Corona in der Seele - Udo Baer, Claus Koch

Claus Koch, Udo Baer
Corona in der Seele
Was Kindern und Jugendlichen wirklich hilft
Klett-Cotta-Verlag
ISBN: 978-3-608-98086-8
168 Seiten
18,- Euro

Im Blickpunkt das Wohl der Kinder

Die Corona-Pandemie begleitet uns nunmehr zwei Jahre und das allgemeine Leben in der Gesellschaft hat sich nachhaltig verändert. So sind auch Kinder und Jugendliche in ganz unterschiedlicher Form und Weise betroffen. Vielen Heranwachsenden ist es gelungen, einen guten Weg durch die Pandemie mit ihren Eltern zu gehen, aber bei einem Drittel der Kinder und Jugendlichen zeigen sich tiefe Spuren von Überforderung und großem Leid, was dringend Unterstützung und angemessene Begleitung bedarf.

Die beiden Autoren, Udo Baer und Claus Koch, haben in diesem Buch versucht, auf die massiven Auswirkungen des veränderten Lebens betroffener Kinder und Jugendliche einzugehen. Sie zeigen Folgen und von der Öffentlichkeit verborgen gebliebene Themen auf und ermöglichen somit den Lesern einen Einblick, das Leid und die Not wahrzunehmen, aufzufangen, anzuschauen und zu erspüren, um den Betroffenen Hilfe und Unterstützung anbieten zu können. Immer unter der Prämisse, dass das Leid bewältigt und schlimmere Entwicklungen bei den Kindern und Jugendlichen verhindert werden können. Gleichzeitig kann man das Werk als Warnsignal verstehen, dass das Wohl der Kinder in den Blick genommen werden muss und dass Kinder Schutz und Hilfe dringend brauchen. Gleich eingangs heißt es: „Jedes Kind, das jetzt Hilfe braucht und nicht erhält, ist eines zu viel.“ „Die meisten dieser Folgen betreffen die seelischen und sozialen Aspekte.“ [S.8]

Vom Wert der Beziehungsarbeit

Was ist notwendig und welche Schwerpunkte sollten gesetzt werden und wie kann man Kinder und Jugendliche unterstützen, damit sie ihre Sicherheit wiedererlangen können? Inwieweit ist das Nachholen von Schulstoff relevant und hilft Nachhilfeunterricht wirklich gegen Angst und Einsamkeit? Wie bedeutsam ist der Wert der Beziehungsarbeit in der Bewältigung der Folgen, und wie wirkt sich unsere Resonanzfähigkeit auf die Kinder aus? Inwieweit wirken sich das Bildungssystem und die Strukturen in den Schulen im Zusammenhang mit den Corona-Maßnahmen und Erfahrungen im Vorfeld aus und was wird durch Corona zusätzlich verstärkt und sichtbar? Welche Verläufe werden während der Pandemiezeit wahrgenommen und welche Entwicklung zeichnet sich ab? Inwieweit kann das Spiel einen Heilungsprozess anstoßen, um in Kontakt mit den Betroffenen zu kommen und gleichzeitig Unterstützung in der Auseinandersetzung mit den Themen der Heranwachsenden bieten? Wie wichtig ist es den Zugang zu den Gefühlen wieder zu gewinnen und wie können wir dabei Unterstützung leisten? Welche Gefühle können auftauchen, wie könnte ein achtsamer Umgang aussehen und was kann ich auch für mich selbst tun?

All das sind Fragen, die im Buch unter die Lupe genommen wurden und die dem Leser Impulse und konkrete Hinweise geben, um sich dem Thema anzunähern, um Mut zu machen, Heranwachsende, die unter der Pandemieentwicklung leiden, zu erkennen und um gezielt Hilfe anbieten zu können.

Eines ist klar, dass die Folgen nach der Pandemie nicht vorbei sind bzw. sich synchron zur Pandemie verringern. Kinder werden weiterhin Unterstützung brauchen, nicht erst nach der Pandemie, sondern es bedarf schnelle Hilfe, jetzt sofort, für die nächsten Wochen und Monate. „Ärzte von Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie berichten von einer Vervierfachung der Zahl von Kindern und Jugendlichen, die nach Selbstmordversuchen behandelt werden.“ [S.8]

Um den Lesern eine nachvollziehbare Struktur mit auf den Weg zu geben, habe die Autoren ihre Ausführungen in drei Zeitebenen unterteilt:

  1. Zeitebene berichtet von der Zeit vor der Pandemie.
  2. Zeitebene bezieht sich auf die Zeit, im Frühsommer und Sommer 2021, während das Buch geschrieben wurde.
  3. Zeitebene beginnt mit der Zeit der Erscheinung des Buches im Herbst 2021.

Dabei greifen sie auf Erfahrungen ihrer therapeutischen Alltagsarbeit zurück und auf das Wissen aus der Bindungs- und Entwicklungsforschung, die wiederum im Zusammenspiel mit den Corona-Maßnahmen die Unterschiedlichkeiten im Erleben spürbar und sichtbar werden lässt. Ebenso wird auf aktuelle Studien sowie Beiträge aus der Tagespresse hingewiesen, welche im Anhang des Buches aufgelistet sind.

Spuren in den Kinderseelen

Das erste Kapitel beginnt mit 12 Einzelschicksalen, die für viele Kinder stehen. Jedes Schicksal wird in drei Bereiche unterteilt und aufgearbeitet.

Der 1. Teil befasst sich mit dem Verstehen und dem Verlauf der Veränderungen, die das Kind und sein soziales Umfeld im Laufe des Pandemiegeschehens unter Berücksichtigung von bereits gemachten Erfahrungen/Bedingungen entwickeln. Welches Leid bzw. Not zeigt sich?

Die dreijährige Ayla kann nichts mehr:

In der Kita äußert Ayla verstärkt den Satz: „Das kann ich nicht“. Vor der Pandemie brachte sich Ayla aktiv mit ein. Ermutigungen der Erzieherinnen liefen ins Leere. Sie traute sich nichts mehr zu. Die Eltern wurden zum Gespräch eingeladen und berichteten, dass Ayla viel Zeit mit ihren älteren Geschwistern verbracht hat, während der Kitaschließung und dass sie sich oft Bilderbücher angesehen hat und viel Fernsehen schaute. (sinngemäße Zusammenfassung, ungekürzter Text ab S.47-49)

Im 2. Teil versuchen die Autoren eine Erklärung für die jeweilige Entwicklung des Kindes zu formulieren und geben wichtige Hinweise zur Thematik und ihre Begleiterscheinungen.

Ayla’s Selbstvertrauen sank während der Kita-Schließung. Ihr fehlte die Erfahrung sich selbst auszuprobieren, hinzukam, dass ihre älteren Brüder ihr sagten: „Das kannst du nicht!“ Vermutlich hat sie im Fernsehen vieles gesehen, was sie nicht verstanden hat. Auch bekam sie zu wenig Impulse, die ihrem Alter entsprachen, sodass sich das Gefühl: „Das kann ich nicht.“ festigte und sie an sich selbst zu Zweifeln begann.

Im 3. Teil geht es um das Helfen. Was können Mütter und Väter, Erzieher:innen, Lehrer:innen, Therapeut:innen und alle, die mit betroffenen Kindern und Jugendlichen im Kontakt sind, tun, um Kindern wie Ayla zu helfen und zu unterstützen? An dieser Stelle geben die Autoren konkrete Hilfeimpulse für solche und ähnliche Situationen.

Die Erzieherin bezog Ayla nun täglich in kleine Spielaktionen ein und gab ihr im Gegenüber die Ermutigung: „Doch, das kannst du! Probier es doch mal!“, damit sie positive Erfahrungen machen und Zutrauen gewinnen konnte.

Es werden Schicksale von kleinen und großen Kindern zwischen 3 und 21 Jahren aufgeführt, die gleichzeitig aufmerksam machen, auf das, was im Hintergrund verborgen stehen kann, wie z. B. Verlustängste, Trennung der Eltern, Migrationshintergründe, Bindungsstörungen, generationsübergreifende Traumen, ungelebtes Leben, Einsamkeit, geplatzte Träume, Misstrauen, Verluste von existenziellen Bedürfnissen, Unsicherheiten im sozialen Kontext, Ohnmachtsgefühle, Kontaktarmnut, Versagensängste, Gedanken wie nicht mehr leben zu wollen, Zwänge, Retraumatisierung von alten Themen, aus der Lebensgeschichte der Kinder etc.

In diesem ersten Kapitel führen die Autoren behutsam den Leser in die kindliche Erlebenswelt und machen gleichsam das Ausmaß deutlich, was auf den ersten Blick häufig übersehen wird und was nach Aufmerksamkeit und Hilfe schreit.

Kinder sind Beziehungswesen

Das zweite Kapitel setzt sich mit dem Thema „Kinder sind Beziehungswesen“ intensiv auseinander. Dabei geben sie einen umfangreichen Einblick über den Wert der Resonanz, die Kinder von uns brauchen, über das Urvertrauen und die Einsamkeit, über existenzielle Bedürfnisse, die Kinder haben, mit Hinweis darauf, wie sich Bindungserfahrungen bei sicheren und unsicher gebundenen Kindern im Zusammenhang mit den Pandemiefolgen äußern können und was am Ende bleibt, wenn keine Hilfe geleistet wird. Hierbei machen die Autoren deutlich, dass das subjektive Erleben unterschiedliche Reaktionsweisen hervorruft und dass bei betroffenen Kindern und Jugendlichen der Teufelskreis nur durchbrochen werden kann, wenn Eltern, Pädagog:innen und Erzieher:innen aktiv werden und Unterstützung leisten und Hilfe individuell anbieten.

Einblicke in das Erleben

Im dritten Kapitel geben die Autoren Einblicke in das Erleben von Einsamkeit, Ängsten und geplatzten Träume. Zu viel waren die Kinder sich allein überlassen, entwickelten dabei Ängste und der Raum fehlte, um selbstwirksam zu werden, sich zu behaupten, in Resonanz mit vertrauten Gegenüber, neben Eltern und Geschwister (wie Großeltern, Verwandte, Freunde, Erzieher:innen, Lehrer:innen) zu sein, Impulse von außen zu bekommen und führte die Kinder und Jugendliche nicht selten in die Kontaktarmut und in Ohnmachtsgefühle. Die Hoffnung und die Träume wurde immer kleiner und verschwanden zusehends – Ausweglosigkeit machte sich breit und ließ die Kinder erstarren und sich mutlos fühlen.

Vom Wert des Spielens

Das vierte Kapitel befasst sich mit dem Spiel als Brücke zum Wandel und Heilungsprozess. Um eine Vorstellung der Wirkkraft des Spielens zu erlangen, werden die Leser an den Wert des Spielens herangeführt. Warum spielen Kinder? Kann ein dialogisches Spiel eine Brücke zum anderen bauen? Was bewegt Kinder im inneren und äußeren Erleben, wenn sie die Möglichkeit haben zu spielen? Was können Zwang, Bewertungen und andere Spielkiller auslösen, auf was ist wichtig zu achten? Die Bedeutung des Spiels vor und nach der Pandemie wird aufgegriffen und beleuchtet, sowie als Heilungsprozess gedeutet.

Wie gelingt ein neuer Anfang?

Im fünften Kapitel „Corona, die Schule und das Virus der Erneuerung“ wird der Leser anhand von Beispielen und Erfahrungen aufmerksam gemacht wie der Übergang in den Schulalltag sich gestalten lässt, was Kinder an Veränderungen erlebt haben können und dadurch nicht wie gewohnt in den Schulalltag zurückkehren. Was ist notwendig und inwieweit kann Beziehungsaufbau gelingen und Ängste abgebaut werden?

Gefühlswelten und wie sie sich äußern

Im sechsten Kapitel geht es um die Gefühle, die bleiben und wie sie sich äußern. Hier bekommt der Leser einen Einblick, wie die Gefühlswelt von Kindern sich entwickelt und was passiert, wenn ungelebtes Leben, was leben will, keinen Raum hat, sich zu entfalten. Welche Traumafolgen und Traumawiederbelebung können uns begegnen und welche Möglichkeiten haben wir, um wirksam zu werden und Heranwachsenden Hilfe zu bieten?

Von Troststeinen, kleinen Helden und Wunschpflanzen

Kapitel sieben gibt dem Leser viele Impulse und Beispiele, wie man aktiv die Kinder abholen und begleiten kann, aus dem Tal ihrer Ängste, Nöte und Sorgen. Durch kreative Angebote werden Kinder spielerisch hingeführt, selbstwirksam zu werden, sich auszudrücken und in Verbindung mit ihren Gefühlen und Bedürfnissen zu kommen, auch um die Kontaktarmut zu überwinden.

Ein Beispiel aus dem Buch: Abreißbotschaften (S.134)

Nimm ein DIN-A4-Papier und schneide es auf einer Seite im Abstand von einigen Zentimetern so ein, dass du viele Streifen hast. Schreibe auf jeden Streifen Botschaften oder Worte, die dir gefallen und mit denen du Positives ausdrückst. Zum Beispiel Glück, Sonne, Zuversicht, Mut Freude oder Hoffnung. Hänge das Papier an Straßenlaternen oder in euren Hausflur, damit sich andere Menschen etwas abreißen und mitnehmen können.

Weitere viele dieser kleinen Impulse werden Sie in diesem Kapitel finden. Die Autoren sprechen von Troststeinen, kleinen Helden und Wunschpflanzen.

Sieben Tipps, die unser Leben nachhaltig verbessern

Im achten Kapitel werden sieben Tipps vorgestellt, was Sie für diese Kinder und Jugendliche tun können, für ein gutes Leben nach der Pandemie und Sie finden auch sieben Tipps, was Sie für sich selbst tun können, um sich für eine gute Selbstfürsorge zu stärken.

Im Anhang finden Sie einen Blick auf alle Studien, die Udo Baer und Claus Koch beim Schreiben dieses Buch einbezogen haben.

Eine persönliche Schlussbemerkung

Abschließend möchte ich zu diesem Buch meine Gedanken äußern. Mich hat sehr berührt, wie die Autoren von den Einzelschicksalen berichten und auf Themen aufmerksam gemacht haben, die zusätzlich einfließen können, aber möglicherweise übersehen werden/wurden. Besondere Achtsamkeit im Umgang mit ihren Erkenntnissen nehme ich für mich mit. Durch die vielen beispielhaften Impulse wurde meine Selbstwirksamkeit aktiviert und ich entwickelte eigene Ideen, die meine Arbeit zukünftig beflügeln werden. Dieses Buch ist ein wahrer Schatz, weil es nicht nur die Vielzahl und die unterschiedlichen Gesichter der Pandemie aufzeigt und ihnen Worte schenkt, sondern auch Mut und Hoffnung vermittelt, auch Freude und Spaß. All jenes, was in einer Pandemie zu kurz kommt und unabdingbar für ein gutes gemeinsames Leben ist. Nicht nur Mütter und Väter bekommen in diesem Buch Einblicke und Ideen vermittelt, sondern auch für Erzieher:innen, Lehrer:innen, Therapeut:innen und viele Helfer:innen, die sich angesprochen fühlen, unterstützend wirken zu wollen, gibt dieses Buch zahlreiche Anregungen, Ermutigungen und Würdigung für diese besondere Aufgabe. Eine Aufgabe, die wir bewältigen dürfen, um zum einen das Wohl der Kinder zu gewährleisten, aber auch für uns selbst, das Beste in Zeiten einer Pandemie aus uns herauszuarbeiten und über diese hinaus. Für mich sind das vorstellbare versöhnliche Schritte, um inneren Frieden zu finden und ein gutes Zusammenleben aller zu ermöglichen. Reihen Sie sich gerne ein, Sie sind herzlich willkommen!

von Jennifer Hein

Über den Buchautor: Udo Baer

Jahrgang 1949 ist in der Niederlausitz geboren, kurz vor dem Mauerbau 1961 mit seinen Eltern an den Niederrhein geflüchtet. Er ist verheiratet und hat 2 Kinder. Gesundheitswissenschaftler, Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

Mehr über Kinder & Würde auf seinem Blog Baer-Frick-Baer

Claus Koch

Über den Buchautor: Dr. phil. Claus Koch

Diplompsychologe und Autor, geb. 1950, Studium der Philosophie und Psychologie in Heidelberg und Paris. Promotion in Heidelberg zur Phänomenologie psychischer Störungen und Krankheiten. Er ist verheiratet und hat vier Kinder. Bis Juli 2015 war er Verlagsleiter für den Bereich Sachbuch und Elternratgeber beim Beltz Verlag in Weinheim. 2015 gründete er zusammen mit Udo Baer das „Pädagogische Institut Berlin“ (PIB). Jahrelange wissenschaftliche Tätigkeit mit dem Schwerpunkt Entwicklungspsychologie des Kindes und Jugendlichen unter psychoanalytischen und bindungstheoretischen Gesichtspunkten, u. a. mit einem Lehrauftrag an der Universität Bielefeld. Zahlreiche Vorträge, Buchveröffentlichungen und Artikel in Fachzeitschriften. Vorstandsmitglied des „Archiv der Zukunft“ (AdZ). Webseiten: Claus Koch, Pädagogisches Institut Berlin (PIB), Zukunftswerkstatt therapie kreativ