TRAGETUCH

Nachdem ich das Buch gelesen hatte, dachte ich, ja, genau DAS hätte ich mir als Kind gewünscht:

keine dreitägige Trennung von der Mutter direkt nach der Geburt aus Hygienegründen in der Geburtsklinik, kein Schlaftraining, kein Brust- und Milchersatz, keinen Kinderwagen, kein eigenes Gitterbett,

nur die Menschen, die einen lieben, ein Tragetuch und die Natur! Und das wünschte ich mir auch für mein Baby. Ich bestellte mir ein schönes Tragetuch und habe nach der Video-Bindeanleitung mit Teddy-Bär geübt.

Nach der Geburt war ich bei der Rückkehr aus der Klinik glücklich und zugleich schockiert. Plötzlich befand ich mich in einer ganz neuen Situation. Meine Tochter ließ sich nämlich gar nicht ablegen, weder tagsüber noch nachts und ich wusste nicht einmal wie und wann ich mich duschen sollte, wenn ich alleine zuhause war.

DIE NEUE FREIHEIT

Und dann kam das Tragetuch! Als ich meine Tochter zum ersten Mal eingebunden hatte, was war das für ein Glück! Ich konnte wieder Klavier spielen, staubsaugen und mit beiden Händen essen. Duschen konnte ich zwar immer noch nicht, aber das war dann nur halb so schlimm.

Trotzdem hatte ich aber immer das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, dass meine Tochter nicht richtig eingebunden war. Sie lag schief im Tuch und unsere Hebamme meinte, ich solle sie lieber nicht länger, als eine Stunde am Tag tragen. Aber was ist schon eine Stunde bei  einem so nähe bedürftigen Kind?

Zum Glück hatte uns die Hebamme eine Trageberaterin empfohlen. Erst im Nachhinein wurde mir klar, dass mein Gefühl mich nicht getäuscht hatte: ich hatte eine nicht zu empfehlende Bindeweise ausgewählt, die keine gute Stützung der noch unreifen Wirbelsäule des Babys bieten konnte. Die Trageberaterin hat mir und meinem Man die Känguru-Bindeweise beigebracht und seitdem konnten wir unsere Tochter so lange tragen, wie sie es brauchte.

MEIN MANN HAT ES GENOSSEN…

Unsere Tragegeschichte Foto © für KinderIch habe immer noch das Gesicht meines Mannes vor Augen, als er stolz und glücklich seine Nase in den Haaren unserer Tochter vergrabend und den schönen Duft seines Babys einatmend die Fußgängerzone entlang spazierte! Seitdem wurde das Tragen und Stillen für mich der Ausdruck von Freiheit. Ich war frei, weil ich meinem Baby alles geben konnte, was es brauchte und auf keine äußeren Hilfsmittel angewiesen war (auf keinen Kinderwagen und kein Auto mit passendem Kofferraum, keine nicht zugeparkten Bürgersteige, keine Aufzüge in den Geschäften, keinen Schnuller, keine Babynahrung und keine Elternmagazine mit den Ratschlägen zu all dem).

…und dann kam das Tragetuch

Wir haben im ersten Jahr viele tolle Wanderungen auf den griechischen Küsten, durch die engen Gassen Venedigs und auf den Alpenrouten gemacht.

Viele Verwandte haben zur Beginn unserer Tragegeschichte die Besorgnis geäußert, dass unsere Tochter zu spät laufen lernen würde und dann vielleicht auch bis ins späte Kleinkindalter getragen werden wollte. Es kam aber anders. Angefangen zu laufen hat sie schon mit 9 Monaten und mit 26 Monaten wurde sie nicht mehr getragen und sie quengelte nicht um auf den Arm genommen zu werden.

DER SOHN WAR DANN GANZ ANDERS

Als unsere Tochter 21 Monate alt war, wurde ich mit unserem Sohn schwanger. Um mich in der sich weiter verlängernden Elternzeit sinnvoll zu beschäftigen, kam ich auf die Idee, eine Ausbildung zur Trageberaterin zu machen. Das würde mir erlauben, das, was ich selber so gerne und überzeugt machte, mit anderen Eltern zu teilen.

Kurz vor der Geburt habe ich einen Grundkurs bei der ClauWi® Schule absolviert und dabei eine Menge dazugelernt. Ich habe die theoretischen (bindungstheoretischen, evolutions- und verhaltensbiologischen, kulturellen) Hintergründe des Tragens verstanden, viel mehr über die Entwicklung der Wirbelsäule und der Hüfte des Säuglings erfahren, als in meinem Medizinstudium. Ich habe ein Paar neue Bindeweisen dazu gelernt und die mir schon bekannten perfektioniert.

Ein paar Tage nach der Hausgeburt unseres Sohnes musste ich mit Erstaunen feststellen, dass er kaum das Bedürfnis hatte, getragen zu werden. Er schlief die ersten 4 Wochen mehr als die Hälfte des Tages auf dem Bauch in einem Kinderbett und nachts auf meinem Bauch. Ich war fast enttäuscht, ich wollte doch mein Baby in allen erlernten Varianten tragen, aber er hat es anders bestimmt.

KINDER SIND VERSCHIEDEN – EIN „TRAGEDOGMA“ GIBT ES NICHT

Mit ca. 6 Monaten wollte er plötzlich nur im Tuch einschlafen und ließ sich teilweise nicht wieder ablegen. Andererseits wollte er, wenn er wach war, auf keinen Fall eingebunden werden und äußerte sein Unwillen sehr klar und deutlich. Er hat seine motorischen Fähigkeiten tüchtig geübt und hat sich schon mit 6 Monaten überall hochgezogen.
Mit jedem Monat wuchs meine eigene Trageerfahrung und mit jeder Beratung das Wissen darüber, wie unterschiedlich Eltern und Kinder in Bezug auf das Tragen sind.

Da ich das Glück hatte, zwei vom Temperament so unterschiedliche Kinder zu erleben, bin ich nicht zu einer „glühende Verfechterin“ geworden und würde nicht behaupten, dass das Tragen für alle Eltern und alle Kinder in jeder Situation das Beste ist. Aber aus unserem Alltag ist es nicht mehr wegzudenken!

von Viktoria Glasman