Emotionale Gewalt - Werner Bartens

Werner Bartens
Emotionale Gewalt
Was uns wirklich weh tut:
Kränkung, Demütigung, Liebesentzug und wie wir uns dagegen schützen
Rowohlt, Berlin 2018
ISBN: 978-3-737-10028-1
320 Seiten
20,00 Euro

Bevor ich Ihnen das Buch „Emotionale Gewalt“ von Werner Bartens näher vorstelle, möchte ich Sie ein wenig für das Thema sensibilisieren, denn es genügt nicht, wenn Sie ein entrüstetes „Oh je, wie kann man nur …“, ein bedauerndes „Die armen Kinder …“ oder ein mitfühlendes „Solche Menschen tun mir einfach nur leid …“ äußern, ohne zu erkennen, dass wir alle in schwacher oder auch stärkerer Weise selbst Opfer oder Täter sind:

Vor einiger Zeit wurde ich auf das Buch aufmerksam und unterhielt mich mit einer guten Kollegin in einem Café darüber. Ihr sechsjähriger Sohn war auch dabei. – Sie entrüstete sich über die Eltern, die kinderwagenschiebend an ihrem Handy klebten, während diese versuchten, Kontakt aufzunehmen und schließlich in eine Art emotionale Starre verfielen. – Sie bedauerte den gestandenen Mann, der mit dem Gefühl, überall zu stören, lebte, da er als Kind stets mit den Worten „Du bist … zu laut, zu viel, zu wenig, zu langsam …“ aufwuchs. – Und sie hatte Mitgefühl mit den im Buch beschriebenen Menschen, die in vielfältiger Weise Missachtung, Erniedrigung und mehr erfahren mussten.

Rums! Da fiel der Stuhl, auf dem ihr Sechsjähriger saß, um. Er hatte schon ein paar Mal gesagt, dass ihm langweilig sei. Meiner Kollegin schoss die Schamesröte ins Gesicht. Sie hob den Stuhl wieder auf uns sagte: „Mensch Jan, du wirst doch wohl einmal stillsitzen können, wenn ich mich unterhalte.“ Beschämt setzte sich der Junge wieder auf seinen Stuhl und bemühte sich …

Nachdem sie schließlich bei ihrem Sohn um Verständnis bat, stellten wir fest, dass wir alle – so reflektiert wir auch sein mögen – bei Überforderung dazu neigen „kurzen Prozess“ zu machen.

Wann sind Kränkungen, Missachtung und seelische Verletzungen als emotionale Gewalt zu bezeichnen?

Werner Bartens betont, dass sich das nicht endgültig sagen lässt, da sie nicht zuletzt vom subjektiven Empfinden abhinge. Ihm geht es vor allem um die alltäglichen Formen emotionaler Gewalt, die kleinen und großen Gemeinheiten, Zurückweisungen, Mobbing usw., die wie wohldosiertes Gift nicht gleich töten, sondern mürbe machen und Beziehungen in Familie, Gesellschaft, Kita, Schule und Arbeitsleben zunehmend zu einer psychischen Herausforderung werden lassen.

Da wären z. B. die vielen kontinuierlichen emotionalen Erpressungen, die dem „Machthaber“ Manipulation mit schneller egoistischer Lösung ermöglichen: Vergleiche mit anderen Kindern („Dein Freund kann doch auch schon seinen Namen schreiben.“ – „Streng dich an, sonst wird aus dir nichts.“), Erwartungen, die einem eigenen Zweck dienen („Mit deinem Verhalten blamierst du uns.“ – „Ich dachte, du hättest mich lieb! Dann sei anders …“), und weitere, die eine vermeintlich schnelle Auflösung erahnen lassen („Hör auf zu heulen“, „Wenn du so weitermachst, …“, „Geh in dein Zimmer, du nervst.“).

Werner Bartens nennt noch viele verschiedene Arten der emotionalen Gewalt, doch sie haben alle eines gemeinsam: Sie klagen einfach nur an und befreien den „Machthaber“ von jeder zeitlichen, beziehungsfördernden und empathischen Verantwortung.

Warum lassen wir uns so behandeln?

Wenn schon Kinder unter solchen kranken und falschen Bindungsvoraussetzungen groß werden, haben sie gelernt, dass sie sich selbst unter den Scheffel stellen müssen, um überhaupt gesehen zu werden. Ja, es ist eine Bindung, die auf krankhafte Art und Weise geknüpft wird und eine Abhängigkeit zur Folge hat: „Mach einfach nur, was ich sage, denn ohne mich wärest du nichts.“ – „Mach jede Woche 15 Überstunden, damit die Firma nicht kaputt geht, denn ohne sie könntest du dein Leben nicht bestreiten.“ – „Ich hab dich lieb, sofern du tust, was ich sage und brauche.“ Diese Menschen haben oft selbst emotionale Gewalt erfahren und wollen sich mit ihrem Verhalten davor schützen. Sie wählen eine der vielen Methoden, weil sie wissen, dass es funktioniert, wenn man eine Abhängigkeit schafft, die vermeintliche Sicherheit signalisieren soll.

Was ist es, was uns in solche Abhängigkeiten bringt?

Es ist die Angst des Kindes, dass seine Eltern es nicht mehr liebhaben könnten. Es ist die Angst des Arbeitnehmers, seinen Job zu verlieren. Es ist die Angst, ohne xy nicht leben zu können. Es ist die Angst, nichts Neues anfangen zu können.

„Schon Säuglinge“, so Werner Bartens [S. 112], „schütten vermehrt Adrenalin und Cortisol aus, wenn ihre Eltern sie nicht wahrnehmen. Der Puls schnellt in die Höhe, Unruhe erfasst den ganzen Körper, der Organismus wird in Alarmbereitschaft versetzt. (…) Die Kinder reagieren so gestresst, als befänden sie sich in größter Not.“

Wie schütze ich mich vor emotionaler Gewalt?

Die einzige Möglichkeit, emotionaler Gewalt zu entkommen, sei, dem Ausübenden die Macht zu nehmen. Das passiert zum Beispiel, wenn Kinder in die Pubertät kommen und sich mit der Zeit ihr eigenes Ich herausarbeiten. – Das passiert auch, wenn Ehepartner aus der demütigen Rolle aussteigen und eine eigene Haltung entwickeln. – Und es passiert, wenn etwa Arbeitsgeber erfahren, dass ihre Angestellten keine unbezahlten Überstunden mehr machen, in der Freizeit nicht mehr erreichbar sind oder gelernt haben, nicht mehr der „beste Arbeitnehmer“ aller Zeiten werden/sein zu wollen.

Auslöser und Weg für eine Machbefreiung können sein: Steigerung des Selbstwertes, Erkennen anderer Möglichkeiten, Perspektivwechsel, Weiterentwicklung und -bildung, Auflösen des Alleinstellungsmerkmals der Person, die emotionale Gewalt ausübt usw.

Die Folgen emotionaler Gewalt

Seit vielen Jahren nehmen psychische Erkrankungen in unserer Gesellschaft zu und mit ihnen auch die körperlichen. Emotionale Gewalt wirkt sich auf alle Organsysteme aus. Um nur einige wenige zu nennen: Kränkungen beeinträchtigen das Immunsystem, das Schmerzempfinden, schlagen auf den Magen oder lassen das Herz „flimmern“. Sogar die Knochen werden durch einen ständig erhöhten Spiegel an Stresshormonen in Mitleidenschaft gezogen.

Darüber hinaus verändern sie jene Strukturen im Gehirn, die für die Verarbeitung von Gefühlen und Erfahrungen zuständig sind und machen fragil für Veränderung und plötzliche Belastungen.

Liebe und Zuwendung sind Prävention für emotionale Gewalt!

Zweifellos sind Liebe und Zuwendung nichts, was man in Worte verpackt, ein bisschen Porto draufklebt und abschickt. Es ist etwas, dass dauernd passiert und sich wie ein vertrauter und beständiger Rhythmus durch die Kindheit (und auch durch das gesamte Erwachsenenleben) zieht und keinesfalls nur auf das Wochenende verschoben werden kann. Liebe und Zuwendung binden Menschen aneinander und machen sicher und konfliktfähig, angstfrei und ehrlich. Wer mit sicherer Liebe und Zuwendung aufwächst, schreckt vor eigenen Unzulänglichkeiten nicht zurück, lernt den Austausch und sichere Kommunikation und fühlt sich geborgen. Dann sind auch Regeln, die wir alle in unserem Gesellschaftsleben einhalten müssen, keine Vorgaben, die die eigene Persönlichkeit einschränken, sondern einfach nur eine Basis des hiesigen Zusammenlebens.

Werner Bartens beschreibt in seinem Buch treffend:

„Nähe und Zuneigung machen Kinder seelisch robuster und resistenter gegen Stress, die Nützlichkeit von liebevollem Kontakt ist (…) wissenschaftlich bewiesen.“ Dagegen bleibe die körperliche und seelische Widerstandskraft der psychisch Angeschlagenen zeitlebens geschwächt. [S. 48f.]

Fazit

Wer ein Stück weit bereit ist, an seiner eigenen Oberfläche zu kratzen und zum Keim seines Wesens vorzudringen, kann mit diesem Buch und ein wenig Reflexion wertschätzender mit sich selbst umgehen und zu einer gesünderen Gemeinschaft in unserer Gesellschaft beitragen. Ich möchte mit einem Zitat des letzten Absatzes aus Werner Bartens beeindruckendem Buch diese persönliche Sichtweise der Lektüre beenden. „Dass frühe Bindungen und verlässliche Beziehungen in Deutschland und vielen anderen westlichen Ländern noch lange nicht als wesentliche Grundlage des Miteinanders anerkannt und vor allem geschützt werden, erlebte (der Kinder- und Jugendpsychiater Karl Heinz) Brisch während einer Tagung in Neuseeland, an der auch einheimische Maori-Heiler teilnahmen. Die Maori baten alle Kongressbesucher zu Beginn des Symposiums, drei Dinge zu benennen, die eine Gesellschaft ihren Kindern als Wichtigstes mitgeben sollte. Die westlichen Bindungsforscher diskutierten ewig und fanden auch nach mehreren Stunden am Ende keinen gemeinsamen Nenner, auf den sie sich hätten einigen zu können. Die Maori waren sich nach nur einer halben Minute über die wichtigsten Punkte der Agenda einig: Caring, Sharing, Loving – sich kümmern, teilen und lieben.

von Beate M. Dapper

Werner Bartens © Alessandra Schellnegger - Süddeutsche Zeitung Photo

Über den Buchautor: Dr. Werner Bartens

geb. 1966, ist Journalist, Autor und Mediziner, außerdem Leitender Redakteur im Wissenschaftsressort der Süddeutschen Zeitung und Autor für das SZ-Magazin. Er studierte Medizin, Geschichte und Germanistik an den Universitäten Gießen, Freiburg, Montpellier (F) und Washington D.C. (USA) und ist Autor von mittlerweile über 20 Büchern, die zu einem großen Teil zum Beststeller wurden. www.werner-bartens.de