Krankheitsscham – Barnowski-Geiser

Waltraut_Barnowski-Geiser
Krankheitsscham – die verborgene Emotion
Erkennen, verstehen, helfen
Klett-Cotta-Verlag
ISBN: 978-3-608-89278-9
196 Seiten
27,00 Euro

Dieses Buch möchte aufmerksam machen auf eine besondere Form des Schamgefühls: die Krankheitsscham. Scham selbst kann man als Hüterin unserer menschlichen Würde beschreiben. Sie schützt unseren inneren, intimen Kern/Raum. Belastende Krankheitsscham kann man als ein Sich-Schämen deuten, welches sich in Verbindung mit einer Erkrankung, ihren Symptomen und Folgen entwickelt hat. Sie wirkt oft im Verborgenen – unbemerkt – und kann den betroffenen Menschen in seiner Entwicklung hemmen und einschränken, auf körperlicher, seelischer und geistiger Ebene, sowie im sozialen Umfeld. Dies kann weitreichende Folgen für das Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Handeln bedeuten, sowie auch weit über die Krankheit hinaus andauern.

Diese Worte kommen Betroffenen nur schwer über die Lippen: „Das ist mir wirklich unangenehm, aber ich muss mich leider erneut krankmelden und ich weiß, dass ich gebraucht werde.“ Im Raum steht: „Was werden die Kollegen und Kolleginnen wohl wieder über mich denken?“ Die Angst entdeckt zu werden, dass hinter vorgehaltener Hand getuschelt wird, man stigmatisiert und ausgegrenzt wird, begleitet Menschen, die sich für ihre Krankheit schämen. Am liebsten würden sie sich in Luft auflösen oder im Erdboden versinken.

Wie Frau R., die in der Therapie eine dicke Mauer malt, hinter der sie sitzt. „Hier steht eine Mauer aus Scham, die mich von den anderen trennt.“ […] Sie sinnt: „Die Mauer ist auch entstanden, weil ich eine Belastung und Zumutung für andere bin und selbst schuld bin, dass ich andauernd krank bin“, S.18.

Über derartige Gefühle öffentlich zu reden, kann erneut Scham auslösen, ein Grund, warum Krankheitsscham so schwer zu greifen ist und zugleich vom helfenden Part leicht übersehen und unterschätzt wird. Krankheitsscham kann dadurch zu einer tiefgreifenden Lebenserschwernis mit Beeinträchtigungen der Lebensqualität führen.

Waltraut Barnowski-Geiser kann auf lange Erfahrung im eigenen Erleben und in der Arbeit als Therapeutin mit Betroffenen zurückgreifen und gibt all den Menschen, die von dieser Emotion betroffen sind, mit dem vorliegenden Buch eine Stimme. Sie macht Mut hinzuschauen und die Chance zu ergreifen, sich selbst besser kennenzulernen und aktiv mit Krankheit und Scham umzugehen. Auch spricht sie gleichzeitig Therapeuten und Ärzte an, sich dieser Beeinträchtigung beim Patienten bewusst zu machen und im feinfühligen und achtsamen Umgang auf den Betroffenen einzuwirken.

Fachleute aus helfenden Berufen, psychologisch Interessierte und all jene, die auf der Suche sind, ihr Leid zu wenden, finden zahlreiche Hinweise zum Erkennen der Emotion, Anregungen im Umgang mit seelischen Verletzungen jeglicher Art und die dadurch entstehende Krankheitsscham sowie im besonderen Maß die Bedeutsamkeit von Bindung in diesem Zusammenhang.

Schweigen, Sprachlosigkeit und Hilflosigkeit

Seit Kindheitstagen ist die Autorin immer wieder mit belastender Krankheitsscham in Verbindung gekommen, welches durch Schweigen, Sprachlosigkeit und Hilflosigkeit spürbar und sichtbar wurde.

Als sie selbst chronisch, schwer erkrankte, brauchte sie viele Jahre, um zu erkennen, dass sie selbst sich gefangen fühlte und keine Worte fand, um ihren Prozess greifbar und sichtbar zu machen. Heute nennt sie diese verborgene Emotion „Krankheitsscham“. So schreibt sie:

„Mit fortschreitender Erkenntnis begegneten mir zunehmend Menschen in meiner therapeutischen Praxis, die von Krankheitsscham belastet waren. In der therapeutischen Szene fanden sich zu diesem speziellen Phänomen keine Arbeit. Ich machte mich somit auf eine Pionierreise. Dieses Buch möchte hier erhellen und sensibilisieren, einen neuen Therapiepfad aufzeigen“, S. 180.

Krankheitsscham eine Bürde aus Kindheitstagen?

Die Quelle von Krankheitsscham nimmt häufig in der frühen Kindheit ihren Anfang. Mit dem Wissen um die Entstehung von Krankheitsscham können Eltern sensibilisiert werden, im Umgang und Heranwachsen ihrer Kinder mit ihren Bindungsbedürfnissen nach Nähe und Sicherheit. Dies gibt Halt und sorgt für die Entstehung von sicherer Bindung. Wird das Bedürfnis nach Nähe zu seiner Bezugsperson frühzeitig und häufig verletzt, können die Kinder unter existenziellen Stress geraten, Ängste und Nöte entwickeln, die zu Abspaltungen ihrer verletzlichen Emotionen führen können. Die damit einhergehenden inneren emotionalen Blockaden können dabei ihr Selbstwertgefühl beschädigen und begünstigen die Entstehung von Krankheitsscham, die sich durch das ganze Leben ziehen kann.

Ursache für Krankheitsscham in der Kindheit

Inwieweit die Ursache für Krankheitsscham in der Kindheit verwurzelt liegen kann, verdeutlicht folgende Passage:

„[…] belastende Krankheitsscham zeigten insbesondere Personen mit ungünstigen Bindungs- und Resonanzerfahrungen bei nahen Bezugspersonen sowie diejenigen, die ein familiäres Klima der Herabwürdigung und Tabuisierung erleben mussten. Die daraus oft resultierenden Bindungs- und Selbstwertprobleme sowie einhergehende Schwierigkeiten im emotionalen Bereich, die unbehandelt bis ins Erwachsenenalter andauerten, boten einen idealen Boden für belastende Krankheitsscham. Diese Belastung aus Kindheitstagen trifft nicht nur Menschen aus sozial schwachen oder auffällig gewordenen Familien, sondern auch diejenigen aus der scheinbar `ganz normalen´ oder gutsituierten `Familie von nebenan´. Mangelnde elterliche Responsivität und fehlende Feinfühligkeit bei wichtigen Bezugspersonen waren in der Vorgeschichte nicht selten anzutreffen: Tabuisiertes Familienklima begünstigte das Entstehen von Scham- und Schulddynamiken sowie Beziehungs- und Bindungsprobleme in der Kindergeneration, ein geeigneter Boden für Krankheitsscham. Wer in Kindheitstagen liebevoll zu den eigenen Eltern aufschaute, ebenfalls Liebe und Wertschätzung erhoffte, diese jedoch selten oder gar nicht fand, entwickelte oft ungünstige Copings und Glaubenssätze, die das weitere Leben nachhaltig beeinflussten. Es können Entwicklungstraumata entstehen, die in der mit ihnen einhergehenden Tendenz zur Abspaltung förmlich Teil der Persönlichkeit werden (Charf, 2018). Damit einhergehen eine Reihe von Symptomen, insbesondere der Verlust des Zutrauens zur eigenen Wahrnehmung, das nicht mehr auf den eigenen Körper achten, ein `Sich nicht richtig fühlen´. Die Welt mutiert zu einem Ort der Bedrohung, an dem Krankheit eine gefährliche kaum zu bewältigende Herausforderung darstellt. Der mit der Erkrankung zugleich erlebte Kontrollverlust kann überflutende Krankheitsscham auslösen. Wird schwere Krankheit chronisch, womöglich unheilbar, so verbinden sich diese Symptome ungut zu einem schwer identifizierbaren Knäuel namens Krankheitsscham“, S. 29-30.

Wie erkennt man eine verborgene Emotion?

Um Krankheitsscham zu erkennen, widmet sich die Autorin weitumfassend den Symptomen, Atmosphären, den Einflüssen von Familie und Umfeld, gesellschaftlichen Werten im Umgang mit Krankheitsscham, Resonanzen, Emotionen, Wunden aus Kindheitstagen, Krankheitsbildern und die damit verbundene Krankheitsscham sowie der Gefahren im Umgang mit Menschen, die in ihrer Krankheitsscham sich gefangen fühlen. Untermauert hat sie diese Punkte mit zahlreichen Beispielen aus ihrer Praxis und im Austausch mit ihren Klienten und wissenschaftlichen Erkenntnissen aus der Integrativen Therapie und Kreativen Leibtherapie, der modernen Psychoanalyse, der Entwicklungspsychologie, der Psychoneuroimmunologie, sowie der Neurowissenschaft und der Bindungsforschung.

Hier ein Beispiel zum Einfühlen:
Frau S. leidet bis zum heutigen Tage unter den kritischen Blicken ihrer Mutter. Nun ist sie beunruhigt. Bei ihr wurde Brustkrebs diagnostiziert. Es würde nun Bestrahlung beginnen, damit käme sie gut zurecht. „Aber“, sie weint, „ich komme nicht damit zurecht, wenn mein Mann jetzt geht.“ Auf Nachfragen hin erzählt sie, dass es keinerlei Aussagen oder Anzeichen für eine bevorstehende Trennung gäbe. „Es ist einfach ein Gefühl.“ Ich lade sie ein, dieses Gefühl erklingen zu lassen. Frau S. wählt einen lauten Trommelschlag. Ein „Totschlagsatz“ ihrer Mutter falle ihr ein: „Welcher Mann bleibt schon bei einer kranken Frau!“, habe die Mutter gebetsmühlenartig geäußert. „Das muss nicht stimmen!“, sinnt Frau S. mit neuer Einsicht: „Ich habe mit der Muttermilch aufgesogen, dass kranke Frauen verlassen werden“, S. 23.

Lebenslange Nachwehen

Anhand dieses Beispiels wird deutlich, dass Krankheitsscham ein wichtiges Thema im Rahmen einer Erkrankung sein kann und dass kritische Blicke Auslöser sein können, die ins Leben hineinwirken und seelische Verletzungen immer wieder spürbar werden lassen.

So z. B. häufig auch bei Müttern und Vätern, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung oder einer postpartalen Depression nach der Entbindung leiden und ihren Kindern emotional nicht ausreichend beantworten können. Aus diesen ungünstigen Bedingungen kann sich Krankheitsscham beim Kind entwickeln. Aber auch Themen, die mit Trennung der Eltern aufkommt, Verluste wichtiger Menschen, Entwürdigungen im sozialen Umfeld, Existenzängste, Armut, Verleugnungen, Überforderungen in Familien, Kita, Schule, Pandemien etc. können Nährboden für Krankheitsscham sein.

Belastende Krankheitsscham geht häufig einher mit Schweigen, Rückzug, fehlender Blickkontakt, Erröten, Isolation, Sich-Schämen für sein derzeitiges Sein, Selbstverletzung und zeigt sich als Aggression in Form von Projektion auf vermeintlich Schuldige, sowie Nichtigkeitsgefühle und existentielle Ängste, um nur einige Symptome von Krankheitsscham zu benennen. Aus der Neurowissenschaft ist bekannt, dass Krankheit und Scham auch transgenerational d. h. von einer Generation auf die nachfolgende Generation weitergegeben werden kann, wenn es nicht möglich war, diese Krankheitsscham aufzuarbeiten.

Wenn der Blick ins Leere geht

Vor dem Hintergrund dieses Wissens bekommt auch der elterliche Blick in der Säuglings- und Kindheitsentwicklung nochmal eine besondere Bedeutung.

Anhand des „Still Face Experiments“ von Dr. Edward Tronick verdeutlicht die Autorin, wie schnell ein Kind verunsichert werden kann, wenn seine Bezugsperson aus dem Kontakt geht und auf das Kind nicht reagiert, sodass es sich in seiner Unsicherheit allein fühlt. Passiert dies regelmäßig und zu oft, kann dies zu Krankheitsscham führen. „Ich bin es nicht wert, dass sich jemand um mich kümmert. Ich bin eine Zumutung für andere.“ – Derartige Glaubenssätze, die sich durch solche Erfahrungen einprägen können, wirken bis ins spätere Leben hinein.

Krankheitsscham verstehen

Das Bewusstsein für eine ganzheitliche Betrachtung ist notwendig und hilfreich im Erkennen, Verstehen und Helfen von Krankheitsscham. So kann körperliches Leid in Verbindung mit seelischem stehen und beide bedingen sich und bedürfen Beachtung, um einen gesunden Umgang und Heilung zu ermöglichen. Zu oft wird seelisches Leid bei körperlichen Symptomen nicht in den Blick genommen, dabei trägt das Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele dazu bei, wieder in Kontakt mit sich selbst zu kommen, als Grundvoraussetzung für Heilung und gute Selbstfürsorge.

Zugänge finden zum Verborgenen

Auch der helfende Part wie etwa Therapeut:innen, Eltern, Erzieher:innen, Lehrer:innen, Sozialarbeiter:innen etc. sollte sich seiner Themen/Haltungen bewusst sein, um unterstützend wirksam zu werden. Krankheitsscham ist schwer zu greifen und die Gefahr liegt nahe, dass bei unachtsamem Umgang, die Hilfe ins Leere führen kann, weil die Krankheitsscham den Zugang zu schnell verwehrt.

Um helfen zu können, ist es von Vorteil den Blick auf die Quellen von Krankheitsscham zu richten. So sieht die Autorin frühe und systemische Erfahrungen (z. B. in Familie und Umfeld), als Quelle und gibt einen umfangreichen Einblick auf die Auswirkungen aus psychoanalytischer Perspektive, sowie auch aus der neurowissenschaftlichen, indem sie eine gefährliche Kindheitsarchitektur in den Blick rückt. Auch geht sie explizit auf Themen wie Beschämung, Kränkung, Machtmissbrauch, Gewalttätigkeit und die Auswirkungen der Krankheit in Bezug auf Heilungsstätte und Tatort ein. An zahlreichen Beispielen gelingt es ihr, die Leser:innen abzuholen aus dem fachlichen Hintergrund hin zum Erleben im Alltag, um sich einzufühlen und ggf. mit vorhandenen eigenen Themen in Kontakt zu kommen.

Nicht nur der Blick auf die Ursachen werden von ihr intensiv veranschaulicht, sondern zahlreiche Anregungen laden ein, die Beziehung und die Haltung z. B. zum eigenen Kind zu reflektieren, auch zu würdigen, was bisher war und gleichzeitig in Resonanz zu gehen und auf Stimmungen, Atmosphären, Blicke, Gesten, Äußerungen zu achten und aufmerksam zu werden, für das, was im Verborgenen liegen kann, aber möglicherweise Hilfe braucht, um sichtbar und greifbar zu werden.

Hilfe durch Therapie

Wie ein einfühlsames Zusammenspiel im therapeutischen Kontext aussehen kann, verdeutlicht Waltraut Barnowski-Geiser anhand weiterer Beispiele aus dem Praxisalltag. Damit untermauert sie ihre genannten Methoden, vorwiegend aus der Integrativen Therapie und Kreativen Leibtherapie, welche Musik, Kunst, Tanz, Bewegung miteinander vereint und erblühen lässt. Für Therapeuten aus anderen Fachrichtungen können diese Einblicke als Einladung verstanden werden, sich neuen Möglichkeiten zuzuwenden und Impulse zu sammeln für ihre Arbeit mit Klienten. Für Kreative Leibtherapeuten ist dieses Kapitel ein reicher Schatz an Methoden, die vielen sicherlich bekannt sind; aber das tiefere Eintauchen ins Thema „Krankheitsscham“ sensibilisiert und differenziert für die besonders schwierige Arbeit im Umgang mit dieser verletzlichen Emotion.

So finden Therapeuten Anreize im Umgang mit primären und affektiven Leibbewegungen, Körperbildarbeit, Entwicklungs- und Krankheitsgeschichte, Zugänge zu transgenerationalen Ebenen, Bindungs- und soziale Netzwerkarbeit, um nur einige zu nennen.

Um eine allumfassende Diagnostik aus leiborientierter Sicht zu erstellen, hat Waltraut Barnowski-Geiser für Therapeuten einen Diagnostik-Fragebogen zur Auseinandersetzung mit dem Krankheitsbild erarbeitet. Dieser zeigt und lädt Therapeuten dazu ein, sich Themen für geplante Interventionen und Methoden zu notieren und mit Kollegen und Supervisoren, die mit der Arbeit zum Thema Krankheitsscham vertraut sind, in Austausch zu kommen. Dazu ist ihr gelungen, ein Hilfekonzept namens „Vivace“ zusammenzustellen, auf welches sie im letzten Teil des Buches näher eingeht.

Schlussbemerkung

Waltraut Barnowski-Geiser ist es sehr gut gelungen, das Thema Scham nochmals von einer neuen und besonderen Perspektive in den Blick zu nehmen und der Krankheitsscham eine besondere Beachtung zu schenken.

Die Auseinandersetzung mit diesem Thema verstehe ich als wichtigen Aspekt, für das Zusammenleben in Würde mit Kindern, Jugendlichen, Bedürftigen, kranken und alten Menschen, in welcher Form auch immer. Dieses Buch geht unter die Haut und lässt Verborgenes sichtbar und greifbar werden und lädt gleichzeitig dazu ein, im achtsamen Zugewandtsein, in Resonanz zu kommen, die helfende Hand zu reichen/anzunehmen, um das zu wandeln, was Beachtung, Liebe und Heilung bedarf.

von Jennifer Hein

Barnowski-Geiser, Waltraud

Über die Buchautorin: Dr. Waltraut Barnowski-Geiser

Künstlerische Therapeutin, Lehrende und Autorin. In der Praxis KlangRaum in Erkelenz bietet sie Hilfe für Menschen mit Kindheitsbelastungen auf der Basis des von ihr entwickelten AWOKADO-7-Schritte-Programms. Webseiten Klangraum am Hügel + Blog: Jetzt.besser.Leben