Während die folgende Rezension entstand, bat ich eine junge Mutter um einen kleinen Selbstversuch, den sie spontan mit ihrer kleinen Tochter (5) realisierte, als sie einmal ziemlich im Stress war:
„Ich hatte den ganzen Tag schon das Gefühl, meine Arbeit nicht zu schaffen und war froh, dass ich es pünktlich hinbekam, meine Tochter aus der Kita zu holen. Allerdings musste ich noch zur Post, um einen wichtigen Einschreibebrief abzugeben. Und das passte meiner Kleinen gar nicht. Sie wollte nach Hause und quengelte, zumal es auch noch regnete. Da sah ich eine Frau, deren Hund, den sie an der Leine hatte, ziemlich zog, und da kam mir eine Idee: Soll ich dir eine Geschichte erzählen? Noch immer recht unversöhnlich und nicht sonderlich begeistert sagte meine Tochter ‚Ja‘.
Es war einmal ein kleiner Hund, der wollte bei diesem fürchterlichen Regen draußen nichts lieber, als in seinem Körbchen liegenzubleiben und von Leckerlis, Sonne und Spielen mit seiner Freundin träumen. Aber sein Frauchen wollte mit ihm Gassi gehen. Und weil er ein braver Hund war, ging er mit, auch wenn er ziemlich schlecht gelaunt war und an seiner Leine so sehr zog, dass die Frau ganz lange Arme bekam. Deshalb beeilte sich die Frau, die in der einen Hand die Leine und in der anderen den Regenschirm trug, in den kleinen Park zu kommen, damit der kleine Hund sein Geschäft machen konnte. Und dann nix wie nach Hause.
Doch schon auf der Straße sah der kleine Hund einen Raben (meine Tochter und ich auch auf dem Weg zur Post), der hüpfte lustig und ein bisschen eingebildet auf dem Bürgersteig in Richtung Mülleimer. Denn davor lag ein Stückchen Brot, das er aufpickte und wegflog. – Ein Stückchen weiter huschte eine Katze durch einen Gartenzaun. Wahrscheinlich suchte sie unter dem Busch Schutz vor dem Regen, weil ihre Familie vergessen hatte, die Balkontür ein Stückchen aufzulassen. – Ein Stückchen weiter war eine riesige Pfütze, in der ein Spatz badete. Na, der hatte einen Spaß! – Und, und, und …
Schließlich sind wir zu Hause angekommen und waren beide glücklich. Meine Tochter ging sogar gleich in ihr Zimmer, holte alle möglichen Spielsachen raus und spielte unsere Abenteuertour zur Post und zurück nach.“
Solche kleinen, individuellen Alltagsgeschichten rund um kleine Erlebnisse und Erfahrungen des Kindes, schaffen Nähe, Geborgenheit, Vertrauen und letztendlich Bindung.
Das Autorenteam von „Erzählst du mir noch was?“ arbeitet seit 30 Jahren an und mit ihrer Methode des einfachen Geschichtenerzählens. Ein Gespräch oder ein Rat, eine Handlungsanweisung oder ein kleines Erlebnis, das verarbeitet werden will, hat das Ziel, beim Kind anzukommen und umgesetzt zu werden.
Solche Geschichten um die individuell-aktuellen Themen eines Kindes fließen wie Luft in seine Lungen. Es hat die Möglichkeit, sich mit ihr zu identifizieren, sie auf sich selbst abzustimmen und eine echte Motivation zum Handeln für sich selbst zu finden. Es geht ganz einfach um regelmäßige und spontane Mußeminuten unter dem Tisch, auf dem Tisch, im Auto oder auf dem Weg zum Einkaufen oder sonst wohin darum, eine Verbindung aufzubauen und nicht jeden in solchen Momenten in seiner eigenen Welt zu lassen, sondern eine gemeinsame zu kreieren.
Gerade in Zeiten, so betont das Autorenteam, in denen Kinder von Anfang an mit Sach- und Fachgeschichten zwecks Erlangung einer umfassenden Bildung konfrontiert werden, ist das lebensechte Geschichtenerzählen umso wichtiger geworden. Denn dort, wo Geschichten einen Raum haben, entstehen Verbindungen – zwischen Freunden, Familien und Kindern. In diesem Zusammenhang zitiert das Autorenteam Jonathan Gottschall aus dessen einflussreichem Buch „The Storytelling Animal“, dass
„Fiktion uns empathischer macht und uns besser dafür ausstattet, mit den Zwangslagen des Lebens umzugehen“.
Geschichten seien darüber hinaus die „Kostümproben für das echte Leben“ und „für einen Menschen wie Wasser für einen Fisch“.
Die Methode des Autorenteams ist das „intuitive Erzählen“. Sie beschreiben z. B. ihre „Geschichtenschleife“, die folgende Bewandtnis hat: Nehmen wir an, Ihre Kind ist traurig, weil es ein Freund beschimpft hat. Also erfinden Sie vielleicht (während der Autofahrt) ein anderes Auto, das traurig ist und nicht mehr hupen kann, weil sein Freund, das Auto aus dem Nachbarhaus, einen neuen Lack bekommen hat und sich nun viel schöner findet … Diese Geschichtenschleife erfordert nicht mehr als einen alltäglichen Gegenstand, die Erzählung einer fantasievollen Geschichte in Bezug zur aktuellen Situation und schließlich das Schaffen einer neuen Sichtweise.
Erzählen ist ein wirksames Hilfsmittel für den Bindungsaufbau zwischen zwei Menschen, zum Beispiel zwischen Elternteil und Kind, S 131.
„Brücken“ und „Türen“ ins Geschichtenland finden sich überall in der Umgebung des Kindes: Das kann das oben beschriebene Auto sein, aber auch eine Puppe, die die Erfahrung des Kindes spiegelt, ein Bauklotz, der ein Sprungturm für eine mutige Ameise sein kann, ein Schuh, mit dem ein Bärchen übers Meer reisen kann usw. – Ziel ist nicht die perfekte Geschichte, sondern die Verbindung zwischen Ihnen und Ihrem Kind. Denn solche Geschichten sind einzigartig – genau wie das Kind und Sie in diesem Moment.
Sie schenken ihm also im wahrsten Sinne des Wortes sich selbst – Ihre Konzentration, Ihre Liebe, Ihre Aufmerksamkeit.
Erzählst du mir eine Geschichte? – Diese Frage bzw. Bitte kann manchmal auch in Nöte bringen. Da ist der eine, der sagt, dass er keine Geschichten erzählen könne. Ein anderer gibt vor, dass ihm nie das Richtige einfiele. Und ein Dritter hat einfach keine Zeit „für sowas“. Beim Kind kommt an: „Ich hab` dir nichts zu sagen.“ – Andere versuchen, etwas ganz Spektakuläres hinzubekommen, vielleicht um mit dem einen oder anderen Buchhelden des Kindes mithalten zu können oder dem Kind zu beweisen, was er oder sie für ein toller Geschichtenerzähler ist. Aber bei all solcher Darstellungsweise verliert der Erzähler / die Erzählerin oft den Draht zu sich selbst und die Authentizität in Beziehung zum Kind.
Silke Rose West und Joseph Sarosy liefern mit ihrer eindrucksvollen Anleitung mit vielen Beispielen und Übungen eine nachahmenswerte Methode für alle möglichen Arten von Geschichten: der lösungsorientierten, der beruhigenden, der lehrreichen, der spannenden usw.
von Beate M.Dapper
Über die Buchautorin: Silke Rose West
ist gebürtige Deutsche und lebt heute in Taos, New Mexico. Sie ist Waldorfpädagogin und arbeitet seit über dreißig Jahren als Erzieherin. 1995 gründete sie die Taos-Waldorf-Schule und leitet heute den Waldkindergarten Taos Earth Children. Sie ist eine bekannte Geschichtenerzählerin und Puppenspielerin und berät pädagogische Fachkräfte und Bildungseinrichtungen.
Über den Buchautor: Joseph Sarosy
ist Autor und Pädagoge in Taos, New Mexico. Er schrieb bis 2019 für sein Blog offgridkid, das Magazin Fatherly und veröffentlichte das Buch A Father’s Life, das es 2019 in das Finale der NIEA Awards schaffte. Er initiierte die Kampagne #Greatdad, die großartige Väter aus dem ganzen Land porträtiert. www.howtotellstoriestochildren.com