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Sabine Seichter
Erziehung an der Mutterbrust
Eine kritische Kulturgeschichte des Stillens
Beltz/Juventa Verlag, Weinheim und Basel
ISBN: 978-3779929857
174 Seiten
19,95 Euro

Alles, was wir in seiner Gewordenheit sehen, bröckelt. Die Geschichte einer Sache führt uns vor Augen, dass sie auch anders hätte werden können, denn die Dogmen der Gegenwart sprießen aus den gefallenen Gewissheiten der Vergangenheit. Nichts, so scheint es, ist gottgegeben.

Sabine Seichter, Professorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft in Salzburg, hat eine Genealogie des Stillens verfasst, vom Altertum bis in die Neuzeit. Sie hat das Stillverhalten der Mütter erforscht, die Stilldauer, das Ammenwesen, die Formen künstlicher Säuglingsnahrung und die Säuglingssterblichkeit. Sie zitiert die Stimmen, die sich über die Jahrhunderte hinweg mit politischen, religiösen, und gesellschaftlichen Maßgaben und Erwartungen an die Mütter gerichtet haben, darunter Platon und Aristoteles, Katharina von Siena, Leon Battista Alberti, Martin Luther, Johann Heinrich Pestalozzi, Jean-Jacques Rousseau, Charles Darwin, Sigmund und Anna Freud, Melanie Klein, Johanna Haarer, John Bowlby und Mary White.

Quelle des neuen und ewigen Lebens

In der Antike galt die Brust der Frau als Quelle neuen und Symbol ewigen Lebens. Man ahnte, dass Muttermilch nicht nur den Körper, sondern auch die Seele des Kindes nähre. Im Judentum wurde das Stillen gar zu einem religiösen Gebot erhoben. Mindestens zwei, oft aber auch bis zu vier Jahre lang wurde dem Säugling die Brust gereicht, und zwar so oft, wie er danach verlangte. In dieser Zeit wurden Mutter und Kind vom Vater geschützt und umsorgt. In dem Maße, in dem das Stillen des Jesuskindes im Christentum die Menschwerdung Gottes symbolisierte, wurden die milchspendenden Brüste zum Sinnbild göttlicher Verheißung. Das Stillen war der höchste Ausdruck der Nächstenliebe. Auch im Mittelalter hielt man die Muttermilch nicht nur für nährend, sondern auch für charakterbildend.

Dennoch war schon damals das Ammenwesen weit verbreitet, und daneben gab es das mit Kuh- oder Ziegenmilch gefüllte „Saughorn“, auf den die abgeschnittene Zitze eines Kuheuters appliziert wurde, deren allmähliche Verwesung dem Kind Krankheit und Tod einflößte.

Die Verwissenschaftlichung des Stillens

In der Aufklärung brach schließlich die Vorstellung von der Bildsamkeit des Menschen als Menetekel über die Kinder herein. Ihre Affekte und Leidenschaften sollten gedämpft, ihr Wille gebrochen werden. Mit der Muttermilch, die Körper und Geist verbindet, sollte das Kind die bürgerlichen Tugenden einsaugen. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts rückte das Neugeborene endgültig in den Fokus der Naturwissenschaft. Fortan wurde es nüchtern quantifiziert, untersucht, vermessen, gewogen und mit Normen und Wachstumstabellen abgeglichen. Damit einher ging die Einführung starrer Stillzeiten, -pausen und zeitlich optimierter Sauglängen als Mittel zur Disziplinierung des Kindes und zur Erziehung für die bürgerliche Ordnung.

Im 20. Jahrhundert war überdies das Mutter-Kind-Verhältnis von einem Berührungstabu gekennzeichnet, und der Körper wurde als Ort des Lasters verdächtigt. Sigmund Freud, der die Bedeutung der körperlichen Verbundenheit zwischen Mutter und Kind würdigte, blieb noch lange ungehört. Die Brust, so Freud, stille auch des Kindes Bedürfnis nach Sicherheit, Lust, Verbundensein und Geborgenheit und präge damit sein späteres emotionales Verhalten.

Die Ideologisierung der Mutterschaft

Ehe Freud aber an Einfluss gewinnen konnte, kam es zur Ideologisierung der Mutterschaft im Nationalsozialismus. Die Mutter war Hüterin der deutschen „Blutsvermehrung“ und Garantin der „Rassenerhaltung“. Das Stillen war ihre „rassische Pflicht“, die es streng normiert und nach einer genau festgesetzten Zeitordnung zu erfüllen galt. Auf „Ordnung, Regelmäßigkeit, Pünktlichkeit und Sauberkeit“ kam es an.

Diese Strenge, Härte und Disziplin und der straff regulierte Zeit- und Mengenplan hielten sich noch bis in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Erst dann fassten im Westen Deutschlands Bindungstheorien und psychoanalytische Betrachtungen Fuß. Mit einem Mal gab es Stillberaterinnen, -gruppen und stillfreundliche Krankenhäuser. In diesen Kreisen kam das Stillen nach Bedarf wieder auf, und der Schutz und die Geborgenheit, die das Kind während des Stillens erfährt, wurden gesehen.

Die Geschichte des Stillens – ein Kaleidoskop der Irrungen und Wirrungen

Es ist ein aufschlussreiches Buch, das uns dieses verblüffende Kaleidoskop der Irrungen und Wirrungen vor Augen führt. Man schaut beim Lesen auf und fragt sich, wie nur in aller Welt ein allem Anschein nach so einfaches und natürliches Geschehen wie das Stillen eines Kindes solche Verwerfungen erfahren konnte.

Aber genau diese Frage stellt Seichter sich nicht. Sie fragt stattdessen, weshalb die „massive Propaganda für das Stillen“ weiter anhält, obwohl die industrialisierten Länder nicht mehr mit der hohen Säuglingssterblichkeit der Vergangenheit zu ringen haben. Sie fragt, ob es ernsthaft weiterhin Vertreter gebe, die behaupten, die Liebe der Mutter könne nur durch ihre Milchdrüsen fließen. – Nein, Frau Seichter, in dieser Ausschließlichkeit wohl kaum. Die Liebe der Mutter fließt unter anderem durch ihre Stimme, durch ihre Nähe, durch die Hingabe, mit der sie sich ihrem Kind widmet. Aber sie fließt eben auch – und in besonderem Maße – im Akt des Stillens. Und das eine tun, heißt nicht, das andere lassen.

Zwar wäre nichts einzuwenden gegen die von Seichter geforderte Einrichtung von Beratungsstellen bezüglich künstlicher Säuglingsersatznahrung für diejenigen Frauen, die ihr Kind – gewollt oder ungewollt – nicht stillen. Dasselbe gilt übrigens auch für das Thema Kaiserschnitt, das in den Geburtsvorbereitungskursen oft nur stiefmütterlich gestreift wird.

Die Renaissance des Stillen – eine Bedrohung der Gleichberechtigung?

Doch Seichter sieht die Debatte um das Stillen als Gefahr für die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Aber bedeutet denn Gleichberechtigung zwangsläufig auch Gleichheit? Bedeutet sie nicht vielmehr, dass das, was Frau und Mann voneinander unterscheidet und sie jeweils auszeichnet, gleichermaßen seine Berechtigung und Bedeutung hat?

Frauen, die viel Zeit und Intensität aufwenden, um ihr Kind nach Bedarf zu stillen, sind, so Seichter, vom Bildungs- und Berufswesen zwangsweise weitgehend ausgeschlossen. – Aber Bildung wird nicht allein in Hörsälen vermittelt. Gebildet werden wir im Wortsinn durch das, was uns berührt, prägt und formt, mithin durch das, was wir lieben. Und auch ein Beruf muss nicht auf den Gelderwerb beschränkt sein. Erst wenn er eine vocatio ist, der Ruf für ein Amt, eine Lebensaufgabe – wenn auch nur für wenige Jahre –, erst dann geht er uns wirklich etwas an.

Die Studie leitet ein mit der Botschaft, dass der Streit über Brust oder Flasche sich immer an der Bestimmung von Mutterschaft qua Natur oder Kultur entzündet habe, und sie endet mit dem Fazit, dass wir zwar Säugetiere seien, aber dennoch über die Form der Ernährung unseres Nachwuchses frei und selbstbestimmt entscheiden können.

Fürwahr! Aber wenn das heißen soll, dass eine Entscheidung gegen das Stillen eine Höherentwicklung darstelle, dann wird damit die Polarität von Natur versus Kultur nicht aufgehoben, sondern perpetuiert. Erst, wenn es uns gelingt, uns auf dem Umweg über die Selbsterkenntnis – dem Gnothi seauton, dem Ursprung und Ziel einer jeden Kultur – mit unserer Natur auszusöhnen, werden wir, wer wir sind. Und dann werden wir auch unsere Kinder nicht mit Substituten abspeisen, sondern sie im Einklang mit sich selbst und mit ihren Urbedürfnissen wachsen lassen.

von Dr. phil. Leila Kais

Über die Buchautorin: Sabine Seichter

Sabine Seichter, Jg. 1981, Dr. phil. habil., ist ordentliche Universitätsprofessorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Paris-Lodron Universität Salzburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Geschichte und Theorie von Erziehung und Bildung, historisch-kulturwissenschaftliche und personalistische Konzeptionen pädagogischer Anthropologie.