Lueken_Verena_anderswo

Verena Lueken
Anderswo
Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-462-05135-3
240 Seiten
20,00 Euro (Österreich € 20,60)

Eine Tochter begibt sich nach dem Tod ihres Vaters auf Spurensuche – Obwohl er einst ihre Abtreibung wollte, sucht sie seine Nähe

Es ist schon verzwickt: Da geben sich Eltern alle Mühe, ihr Kind schnellstens größtmöglich selbständig werden zu lassen, und dann blicken die derart Selbständigen später umso genauer und intensiver zurück zu denjenigen, die sie so gern so früh losschickten – oder soll man sagen: loswerden wollten? Ein berührendes Beispiel hierfür stellt Verena Luekens Roman „Anderswo“ dar. Das Buch der langjährigen FAZ-Feuilletonjournalistin wird zu Recht hochgelobt, es ist stilistisch und sprachlich ein Meisterwerk.

Ihr Thema ist der Rückblick einer Erzählerin auf ihre bereits verstorbenen Eltern. Besonders der Vater steht im Fokus, und zwar aus besonderem Grund: er hatte seine Tochter eigentlich schon vor der Geburt abgelehnt und wollte, dass die Mutter das ungeborene Kind abtreibt. Doch die Mutter – sie wird als starke, warmherzige Frau beschrieben – verdoppelte heimlich das Honorar für den vom Vater engagierten Abtreibungsarzt und verhalf der Tochter damit schließlich doch zum Leben: klammheimlich, gegen den Willen des Vaters.

Viel mehr als das schlichte Aufräumen nach dem Tod der Eltern

Dieses doch wirklich so immens wichtige Detail ignorieren tatsächlich viele Rezensenten des Buchs. Und verpassen damit die Chance zu erkennen, weshalb die Erzählerin ihren Vater so lange links liegen ließ, wie dann auch noch halb vorwurfsvoll formuliert wird. Die Deutschlandfunk-Rezensentin etwa, die ebenfalls dieses grundlegende Detail unerwähnt lässt, dreht sogar den Spieß um und schreibt: „Dass man den eigenen Vater verpassen kann wie einen Omnibus, gehört zu den traurig tröstlichen Gewissheiten dieses ungewöhnlichen Romans.“ Man reibt sich die Augen: Hatte die Erzählerin denn nicht allen Grund, ihren Vater zu ignorieren? Zum einen, weil er sie ja gar nicht wollte und zum anderen, weil er sie später wirklich links liegen ließ – und nicht umgekehrt sie ihn? Es handelt sich bei dem Roman eben gerade nicht um ein schlichtes Aufräumen von Zimmern nach dem Tod der Eltern, sondern um viel mehr.

Lueken hat hier ein starkes Motiv gewählt: die Suche nach dem für sie nie präsent gewesenen Vater.  Aber die Suche beginnt erst nach seinem Tod. Zu seinen Lebzeiten gab es praktisch keine Berührungspunkte zwischen ihm und der Tochter, zu den Gründen siehe oben. Zeit seines Lebens hat der Vater in einem fremden Universum verbracht, fernab der Tochter. Und wenn sie sich doch einmal trafen, hatte der Vater nur Verachtung für die Tochter übrig, was für den Leser ziemlich bedrückend zu lesen ist. Das jahrelange Einnässen des Kindes wird vom Vater denn auch nur als physisches, nicht psychisches Problem gesehen.

Zwischen aufgezwungener Distanz und Sehnsucht nach väterlicher Nähe

Der Roman beginnt mit dem deprimierenden Satz „Auch in diesem Jahr hatte sie keine Nachricht aus dem Universum des Vaters empfangen.“ Und er endet mit dem Satz „Sie war sich sicher, wäre ihr Vater nicht seit Jahrzehnten tot, würde er ihr jetzt über die Wange streichen, bevor er sich wieder auf jenen fremden Stern verabschiedete, auf dem er zu Hause war.“

Auf über 200 Seiten beschreibt Lueken den zähen wie berührenden Zwiespalt ihrer Protagonistin zwischen brutaler Distanz, aufgezwungen vom Vater, und Sehnsucht nach väterlicher Nähe, wie die Tochter sie sich wünscht. Dass hier autobiographische Elemente im Spiel sind, darf vermutet werden. Viele Erzähldetails passen zum Leben der Journalistin, die selbst auch eine Leidenschaft für Tanz hegt und viele Jahre in New York als Kulturkorrespondentin gelebt und gearbeitet hat – genau wie ihre Protagonistin. Es ist daher auch bewundernswert, wie offen und ausführlich Lueken diese Lebensgeschichte, die wohl ihre eigene sein könnte, aufgeschrieben hat.

Unfähig zu dauerhafter Bindung

Ebenso aufschlussreich wie bedrückend ist die Abneigung der Protagonistin gegen eine eigene Familiengründung, die sich vermutlich aus der erlebten Kindheit heraus erklärt. Zu dauerhaften Partnerschaften kommt es nicht, Beziehungen gelingen ihr nur vorübergehend, immer nur auf Zeit teilt sie Tisch und Bett mit einem Mann. Abgestoßen von der schlechten Erfahrung in der eigenen Familie, in der sie aufwuchs, scheut sie jegliche längere, engere Bindung. Als Claudio, ein mexikanischer Jazzmusiker, ihr schließlich irgendwann einen Heiratsantrag macht, ergreift sie die Flucht. Das Hin- und Herpendeln zwischen Alter und Neuer Welt gefällt ihr, es ist ihre „Heimat“. Später trifft man sich wieder, aber er ist längst verheiratet, sie weiterhin solo.

Und doch: mit zunehmendem Alter sucht die Protagonistin, die sich bis dato eher ziel- und zügellos gab, nach ihren eigenen Familienbanden. Insbesondere zu den Personen, zu denen sie bislang den wenigsten oder gar keinen Kontakt hatte: zu ihrem verstorbenen Vater und dessen verschollenem Bruder.  Bis nach Südafrika reist sie, um dort einen Bruder des Vaters namens Franz zu finden. Ob sie dort wirklich auf seine Spuren getroffen ist oder nur auf die eines anderen „Franz“, lässt der Roman offen. Es ist auch nicht entscheidend.

Am Erbe unserer Eltern kommen wir nicht vorbei

Entscheidend ist aber etwas anderes, das zwar nirgends explizit ausgesprochen, aber auf jeder Seite lesbar ist. Erstens: Die frühe Liebe, Zuneigung und Fürsorge des Vaters ist für ein Kind immens wichtig. Mag die Mutter auch noch so gut zum Kind sein, es braucht den Vater für ein gesundes Gedeihen und Seelenleben genauso. Eine glückliche Prägung beginnt in der Kindheit und kann später so gut wie nicht nachgeholt werden.

Zweitens: Abwesenheit und Ablehnung des Kindes durch ein Elternteil, hier den Vater, wirkt nicht nur kurzfristig, sondern lebenslang.

Drittens: Die vermeintlich frühe Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Kindes erzeugt später ein umso intensiveres Bedürfnis nach Nähe und Anerkennung.

Viertens: Familie besitzt auch für Singles, die Familie eigentlich ablehnen, eine größere Bedeutung als sie sich und anderen oft zugestehen.

Und fünftens: wir erben von unseren Eltern nicht erst an deren Lebensende, sondern schon viel früher: wir erben von ihnen, sobald wir auf der Welt sind. Am Erbe unserer Eltern kommen wir nicht vorbei, heißt es auf dem Buchdeckel. Wie wahr.

von Birgitta vom Lehn

Buchautor Verena Lueken

Die Buchautorin: Verena Lueken

studierte Tanz, Soziologie, Germanistik und Filmwissenschaft in Frankfurt, Philadelphia und New York. Sie war viele Jahre Kulturkorrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in New York. Ihr erster Roman „Alles zählt“ erschien 2015 bei Kiepenheuer & Witsch.

Heute ist sie Redakteurin im Feuilleton der FAZ mit Schwerpunkt Film. Sie lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.