Generation lebensunfähig - Rüdiger Maas

Rüdiger Maas
Generation lebensunfähig
Wie unsere Kinder um ihre Zukunft gebracht werden
Münchner Verlagsgruppe – Yes Publishing
ISBN: 978-3-96905-071-2
224 Seiten
19,99 Euro

Der Psychologe für Generationenforschung berät seit vielen Jahren Unternehmen, deren Nachwuchskräfte andere Erwartungen und Vorstellungen haben und Unternehmen schon nach kurzer Zeit wieder verlassen oder die Ausbildung bzw. ein Studium abbrechen. Diese Erkenntnis und mehr waren für Rüdiger Maas Grund genug, mit seinen Forschungen, die bisher eher um die Erwachsenengenerationen kreisten, schon bei Kleinkindern zu beginnen, um den Ursachen auf die Spur zu kommen.

Wie unsere Kinder um ihre Zukunft gebracht werden

Und so zeichnet er in seinem Buch „Generation lebensunfähig“ z. B. das Schreckensszenario der kleinen Emma und nimmt seine Forschungsergebnisse als Basis für sein „Bild“. – Etwas befremdlich wirken der laute Stil des Buches, das scheinbare Armageddon für die Menschheit und die negative Gewichtung seiner Darstellungen. Immerhin stehen den zum Teil beängstigenden erforschten Prozentsätzen ein oft sehr viel höherer Anteil an sich gut entwickelnden Kindern gegenüber – Kinder, die dann eben nicht wie Emma spätestens im frühen Erwachsenenalter ohne Mitgefühl, Menschengefühl und unglücklich in dieser Welt stehen.

Im Spiegel der Notwendigkeit einer schnellen Kurskorrektur erklärt der Autor in einem Interview mit Gina Louisa Metzler, warum er das tut: „Mein Buch soll wachrütteln, daher auch dieser alarmierende Titel. Wir haben jetzt die erste Elterngeneration, die sehr digitalaffin ist. Das heißt, die Kinder, die heute aufwachsen, können sich ein Leben ohne Smartphone und Co. gar nicht mehr vorstellen. Dadurch werden wir eine andere Zukunft haben. Aus vielen unterschiedlichen Gründen gehen wir auch davon aus, dass die Kinder weniger glücklich sein werden als die Kinder früherer Generationen,“ Focus, 30.3.2022.

Begonnen hat diese Entwicklung natürlich nicht erst jetzt – mit Emma, sondern schon vor 25 – 40 Jahren. Sie wurden von den sog. Helikopter-Eltern erzogen und wurden zur Generation „Why“ (Y), die heute auf Sinnsuche sind, nachdem sie Traditionen, altes, aber oft bewährtes Denken und […] auf den Kopf stellen und aus „Work-Life-Balance“ eine Art „Work-Life-Blending“ wurde.

Internet(te) Lösungen: Schnell, effektiv, ohne Tiefe und Muße

Emma ist wie gesagt ein erfundenes Beispiel, dass er mit all seinen Forschungsergebnissen „füttert“. Die Eltern nennt er Martina und Johannes. Sie haben das Ziel, nur das Beste auf allen Ebenen für Emma zu wollen und beginnen die „Erziehungsreise“ schon während der Schwangerschaft – auch digital natürlich. Martina und Johannes sind Ende 30 und gehören zur ersten Generation, die googelt und nicht mehr vom qualitativen Erfahrungswissen der älteren Generation profitiert. Die Folge ist gerade in der realen Welt nicht selten Verunsicherung nach dem Motto: Der Eifelturm hinterlässt einen anderen Eindruck, wenn man persönlich davorsteht.

Beispiel: Die Bewertungsportale, die letztendlich oft zu Entscheidungen führen, liefern nicht immer, was sie versprechen und vor allem, was den eigenen Vorstellungen entspricht. Und so wird schon die „beste Kita“, die „ideale Babyausstattung“ und vieles mehr bereits weit vor der Geburt (digital) anvisiert und realisiert – natürlich begleitet von x Followern, die über jeden Zentimeter Babybauch informiert werden.

Der mediale Hype endet natürlich nicht, als Emma das Licht der Welt erblickt hat. Er geht nur in die nächste Phase. […] Alles wird fotografisch dokumentiert, gepostet und gelikt. Rüdiger Maas betont:

„Macht Emma in Zukunft etwas und wird dabei nicht aufgenommen, zeigt ihr das, dass ihr Verhalten nicht ‚besonders‘ war. Folglich wird Emma in Zukunft vermehrt Verhaltensweisen zeigen, die dazu führen, mit dem Handy aufgenommen zu werden.

(Neueste Studien zeigen übrigens, „dass wir uns, je mehr Fotos wir von einem Ereignis machen, desto schlechter an dieses Ereignis erinnern können …). Bei nüchterner Betrachtung bleibt vieles auf der Strecke – etwa die wirklichen Emotionen, die wir bei diesem Ereignis empfunden haben“, S. 39.

Die digitale Entwicklung, die relativ ungefiltert über uns hereinbricht und eine Differenzierung zwischen Nutzen und Unnutzen sehr schwer macht, hält uns in Schach. Digitale Kommunikation frisst viel Zeit. Zeit, die fehlt, um sich z. B. mit Emma zu beschäftigen, zu spielen, spazieren zu gehen – für das analoge Leben eben, das für diese Generation eine immer geringere Rolle spielt, S. 57.

In den USA haben etwa 80 % der Kleinst- und Kleinkinder ein internetfähiges Smartphone zur Verfügung. In Deutschland sind es immerhin 70 % der 2 und 3 Jahre alten Kinder, die täglich mindestens eine halbe Stunde das Smartphone der Eltern benutzen dürfen. 8 % dieser Kinder besitzen tatsächlich schon ein eigenes Gerät, S. 58.

Und vielleicht noch eine bedenkliche Zahl: Während der Pandemie waren Jugendliche im Schnitt über 70 Stunden pro Woche online, vgl. Postbank Digitalstudie 2021. Das entspricht etwa 8 Stunden Schlaf, 10 Stunden online, 6 Stunden analog.

Überbehütung hat dieselben Konsequenzen wie Vernachlässigung!

„Überbehütung“, so der Autor, „gilt als Erziehungsstil, der es den Kindern aufgrund von Sicherheitsbedenken der Eltern nicht möglich macht, altersentsprechende Erfahrungen zu sammeln, was zum Beispiel zu einer geringen Frustrationstoleranz bei den betroffenen Kindern führen kann.“ Sie betrifft schon Kinder zwischen anderthalb und 3 Jahre, wenn sie z. B. aus einem übertriebenen Beschützerinstinkt heraus ständig ausgebremst oder betüddelt werden. Folge ist, dass es schon in diesem Alter zwischen Autonomie(wunsch), Selbstzweifel und schließlich Schuld- und Minderwertigkeitsgefühl schwimmt. Das Ganze steigert sich im Laufe der Jahre, bis das Kind bzw. die/der Heranwachsende sich an das erfahrungsfreie Leben gewöhnt hat und entweder Anpassung oder Rebellion lebt.

Die Befragung von 1.000 Erzieherinnen und Erziehern sowie über 650 Eltern hat ergeben, dass über 15 % der Kinder komplett überbehütet sind. Bei 8- bis 9-jährigen Jungen sind es sogar 26,8 %, wie Grundschullehrkräfte beobachten, Studie 2021, ebd. S. 48.

„Solche Kinder“, so zitiert Rüdiger Maas Wolfgang Bergmann, „wissen nichts über andere Menschen und nichts über sich selbst. Sie wissen nicht, was es heißt, traurig oder frustriert zu sein, sie kennen deshalb kein Mitgefühl“, S. 85.

Die Folgen für Psyche und Lernentwicklung

Man könnte im Spiegel des Buches nun glauben, dass da gerade eine Narzissmusgeneration heranwächst, aber das, was wir Narzissmus nennen, ist in den letzten 25 Jahren sogar zurückgegangen, S. 43 f. Dafür ist der Anteil an psychischen Störungen drastisch gestiegen: 23 % Anpassungsstörungen und Reaktionen auf schwere Belastungen, 18,4 % Depressionen und 14 % Angststörungen. – Woher das kommt, fragt man sich, wo doch Emma alles bekommt, was ihre Entwicklung fördern könnte, sie nahezu ausschließlich gelobt wird (ob für Angemessenes oder auch Unangemessenes), sie niemals unbetreut ist und ihr jegliche schlechten Erfahrungen erspart werden …

Zeitmangel einerseits und Überbehütung andererseits haben auch Folgen für die Bildungsentwicklung. Krippenkinder haben keinen altersentsprechenden Wortschatz mehr und haben Schwierigkeiten, Aufgaben und Anweisungen umzusetzen. Eine beachtliche Zahl von 38,2 % der Kitakinder haben dementsprechend starke Auffälligkeiten beim Sprechen. Auch was die selbstständige Austragung von Konflikten und Konfrontationen angeht, scheuen Kinder die Auseinandersetzung. Sie haben gelernt, dass ihre Eltern alles für sie regeln …

Kleiner Exkurs: Im 7. Quartalsbericht II/2022 er Corona-KiTa-Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) und des Robert Koch-Instituts (RKI) werden die Ausmaße (auch aus der Perspektive des Kitapersonals) für die Zukunft sichtbar. Dort heißt es: „Trotz großem Engagement gelang es Kindertageseinrichtungen unter den schwierigen Rahmenbedingungen seit Beginn der Pandemie zunehmend weniger, den pädagogischen Kernaufgaben der sprachlichen, sozio-emotionalen und motorischen Förderung nachzukommen. Während im Oktober 2020 35 % der Kita-Leitungen einen Anstieg an Kindern mit Förderbedarf in der sprachlichen Entwicklung sahen, waren es im Zeitraum von April bis Juni 2021 43 % und im Frühsommer 2021 über die Hälfte (53 %). Auch bei der sozio-emotionalen Förderung gaben im Frühsommer 2021 mit 62 % knapp zwei Drittel der KiTa-Leitungen an, dass mehr Kinder Förderbedarf aufweisen als vor der Pandemie.“

Doch wo ist die Lösung?

In diesem Fall bleibt uns der Autor Informationen und mögliche Wege weitgehend schuldig. Er benennt in der Pädagogik zwei Dimensionen, die das elterliche Erziehungsverhalten kennzeichnen: die Zuwendung und die Strukturierung oder Lenkung, ebd. S. 62, wobei mit Zuwendung natürlich nicht die sog. Überbehütung gemeint ist, sondern eher die zeitaufwendigere Montessori-Aussage „Hilf mir, es selbst zu tun“.

Einen weiteren Ansatz sieht er in der Feststellung des Soziologieprofessors Jan Delhay:

Glück ist von drei gleichwertigen Faktoren abhängig – einem Drittel HABEN, einem Drittel LIEBEN und einem Drittel SEIN, S. 76.

Das von Rüdiger Maas gezeichnete Bild ist voller Farben des Habens. Liebe, die sehr viel Vertrauen, Beständigkeit, Zeit, Streit, Zuwendung … braucht, um zu wachsen, zu gedeihen und eine Basis der Sicherheit zu geben, ist im Sinne des Begriffs wenig vorhanden, wenn man nicht dazu neigt, Geben, die Bemühungen, beste Freunde zu werden oder gar dem vermeintlich geliebten Kind jede Schwierigkeit aus dem Weg zu räumen, mit Liebe verwechselt. Ja und dann bleibt noch das Sein, das unter dieser o. ä. Vorstellung von Liebe und dem Geben zum Zwecke des Habens wenig Raum zum eigenen Erkennen und Wachsen des Seins gibt, da wirklich eigene Erfahrungen – vor allem die weniger guten – aus dem Leben des Kindes eliminiert werden. (Überbehütung hat also nichts mit Liebe zu tun und führt zu einer geringen Frustrationstoleranz und Resilienz, S. 83.)

Es gibt mindestens zwei Arten, das Buch zu lesen:

  1. Es zum Anlass zu nehmen, sich aufzuregen, die Erkenntnisse marktschreierisch und das eigene Profil fördernd analog oder digital zu verbreiten mit dem Ziel, Entsetzen, Resignation oder Weltverschwörer auf den Plan zu rufen.
  2. Es zum Anlass zu nehmen, die Entwicklung zu reflektieren und Lösungen für eine menschenwürdige und natürliche Gesellschaft zu ermitteln.

Möge es eher zur zweiten Art bei Verantwortlichen, bei Eltern, ErzieherInnen, Lehrkräften und anderen motivieren …

von Beate-M. Dapper

Rüdiger Maas

Über den Buchautor: Rüdiger Maas

hat Psychologie und Philosophie in Deutschland und Japan studiert. Er forschte und arbeitete ein Drittel seines Lebens im Ausland. Seit 2012 erforscht er mit seinem Team Kohorten- und Gruppenverhalten sowie generationenbedingtes Verhalten und gründete hierzu das Institut für Generationenforschung. Schwerpunkte der Forschung liegen auf der gegenseitigen Beeinflussung der Generationen, etwa in der Erziehung, aber auch beim Umgang miteinander in Unternehmen oder in der Gesellschaft. Mit seinen zahlreichen Fachbüchern und Vorträgen ist Maas inzwischen der bekannteste Generationenforscher Deutschlands.