
Jesper Juul
Liebende bleiben
Familie braucht Eltern, die mehr an sich denken
Beltz Verlag
ISBN: 978-3-407-86440-6
251 Seiten
18,95 Euro
Jesper Juul ist ein Superstar. Er füllt Hallen mit Hunderten von Zuhörern. Seine Bücher sind Bestseller. Er trifft wohl einen Ton, eine Saite in der derzeitigen elterlichen Gemütslage – vor allem in Deutschland.
Das gilt auch für das hier besprochene Buch „Liebende bleiben. Familie braucht Eltern, die mehr an sich denken“. Es stößt in der deutsche Presse, aber auch bei privaten Rezensenten, etwa auf amazon, auf positive Resonanz, die ich allerdings so uneingeschränkt nicht teilen kann.
Gedanken zu Familie und Partnerschaft
Kernstück des Buches bilden sieben Beratungsgespräche, die Juul mit Eltern führte und die im Buch schriftlich wiedergegeben werden. Umrahmt werden diese Gespräch von Juuls Gedanken zu Familie und Partnerschaft, wobei er einem Gedanken besonderen Platz einräumt, nämlich der Vorstellung einer intuitiven Bindung von Kindern an ein Elternteil. Das Buch ist also kein klassischer Ratgeber für Paare, sondern eher ein Jesper Juul-Klassiker mit Schwerpunkt Paarbeziehung.
Seine Grundaussagen zur Kindererziehung sind hoffnungsvoll: „Kinder werden mit allen sozialen und menschlichen Eigenschaften geboren. Um diese weiterzuentwickeln, brauchen sie nichts als die Gegenwart von Erwachsenen, die sich menschlich und sozial verhalten. Jede Methode ist nicht nur überflüssig, sondern kontraproduktiv, weil sie die Kinder für ihre Nächsten zu Objekten macht.“
Beziehung der Eltern zueinander prägt die kindliche Entwicklung
Entsprechend dieser Aussage verweist er darauf, dass die Art wie die Eltern miteinander umgehen, welche Atmosphäre in der Familie herrscht, wesentlich ist für das Wohlergehen und die Entwicklung der Kinder. Dies ist auch der Grund für das im Titel formulierte Anliegen seiner jüngsten Veröffentlichung: „Liebende bleiben. Familie braucht Eltern, die mehr an sich denken.“
Während der theoretische Teil des Buches und die darin enthaltenen Empfehlungen sehr konstruktiv sind, sträuben sich mir beim Lesen der Beratungsgespräche an manchen Stellen die Nackenhaare. Zwei Beispiele für solche haarsträubende Stellen seien hier genannt. Beide Beispiele stammen aus dem Gespräch mit einer Familie mit einem dreijährigen Sohn und einer einjährigen Tochter.
Einzelne Ratschläge erscheinen lieblos und wenig konstruktiv
In der ersten Stelle empfiehlt Juul der Mutter darauf, dass ihr Sohn die kleine Schwester beim Spielen ohne Anlass in die Wange gebissen hat, wie folgt zu reagieren: „[Sag nur] ‚Hör auf mit dem Beißen, das will ich nicht.‘ Fertig, kein Wort mehr. “
Später, als das Gespräch auf eine Situation kommt, in der die Mutter mit der Kleinen kuschelt und der Junge sich dazu drängen möchte, empfiehlt Juul: „Sage zu ihm: ‚Ich kuschele jetzt mit deiner Schwester und will nicht mit dir kuscheln.'“
Für mich sind diese Reaktionen lieblos und wenig konstruktiv. Soll der Junge die kleine Schwester nicht beißen, weil die Mutter es nicht will? Und wie wird die offensichtliche Eifersucht des Jungen sich entwickeln, wenn die Mutter ihm sagt: „Ich kuschele jetzt mit deiner Schwester und will nicht mit dir kuscheln.“? Wie kann man diese empfohlenen Reaktionen in Einklang bringen mit dem in der Theorie empfohlenen menschlichen und sozialen Verhalten?
Den praktischen Teil des Buches – der dessen Kernstück ausmacht – halte ich also für fragwürdig.
Hilfreiche Philosophie
Hilfreich hingegen ist die Philosophie die hinter Juuls Aussagen steht:
- Juul macht deutlich, dass die Art, wie die Eltern miteinander umgehen, starken Einfluss auf die Kinder und die Familiendynamik hat.
- Ebenso deutlich macht er, dass es sinnlos ist, Erwartungen an einen Partner zu stellen, diese jedoch nicht zu äußern. Erwartungen müssen immer klar formuliert werden, damit der Partner überhaupt die Chance hat, diesen zu entsprechen. Im Endeffekt, so betont Juul, ist es aber immer die Entscheidung des anderen, ob er bereit ist, diese Erwartungen zu erfüllen oder nicht.
- Für sehr wichtig hält er es auch, den Partner so anzuerkennen, wie er ist. Man kann ihm Unterstützung anbieten, um ihn bei der persönlichen Entwicklung zu begleiten, aber der Partner allein entscheidet, ob er diese auch annimmt. Wichtig sei auch, die Andersartigkeit des Partners in seiner Persönlichkeit und Wahrnehmung und den damit entsprechenden Konsequenzen für die Kindererziehung anzuerkennen.
- Juul ist wichtig, dass jeder Partner für sich und sein Verhalten verantwortlich ist. So verweist er auch darauf, dass ein Elternteil, das Depressionen hat oder alkoholabhängig ist, verantwortlich dafür ist, sich professionelle Hilfe zu holen.
- Außerdem betont Juul, dass die Kindererziehung nicht im Mittelpunkt der elterlichen Beziehung stehen soll. Zum einen hätten Eltern auch das Recht auf Zweisamkeit, zum anderen fühlten sich die Kinder schuldig, wenn sie zentrales Streitthema dar Eltern wären.
Manchem mögen diese Aussagen wie Binsenwahrheiten vorkommen und in der Tat sind sie dies – dennoch übersehen es viele Menschen gerne, wenn es um die eigene Beziehung geht und insofern kann dieses Buch als Erinnerungsstütze und/oder Denkanstoß empfohlen werden – vorausgesetzt natürlich, dass man generell gerne Juuls Bücher liest und eher seinen Philosophien folgt als seinen konkreten Anweisungen.

Über den Buchautor: Jesper Juul
* 1948 ist ein dänischer Familientherapeut. Er ist Gründer des Kempler Institute of Scandinavia in Dänemark und Autor zahlreicher Bücher um Familienbeziehungen und Erziehung.