Strueber_Nicole_die_erste_bindung

Nicole Strüber
Die erste Bindung

Wie Eltern die Entwicklung des kindlichen Gehirns prägen
Klett-Cotta Verlag
ISBN: 978-3608980585
346 Seiten
22,95 Euro

Schon einmal vorab: Eltern, die sich in dem Eltern-Ratgeber-Tsunami  auf sämtlichen Kanälen vom Buch über das Fernsehen bis hin zu den Sozialen Medien verloren und überwältigt fühlen, sei dieses Buch dringend empfohlen. Es schafft die solide, verlässliche Basis, ein wissenschaftlich fundiertes Instrument für das Verständnis frühkindlicher Entwicklung, Bindung und Bildung, mit dem die Flut gut gemeinter aber selten ausreichend begründeter Erziehungsvorschläge kritisch gesichtet und (aus)sortiert werden kann. Dass dies dann auch noch in verständlicher Alltagssprache, mit anschaulichen Bildern und Analogien geschieht, macht das Buch doppelt wertvoll.

Im Untertitel: „Wie die Eltern die Entwicklung des kindlichen Gehirns prägen“, könnte die Einschränkung auf das „Gehirn“ durchaus ersetzt werden durch die umfassendere Bezeichnung: „Persönlichkeit“.

Das einfühlsame Eindenken in die Elternrolle fällt Nicole Strüber, selbst Mutter zweier Zwillingssöhne und nicht „nur“ Wissenschaftlerin, spürbar leicht. Die Präsentation der wissenschaftlichen Erkenntnisse, immer für jedermann verständlich, gibt Antworten auf die vielen Fragen, die sich Eltern unaufhörlich und in den unterschiedlichsten Varianten stellen. Insoweit ist das Buch eine Art „Übersetzung in die Alltagssprache“ des früheren, durch und durch „wissenschaftlichen“  Buchs, das die Autorin zusammen mit dem Neurobiologen und Hirnforscher Prof. Gerhard Roth verfasst hat: „Wie das Gehirn die Seele macht“. (Klett-Cotta, ISBN: 978-3-608-94805-9, 22,95 Euro)

Das kindliche Gehirn – und was es braucht, damit die Persönlichkeitsentwicklung gelingt

Dabei geht es im wesentlichen um die Entwicklung des Gehirns als der menschlichen Steuerungszentrale, um seine genetische Vorprägung, sein Wachstum von der ersten befruchteten Keimzelle an, um den Bezug zur Umwelt, um die ständige Anpassung an neue Eindrücke, Anforderungen und Belastungen, die Reaktionen auf Bedrohung und Belohnung, um die Spuren, die all dies in den Nervenzellen des Gehirns, ihren Beziehungen untereinander und im Endeffekt damit in der Persönlichkeit des Heranwachsenden Menschen hinterlässt.

Entwicklung bedeutet Lernen. Wie lernt das Kind? Wie vernetzen sich die Zellen  im Gehirn optimal, um die Verarbeitung immer neuer Informationen zu bewältigen?

Was läuft schief, wenn aus dem temperamentvollen Baby ein aggressiver Rüpel wird, der seine Reaktionen nicht unter Kontrolle bekommt und unfähig ist, sich in die Gefühle seines Gegenübers einzudenken?

Es geht um Stress und Stressbewältigung, um Belohnung und  Zurückweisung und Frustration; und es geht bei all diesen Vorgängen um einen entscheidenden „Vermittler“:  die Bindung, das bedingungslose Vertrauen auf den sicheren Rückzugsort und die Gewissheit, so akzeptiert zu werden, wie man halt (geworden) ist.

Wie ist der Mensch zu der Person, der Persönlichkeit geworden, die uns als Erwachsener gegenüber tritt?

Was die Hirnforschung zum Verständnis frühkindlicher Entwicklung beitragen kann – und warum Eltern das wissen sollten

Am Anfang ein Parforce-Ritt durch den Stand des Wissens über Entstehung und Entwicklung des Gehirns – anschaulich und verständlich erzählt, ohne der Komplexität des Themas Gewalt anzutun.

Die Entstehungs- und Verbindungsprozesse im Gehirn entwickeln sich in einer kaum vorstellbaren Geschwindigkeit (2,4 Millionen neue Synapsen pro Minute) schon im Mutterleib und in den ersten Wochen nach der Geburt. Diese Masse aber wird in der Folge nicht wirklich vollständig benötigt. Die Unterscheidung von „nützlichen“ und „überflüssigen“ Verschaltungen wird ganz praktisch durch die Erfahrung, durch die Auseinandersetzung des kindlichen Gehirns mit der sehr variablen Umwelt getroffen. Die „nützlichen“ Verbindungen bleiben erhalten und entwickeln sich weiter, die unbenutzten dagegen werden wieder „eingestampft“.

Dieses noch sehr junge Wissen um die Entwicklung und Plastizität des frühkindlichen Gehirns und seine „Popularisierung“ in hunderten von Elternratgebern hat zu einem weit verbreiteten und für das gesunde Aufwachsen der Kinder nicht ungefährlichen Missverständnis geführt: Mamas, Papas, Erzieherinnen und, ja auch, PolitikerInnen sind nun von der Vorstellung gepeinigt, das Kind könne mangels Input allzu viele seiner einmal entstandenen Hirn-Potentiale wieder verlieren und damit Abitur, Studium und Lebenserfolg  auf´s Spiel setzen. Sie füttern das Kind mit Lernimpulsen, Anregungen und Anforderungen, um es „schlauer“ und sein Gehirn leistungsfähiger zu machen.

Frühförderung, Krippe, soziales Lernen im Babyalter – Nicole Strüber nimmt sämtliche Standard-Irrtümer über frühkindliches Lernen und Bildung Stück für Stück auseinander und misst den populären Mainstream an der Elle komplexer wissenschaftlicher Forschungsergebnisse zur frühkindlichen Entwicklung.

Gelerntes wird vererbt – Epigenetik

Wenn die Kindheit von Gewalterfahrungen geprägt ist, wenn körperliche oder seelische Verletzungen ihre Spuren in der Persönlichkeit der Eltern hinterlassen haben und ihnen niemand hilft, mit den daraus entstandenen Verbiegungen fertig zu werden, dann stellen sich Verhaltensweisen ein,  die für ihre Töchter und Söhne eine ebenso „falsche“ Umwelt schafft wie die, die ihre Beschädigung verursacht hat, und das mit den gleichen Folgen. Seelische Missbildung vererbt sich so, manchmal über Generationen.

Strüber spricht da von „Engelskreisen“ und „Teufelskreisen“: In ihren Bindungsbedürfnissen verletzte Eltern geben in ihrem Erziehungsverhalten ihre Verstörungen an ihre Kinder weiter und so fort. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, reicht es eben nicht, sich auf die Bedürfnisse der Kinder zu konzentrieren. Hilfe auch für die Eltern tut not bei der Bewältigung ihrer traumatisierenden Kindheitserfahrungen von Liebesentzug und Zurückweisung. Tatsächlich gibt es inzwischen ja in Deutschland eine Fülle solcher Ansätze, die aber oft darunter leiden, dass sie die Hilfsbedürftigsten kaum erreichen.

Sichere Bindung zuerst

In den beiden zentralen Kapiteln (Kapitel 4 und 5) ihres Buchs entwickelt Nicole Strüber aus dem aktuellen Wissensstand der Hirnforschung die Begründung für die zentrale Rolle der Bindung für die gelingende Persönlichkeitsbildung des Kindes, für die emotionale und kognitive Bildung. Unterm Strich die eindeutige Aussage: Bindung vor Bildung.

Eines der wichtigsten Argumente von Eltern, die ihre Kinder gleich nach der Babypause in eine Krippe geben, ist das soziale Lernen, das ja notwendig in der Gruppe geschehen müsse. Die Einjährigen sollen in der Krippen-Gruppe lernen, mit Altersgenossen auszukommen, sich durchzusetzen ohne störende Aggressionen. Nicole Strüber aber weist darauf hin – und belegt das mit zahlreichen Studien – dass soziales Lernen, wie das Lernen überhaupt, eine „Grundierung“ in der Gefühlswelt, in den unteren, älteren „Etagen“ des Gehirns benötigt.

Mit gelingender Bindung, dem sicheren Hafen vertrauter Bezugspersonen, entwickeln sich die Kinder Schritt für Schritt zu selbstbewussten, neugierig-offenen, empathiefähigen und frustrationstoleranten Persönlichkeiten. Das aber ist erst einmal Voraussetzung für den Aufbau und die Weiterentwicklung engerer Beziehungen zu anderen Kindern. Voraussetzung nicht nur für das soziale Lernen sondern für das Lernen insgesamt, das – zumindest am Anfang – ausschließlich in und durch Beziehungen stattfindet: Mutter-Kind-Beziehung zunächst, dann auch  im vertrauten Umgang mit dem Vater, Geschwistern, Großeltern und später ErzieherInnen.

In der Krippendiskussion wird seit Jahre von allen Seiten viel Halbgares und Halbwahres verzapft, oft genug aber auch bewusst fremde Interessen den Erklärungen frühkindlicher Entwicklung übergestülpt. Strüber holt  in ruhigem, unaufgeregtem Tonfall alle diese vorschnellen Urteile und Vorurteile auf den soliden, wenn auch gelegentlich holprigen, Boden des wissenschaftlich Belastbaren zurück.

Im letzten Drittel des Buchs fasst Nicole Strüber noch einmal zusammen, was die neuropsychologischen Entdeckungen denn nun über den Alltag von Eltern, Großeltern, ErzieherInnen erzählen können und welche praktischen Folgerungen sich für die Erziehungsarbeit daraus ableiten lassen. Und hier stellt sich dann Überraschendes heraus: Unterm Strich folgt aus alle den Beobachtungen, Einordnungen und Messungen der Hirnentwicklung des Menschen „von Anfang an“ beinahe das Gleiche, was kluge und einfühlsame Pädagogen schon vor Generationen gelehrt und wofür sie gekämpft haben – und was den Müttern und Vätern (soweit sie sich im „Engelskreis“ befinden, s.o.) ihre Intuition, ihr Bauchgefühl beim Umgang mit ihren Sprößlingen signalisiert.

Gelungene Symbiose aus „Stand des Wissens“ und „Eltern-Ratgeber“

Mit wissenschaftlicher Autorität aber immer mit der bescheidenen Einsicht in die Grenzen empirischer Forschung referiert die Autorin den aktuellen Wissensstand zu den Entwicklungsbedingungen des Gehirns und  des kindlichen Lernens.

Und da trotz aller Bemühungen um eine einfache, verständliche und anschauliche Sprache die beschriebenen Zusammenhänge immer noch ziemlich komplex bleiben und viel Text erfordern, bietet das Buch gleich eine ganze Reihe von Lesehilfen für den wissenschaftlich weniger versierten und vor allem für den eiligen Leser:

  • Die Ausflüge in wissenschaftliche Studienergebnisse – für die Glaubwürdigkeit der Aussagen im laufenden Text unerlässlich – werden, wie auch einige andere „Zutaten“, säuberlich vom Fließtext getrennt durch eine abweichende Schrifttype und die Stichzeile „Aus der Forschung“ gekennzeichnet.
  • Jedes Unter-Kapitel wird am Ende noch einmal  als „Take Home“-Häppchen zusammengefasst, eine Art moderner Variante des „Was lernen wir daraus?“
  • Jedes Kapitel seinerseits wird als „Kapitel …in Kürze“ noch einmal auf das Wesentliche reduziert.

Mehr Lesehilfe geht kaum.

Selbst der in Internet und Social Media sprachlich sozialisierte Digest-Kommunizierer kann sich hier von Sinn-Insel zu Sinn-Insel hüpfend in Kurzzeit durch das Buch hangeln. Dass er dabei dennoch eine Menge an wichtigen und spannenden Informationen verpasst, spricht für die inhaltliche Kompaktheit der immerhin rund 340 Buch-Seiten.

Eltern, die sich verlässlich informieren wollen über die Entwicklungsbedingungen ihrer Sprösslinge; Politiker, die ihre Aufgabe ernst nehmen, die gesellschaftlichen Bedingungen für gesundes Aufwachsen zu gestalten; Erzieherinnen, die in ihrem täglichen Umgang mit den Kindern die Folgen gelungener oder misslungener Eltern-Kind-Beziehungen erleben und beitragen sollen und wollen, die Einflüsse aus Elternhaus und Umfeld korrigierend aufzufangen oder unterstützend zu verstärken –  alle finden hier eine fundierte und gleichzeitig „griffige“ Hilfe bei der Erfüllung ihrer Aufgaben.

Egal wer, wo und wie Verantwortung trägt für das gelingende Aufwachsen unserer Kinder wird in diesem Buch keine wohlfeilen Rezepte, wohl aber die wichtigsten Zutaten für das Gelingen ihrer niemals leichten Aufgaben finden.

von Leopold Bergmann

Blog_Autoren_Portrait_Strueber_Nicole

Über die Buchautorin: Dr. rer. nat. Nicole Strüber

arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen. Sie studierte Neurobiologie und Psychologie und promovierte 2012 im Bereich der Entwicklungsneurobiologie.