Erziehung zur Weltoffenheit - Claus Koch

Claus Koch
Erziehung zur Weltoffenheit
Zoes Geschichte
Patmos Verlag
ISBN: 978-3843613613
184 Seiten
20,00 Euro

Claus Kochs Roman „Erziehung zur Weltoffenheit. Zoes Geschichte“ erzählt die Entwicklung einer jungen Frau von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter. Vorbild ist der Roman „Émile oder Über die Erziehung“ von Jean-Jacques Rousseau

„Mein Leben fing an, wenn die Kita schloss“

Ein Erziehungsratgeber in Romanform – kann das gelingen? Claus Koch, Diplom-Psychologe und langjähriger Verlagsleiter für den Bereich Sachbuch beim Beltz Verlag, hat es probiert. Sein Buch „Erziehung zur Weltoffenheit: Zoes Geschichte“ ist nach eigenen Angaben inspiriert durch den wohl bekanntesten Erziehungsroman der Geschichte: Jean-Jacques Rousseaus „Émile“. Genau wie das französische Vorbild hat es fünf Kapitel, in denen die verschiedenen Entwicklungsstadien des Protagonisten – in diesem Fall der Protagonistin Zoe – miterlebt werden können.

Wer die Lektüre mit dem ersten Satz unter der Überschrift „Wie dieses Buch entstanden ist“ startet, der könnte meinen, der Autor berichte hier über eine ihm bestens vertraute Person, die er eine Zeit seines Lebens real begleitet habe. Genauer: ein Kind, das er anfangs intensiv betreut und in späteren Jahren wiedergetroffen habe. Das ihm als junge Erwachsene seine Aufzeichnungen überlassen und damit seiner Entwicklungsgeschichte zum Licht der Öffentlichkeit verholfen habe.

Weltoffenheit gibt es nicht auf Rezept

Entscheidend zum Verständnis der Entstehungsgeschichte des Buchs ist jedoch die davor geschaltete Seite mit dem Vermerk „Diese Geschichte ist frei erfunden, wie auch der, der sie uns als Begleiter Zoes erzählt. Dem liegt zugrunde, dass sich ein Kind Weltoffenheit nicht verordnen lässt, weder von seinen Eltern noch vom Autor dieses Buches. Denn sie formt sich wie in Zoes Geschichte jeden Tag von Neuem, strikte Anleitung und rezeptartiges Wissen stehen dafür nicht zur Verfügung – nur das eigene Leben (griechisch: zoe) selbst.“

Damit ist klar: Claus Koch hat hier einen Roman und keine biographische Dokumentation verfasst. Er hat sich damit alle Freiheiten der Welt genommen, die diese fiktive Erzählform ermöglicht, und dem üblichen Ratgebersingsang keinen weiteren Regalband hinzugefügt. Kochs Buch beschreibt,

wie ein Kind in die Welt hineinwächst und dabei Neugier und Verständnis für das anfangs noch Unbekannte entwickelt. Es handelt davon, wie eine Erziehung zur Weltoffenheit gelingt.

Dass dieser Weg gerade nicht über standardisierte, gesellschaftlich erwünschte, und etablierte Vorgaben und Verhaltensmuster führt, sondern nur individuell vorgezeichnet, gesucht, gefunden und beschritten werden muss und kann, und zwar von jedem kleinen Menschen einzeln in Begleitung verständnisvoller Bezugspersonen, mit allen Irrungen und Wirrungen, die dazu gehören, beschreibt dieser Roman mit wunderbarer Ruhe und Einfühlsamkeit. Der Psychologe Koch zieht hier alle Register seiner fachlichen Kompetenz und seines sprachlichen Einfühlungsvermögens.

Erzieherinnen: ein „komisches“ Kind

So wird die Kita-Zeit für Zoe, die in einem freien Elternhaus in dörflicher Natur aufgewachsen ist, zur echten Qual. „Stundenlang habe ich mich ans Fenster gesetzt und nur noch raus in den kleinen Garten vor dem Haus gesehen, in dem ich untergebracht war. Die Erzieherinnen sprachen von mir untereinander als einem ‚komischen‘ Kind, ein bisschen ‚verrückt‘. Ganz laut und offen, so dass ich es hören konnte.“ Und weiter heißt es: „In dieser Kita fühlte ich mich einsam, obwohl doch so viele andere Kinder um mich herum waren. (…) wenn ich nicht spielen wollte, musste ich spielen. Wenn ich nicht basteln wollte, musste ich basteln. Wenn ich nicht malen wollte – obwohl ich es gerne tat -, musste ich malen. Und wenn ich nicht schlafen wollte, musste ich schlafen.“

Es geht einem zu Herzen, wenn man dies liest und zugleich weiß: so wie Zoe geht es vielen, vielleicht den allermeisten Kindern in Kitas im ganzen Land tagaus, tagein, immer wieder, von morgens bis abends. Wer hört diese armen Wesen, wer interessiert sich für ihre Ängste und Nöte? Die Kita sei ein „Bruch mit der Freiheit“ gewesen, lässt der Autor Zoe im Rückblick berichten. „In der Kita waren nur Lärm und Durcheinander, ständig laute Geräusche, die ich bislang nicht gekannt hatte. (…) Ich fühlte mich als Fremde dort, wegen dieses Krachs und der ganzen Unruhe um mich herum.“ Geradezu schockierend und doch so nachvollziehbar lautet Zoes Bekenntnis: „Mein Leben fing, wenn die Kita schloss, zu Hause erst richtig an.“

Störenfriede in der Kita

Wenn man bedenkt, dass viele Kinder unter drei Jahren heute den Großteil ihres Tages – im Osten sind es mittlerweile 45 bis 50 Stunden pro Woche – in Kitas verbringen und ähnliche Erfahrungen wie Zoe dort machen, ist es erschreckend, wie wenig „Leben“ sie tatsächlich als Kinder noch genießen dürfen. Der Autor stellt Zoe ein männliches Pendant an die Seite: Ben. „Ben kam mit der Kita genauso wenig klar wie ich, aber bei ihm war es anders.“ Während Zoe sich zurück zog, ging Ben „in die Offensive, eigentlich immer nur, um gesehen und gehört zu werden“. Alle Kita-Eltern kennen solche Kinder. Meist werden sie als lästige Störenfriede des Betriebsklimas Kita wahrgenommen und behandelt.

In Kochs Roman wird aus der frühen Kita-Freundschaft eine spätere Liebesbeziehung. Und wie es sich für einen echten Roman gehört, gibt es auch ein Happy End: aus dem unbeliebten „hässlichen Entlein“ Ben wird ein profilierter Computerspezialist, der in der US-amerikanischen Forschung mit offenen Armen empfangen und fortgebildet wird. Die Zukunft des jungen Paars bleibt zwar offen, aber die Leser beschleicht das beruhigende Gefühl: die beiden haben es irgendwie geschafft und werden ihr Leben – vermutlich – auch weiter gemeinsam bewältigen.

Mit dieser Vision endet der Roman – aber noch nicht das Buch, denn zum Schluss kommt doch noch ein bisschen Ratgeber hinzu. Entsprechend der einzelnen Kapitel werden in einem separaten Anhang Erkenntnisse etwa aus der modernen Bindungstheorie und Säuglingsforschung beschrieben. So wird deutlich, was ein Mensch braucht, um geborgen, frei und weltoffen aufzuwachsen.

Lohnende und unterhaltsame Lektüre

Kochs Buch ist ein mutiger Versuch, der Geschichte vom Aufwachsen der Kinder und deren (notwendiger) Begleitung (nicht Erziehung, denn an Kindern zieht man nicht) durch Erwachsene ein neues Gewand zu verleihen. Die Romanform liest sich flüssig, bisweilen allerdings etwas betulich. Zudem könnte der Fokus auf eine einzelne Lebensgeschichte (Zoe/Ben) Skepsis hinsichtlich einer pädagogischen Verallgemeinerung hervorrufen. Dieses Risiko ist der Autor aber wohl bewusst – und zu Recht – eingegangen. Das Ergebnis ist in jedem Fall eine sehr lohnende und auch unterhaltsame Lektüre.

von Birgitta vom Lehn

Claus Koch

Über den Buchautor: Dr. phil. Claus Koch

Diplompsychologe und Autor, geb. 1950, Studium der Philosophie und Psychologie in Heidelberg und Paris. Promotion in Heidelberg zur Phänomenologie psychischer Störungen und Krankheiten. Er ist verheiratet und hat vier Kinder. Bis Juli 2015 war er Verlagsleiter für den Bereich Sachbuch und Elternratgeber beim Beltz Verlag in Weinheim. 2015 gründete er zusammen mit Udo Baer das „Pädagogische Institut Berlin“ (PIB). Jahrelange wissenschaftliche Tätigkeit mit dem Schwerpunkt Entwicklungspsychologie des Kindes und Jugendlichen unter psychoanalytischen und bindungstheoretischen Gesichtspunkten, u. a. mit einem Lehrauftrag an der Universität Bielefeld. Zahlreiche Vorträge, Buchveröffentlichungen und Artikel in Fachzeitschriften. Vorstandsmitglied des „Archiv der Zukunft“ (AdZ). Webseiten: Claus Koch, Pädagogisches Institut Berlin (PIB), Zukunftswerkstatt therapie kreativ