Alfi Kohn öffnet uns die Augen, wie Kinder in der westlichen Kultur auf Leistung getrimmt und von Eltern und Großeltern, Lehrern und anderen Menschen nicht sehr häufig bedingungslos geliebt werden.
Vom Unsinn der „verdienten“ Anerkennung
Das hat Folgen für die störungsfreie Entwicklung der Kinder und die Selbstwerteinbußen, die sie mit ins Leben nehmen. Wir merken es oft gar nicht, was wir mit Kritik und Schlimmeren anrichten und werden von Kohn aufgeklärt, dass sogar das zielgerichtete Lob, um Kinder zu bestärken, auch nicht viel mit bedingungsloser Liebe zu tun hat. Wir üben Kontrolle aus und sichern uns unsere Macht. Aber Kinder sind genauso wertvoll wie Erwachsene und verdienen Zuwendung und Respekt und keine Abwertung. Und sie sollen sich nicht nur dann geliebt fühlen, wenn sie gelobt oder belohnt werden. Dadurch lernen sie, dass sie etwas leisten und unsere Erwartungen erfüllen müssen, um sich gut zu fühlen. Ihre Autonomieentwicklung wird behindert.
Die schwere Last des Elternseins
Wir erfahren dann, wie man bedingungslose Liebe schenken kann, gerade dann, wenn das Kind in seiner Laune, seiner Enttäuschung und seiner Aggression unsere Unterstützung braucht. Wir fragen uns selten, warum ein Kind etwas Unangenehmes macht. Wir bereiten es nicht vor, erklären zu wenig, reißen es willkürlich aus seinem Spiel, verfolgen unserer eigenen Ziele. Und das v.a. dann, wenn die Eltern selbst nicht allzu viel Gutes und Unterstützendes von ihren eigenen Eltern erfahren haben. Sie scheinen die Kinder für sich selbst zu brauchen und machen ihr Wohlbefinden vom Gehorchen pflegeleichter Kinder abhängig. Wir fragen uns manchmal, wenn wir schreckliche Szenen in Einkaufszentren sehen, warum diese Eltern sich wohl Kinder angeschafft haben? Menschen unserer Kultur denken meist nicht daran, wie man Kinder erzieht, damit sie sich glücklich und geliebt fühlen und fest auf unsere bedingungslose Liebe vertrauen, sondern setzen ein anderes Erziehungsziel: unsere Kinder sollen funktionieren. Leider ist das zu wenig und schadet ihnen.
Einige Kapitel heißen: „Zu viel Kontrolle“, „Strafen sind schädlich“, „Zum Erfolg gedrängt“ und dann:
„Was hindert uns, bessere Eltern zu sein?“
Schließlich gibt es einen Abschnitt, wo der Leser üben kann, wie er wohl in kniffligen Situationen mit seinen Kindern reagiert. Und im letzten Kapitel nehmen wir mit Alfi Kohn die Sicht der Kinder ein. Wenn Sie auf Grund mangelnder Reife „Blödsinn“ machen, wird das von den wütenden Eltern als Absicht interpretiert, sie zu ärgern und „Grenzen auszutesten“. Dabei ließe sich „Unfug durch mangelnde Geschicklichkeit oder Anleitung erklären, den unschuldigen Wunsch, etwas zu erforschen, die Unfähigkeit, vorauszusehen, was passiert, wenn man diesen Gegenstand nimmt und das damit macht …“
Bei den zornigen Ausrufen der Eltern: „Warum um Himmels willen machst du das? Bist du doof?“, stellt sich Kohn vor, wie das Kind antwortet: „Nein, ich bin nicht doof, ich bin drei!“.
Aus Sicht des Kindes
Die berühmte Psychoanalytikerin Alice Miller wird erwähnt, um zu klären, was Therapeuten dazu sagen, dass die Eltern in unserer Kultur sich oft nicht ausreichend in kleine Kinder hineinversetzen können, obwohl sie doch selbst solche unfeinfühligen Behandlung (über Generationen) erlebt haben. Sie müssten doch eigentlich mitfühlend reagieren können. Es wäre aber noch schwerer, sich in die eigene Kindheit zu versetzen, denn „es sei zu schmerzlich, sich einzugestehen, was uns einst angetan wurde“. Alice Miller: “Die Verachtung ist die Waffe der Schwachen“ […]deshalb werden die Gefühle der Kinder belächelt und nicht ernst genommen. Dies aus Gründen der Selbsterhöhung der Eltern (gegen eigene Ängste, zu versagen) oder auch aus Rache die Kinder ignoriert, abgewertet und Verbote erteilt (!) – alles unbewusst. Auf diese Weise müssten die Erwachsenen nicht noch mal den eigenen Schmerz erinnern bzw. fühlen.
Spuren der frühen Kindheit
Das innere Kind: Als Therapeutin kann ich dies gut nachvollziehen. Mit Hilfe der Traumatherapie, EMDR und der Arbeit mit dem Inneren Kind kann man bei den Eltern, die ihre Grenzen kennen und eine Therapie gegen ihre Reizbarkeit dem Kind gegenüber möchten, helfen, die alten Spuren im Gehirn abzuschwächen. Auf diese Weise sollte die transgenerationale Weitergabe (heute auch durch die Wissenschaft der Epigenetik bestätigt) unterbrochen werden.
Trotzphase: Es gibt noch einen Anhang zur Bedeutung von Kultur, sozialer Schicht und ethnischer Zugehörigkeit. Bestätigung fand ich bei meiner Beobachtung, dass nicht alle Kinder trotzen. Das Trotzalter sei nicht universell!
Schreien lassen: Mütter des Gusii-Stammes in Kenia vermeiden das Weinen der Babys, das sei ein moralisches Gebot! Sie waren schockiert zu erfahren, dass das bei amerikanischen Müttern etwas anders ist, selbst wenn diese ihre Babys nur Sekunden schreien lassen, wäre das in Kenia undenkbar. Ergänzen möchte ich: die Babys schreien dort nicht auf Grund des ständigen Körperkontakts, was auch bei unseren Müttern, die ihre Babys viel tragen, zutrifft.
Kommunikation: Eltern, die wirklich gute Eltern sein möchten und wollen, dass ihre Kinder sich sicher sind, bedingungslos geliebt zu werden und ihnen großes Vertrauen schenken können, sollten dieses Buch gründlich studieren. Ergänzen möchte ich, dass das Buch von Faber und Mazlish „Nun hör doch mal zu“ (1. Auflage) oder „So sag ich`s meinem Kind“ (2. Auflage) noch mehr konkrete Anleitung zur liebevollen Kommunikation in schwierigen Phasen gibt.
von Antje Kräuter
Über den Buchautor: Alfie Kohn
Alfie Kohn gilt mit über zwanzig Veröffentlichungen als Jesper Juul der USA. Seine Bücher erschienen in 17 Sprachen in vier Kontinenten. Er wurde u.a. bekannt mit seiner Kritik an Hausaufgaben und der Fixierung der Bildung auf Noten, Tests und Wettbewerb. Seine Gedanken über Kooperation und Autonomie haben das Denken vieler Erzieher, Eltern und Manager auf der ganzen Welt geprägt. alfiekohn.org