Georg Milzner
Die Renaturierung der Kindheit
Für eine bindungsorientierte Betreuung kleiner Kinder
tologo-Verlag
ISBN: 978-3940596741
218 Seiten
19,90 Euro
Kleinkinder würden niemals auf die Idee kommen, für sich selbst die Kita-Betreuung zu wählen. Warum Alternativen wichtig sind und welche es gibt, zeigt der Therapeut Georg Milzner in seinem neuen Buch „Die Renaturierung der Kindheit“ auf.
Bücher wie dieses müssten den Markt fluten. Sie hätten es verdient, die Bestsellerlisten zu stürmen und eine breite Leserschar zu erreichen. Leider ist das bei den allermeisten dieser hochgradig informativen, kritischen, scharfsinnigen und fachkundigen Bücher zum Thema Elternschaft/Kindheit nicht der Fall. Warum? Weil Eltern sich nicht gern den Spiegel vorhalten lassen? Weil es bequemer ist, im Mainstream mitzutrotten statt eigene alternative Lebens- und Betreuungsmuster zu entwickeln?
Therapeut, Familienvater und Autor
Das ist nicht nur schade, sondern in hohem Maße tragisch. Denn diese Bequemlichkeit geht – so führt Autor Georg Milzner in zwölf Kapiteln gut lesbar und ohne Fachlatein aus – leider zulasten von Kindern und letztlich auch Eltern. Milzner ist von Beruf Psychotherapeut und selbst Vater von vier Kindern, das macht die Lektüre so spannend: Er versteht es wunderbar, Beispiele aus seiner beruflichen Praxis mit Theorie und persönlicher Familienerfahrung zu vermischen. Das macht seine Thesen und Ausführungen glaubhaft und nachvollziehbar.
Kita-Kinder wirken seltsam klein
So sei dem Autor beispielsweise aufgefallen, dass viele Kinder, die ihm in Begleitung von Tagesmüttern begegnen oder die im frühen Lebensalter in die Kita gegeben werden, „auf seltsame Weise klein wirken“. So als würden ihre vitalen Energien sich nicht in angemessener Weise ausbreiten können, „weil da immer etwas um sie ist, das sie an der Ausdehnung hindert“. In der Körperpsychotherapie spreche man von einem „verhinderten In-die-Welt-Kommen“, weil der Rückzug nach innen noch vor der Ausdehnung nach außen erfolge.
Kita-Kinder sind anfälliger
Milzner sieht hier auch einen Grund dafür, warum früh fremdbetreute Kinder so auffallend oft kränker seien als die, die von ihren Müttern und Vätern betreut werden. Zwar werde die erhöhte Infektanfälligkeit normalerweise damit erklärt, dass die Kinder sich untereinander häufiger anstecken. „Aber das dürfte nur die halbe Wahrheit sein“, mutmaßt der Fachmann. Das Infektionsrisiko sei nämlich kaum geringer, „wenn das kleine Kind beim Einkaufen mit dabei ist, hier eine Kassiererin hüstelt und dort der Polizist, mit dem wir kurz plaudern, einen Schnupfen hat“.
„Seelische Immunität“ fehlt
Wahrscheinlicher sei, dass die „seelische Immunität“ nicht genügend ausgebildet sei infolge des Wegfallens der haltenden Nähe. Neuere Studien deuteten sogar darauf hin, betont Milzner, dass früh Fremdbetreute auch im Erwachsenenalter für bestimmte Krankheitsbilder eher anfällig seien. Um welche es sich handelt, sagt er leider nicht. Klar sei aber: Kindern werde mit der Kita „etwas zugemutet, was sie aus eigener Kraft nicht immer verarbeiten können“. Aber es scheine sich der Satz durchgesetzt zu haben „Da muss das Kind jetzt eben durch.“
Wo bleibt der Aufschrei?
Zwar gebe es mittlerweile hinreichend Protokolle, die „zeigen, dass die Fassade der menschlichen und mit ausreichend guten Fachkräften versehenen Kita nicht – oder oftmals nicht – der Wahrheit entsprechen“. Eigentlich wäre ein „Aufschrei“ zu erwarten, wenn Erzieherinnen dies sogar selbst preisgeben. „Dass dieser unterbleibt, ist das eigentlich Erschreckende“, kritisiert Milzner.
„Ich will nicht mehr leben“
In der Schweizer „Weltwoche“ erschien jüngst der brillante Artikel „Achtung, Kinderfeinde“. Autorin Sylvie-Sophie Schindler bringt darin aufrüttelnde, geradezu niederschmetternde Beispiele: ein achtjähriges Mädchen findet in ihren Eltern keine Gesprächspartner mehr, weil diese „nicht richtig zuhören“ und/oder ständig „mit dem Ohr am Handy hängen“. Ein sechsjähriger Junge reißt seinen Spielfiguren stolz die Köpfe ab und kündigt an: „Und morgen mache ich das auch bei meiner Mama und meinem Papa und meiner Lehrerin, weil sie nur Regeln und Schimpfen im Kopf haben.“ Eine Drittklässlerin bricht zusammen und weint: „Ich will nicht mehr leben. Es wird mir alles zu viel, immer dieser Druck.“ Ob sie mit den Eltern schon mal darüber geredet habe? „Ja, aber die sagen, ich soll mich nicht so anstellen.“
Kitas sind für Eltern da
Diese Kinder sind zwar allesamt schon jenseits des Kita-Alters. Aber die Beispiele zeigen, unter welch hohem Anpassungsdruck schon kleine Kinder heute stehen – auch Grundschulkinder sind schließlich noch nicht groß. Oftmals haben sie ja schon die anstrengenden Kita-Jahre hinter sich und kommen entsprechend konditioniert in die Schule. Dabei kämen Kinder „von sich aus gar nicht auf die Idee, dass es im Kleinkindalter großartig sein könnte, fern von der Familie mit vielen lauten anderen Kindern den Tag zu verbringen“. Kitas seien „auch niemals für das Wohl von Kindern eingerichtet worden“, sondern eben „für Eltern, die beide Vollzeit berufstätig sein möchten und oft das Gefühl haben, das auch zu müssen, sowie für eine Wirtschaft, die möglichst viele potenzielle Berberinnen und Bewerber auf dem Markt sehen möchte“.
Emotionale Abwehr
Wie kann es anders gehen? Im Schlusskapitel stellt der Autor einige alternative Betreuungsformen vor, bei der Eltern sich selbst untereinander vernetzen. Die digitale Welt macht es hier einfach, in Kontakt zu treten und zu bleiben. Zu berücksichtigen gelte aber auch, betont der Autor, dass Mütter, die früher selbst „minderbetreut“ waren, ihren eigenen Kindern nun oft nicht ungehindert volle Nähe anbieten oder diese Nähe gar mit ihrem Baby genießen können. Milzner weiß: „Es ist eine besonders effektive Form der emotionalen Abwehr, das Erlittene weiterzugeben.“
„Herzlicher und harmonischer“
Gleichzeitig mache es das Leid aber dauerhaft, und das spürten die Betroffenen auch. Als Therapeut „durcharbeite“ er mit den Müttern ihren Schmerz und lasse sie „in Trance das eigene innere Kind versorgen“, wobei im Idealfall der Vater sich um das Neugeborene kümmert und eine Beziehung zu ihm aufbaut. Nach so einer Trance entständen „beeindruckende Momente, wenn dann die jungen Mütter sich dem Kind ganz anders zuwenden, nämlich herzlicher und harmonischer“.

Über den Buchautor: Georg Milzner
Vater von vier Kindern aus drei Generationen, die er mit betreut hat. Er studierte Psychologie und Biologie und schloss das Studium mit dem Diplom in Psychologie ab. Als Psychotherapeut begleitet er seit vielen Jahren Erwachsene, Kinder und Jugendliche und setzt sich mit Frühstörungen und Bindungsschäden auseinander. Im Bereich der Hypnoanalyse interessiert ihn, wie der Mensch mentalen Zugang zu seinen unbewussten Kräften finden kann.