Unverzagt_Gerlinde_generation_ziemlich_beste_freunde

Gerlinde Unverzagt
Generation ziemlich beste Freunde
Warum es heute so schwierig ist, die erwachsenen Kinder loszulassen
ISBN:978-3-407-86438-3
256 Seiten
€ 16,95

In ihrem aktuellen Buch spricht Autorin Gerlinde Unverzagt über ein Thema, das sie persönlich berührt und beschäftigt. Sie und ihre 21-jährige Tochter Marie trennen etwa 24000 Kilometer, als die Idee zum Buch immer konkreter wird. Marie befindet sich zu diesem Zeitpunkt in Neuseeland, ihre Mutter lebt in Berlin. Bei einem ihrer Telefonate wird klar, dass der Auszug aus dem Elternhaus nicht nur auf einer Seite ein krisenhaftes Wechselbad der Gefühle auslöst, denn auch Marie steht mit dem neuen Lebensabschnitt großen Herausforderungen gegenüber. Es war also naheliegend, sowohl einen Ratgeber für verlassene Eltern zu schreiben, als auch die Seite der ziehenden Kinder zu beleuchten. Herausgekommen ist ein Mutter-Tochter-Projekt, bei dem die Sichtweisen beider gleichermaßen ernsthaft und humorvoll nebeneinander stehen. Marie ergänzt jedes der zwölf Kapitel ihrer Mutter, aus denen sie jeweils nur Stichworte kennt.

Empty-Nest – und nun?

Es ist so weit. Im Familienkalender ist ein Tag in der Spalte neben Mama und Papa dick und fett umkringelt und auch die Umzugskartons im Flur verdrängen jeden hoffnungsvollen Gedanken, dass alles ganz anders kommen könnte. Das Kind bereitet sich gerade auf seine Nestflucht vor und lässt seine Eltern zurück. Was darauf folgen kann, nennt sich “Empty-Nest-Syndrom“. Es beschreibt das Gefühl, nun plötzlich nicht mehr gebraucht zu werden und die Sehnsucht nach den gewohnten Geräuschen und Ritualen im Haus, die so lange zum Alltag gehörten. Gelingt es nicht, die entstandene Leere mit neuem Leben zu füllen, könne daraus sogar eine echte Depression werden.

„Nur wenige Dinge erschüttern eine Mutter nachhaltiger als die Erkenntnis, dass es ein Leben ohne Kinder gibt“ (S. 17), so die Autorin. Bettina Teubert, Heilpraktikerin und Familientherapeutin, pflichtet ihr bei und hat deshalb Deutschlands erste und bislang einzige Selbsthilfegruppe für verlassene Mütter gegründet. Scheinbar sind besonders häufig Frauen von dem Trennungsschmerz betroffen. Doch wie kommt es, dass Eltern, ob Mutter oder Vater, darauf hinarbeiten, selbstständige Kinder großzuziehen und in die Krise stürzen, sobald diese endlich die Flügel ausbreiten?

Eltern plus

Laut Gerlinde Unverzagt ist der Klammerblues einem Generationenwandel geschuldet. Noch nie seien sich Eltern und Kind so nahe gewesen wie heute, was dazu führe, dass die Abnabelung deutlich schwerer falle.

Verantwortlich für das neue Miteinander seien veränderte Rollenbilder, ein gewandelter Erziehungsstil, ein sich verbreitender Jugendwahn und die Digitalisierung. Hinzu kämen steigende Mieten und längere Ausbildungs- und Studienzeiten, die dazu führen, dass Kinder nur zaghaft und wesentlich später ins eigene Leben starten würden. Das Ergebnis: Klammernde Eltern und gemütliche Nesthocker.

Ferner beobachtet Unverzagt, dass Eltern sich stark über ihre Kinder identifizieren, wodurch „Elternschaft zu einem festen Bestandteil des Selbstbildes geworden“ (S. 16) sei. Kinder würden so zum Produkt ihrer Eltern werden, woraus der Anspruch entstehe, mit seinem Kind im engen Kontakt zu bleiben, auch wenn das inzwischen erwachsen ist. Damit verbunden bestehe das starke Bedürfnis vom Sprössling auch dann noch gebraucht und geliebt zu werden, wenn er flügge wird. Als Unverzagt etwa so alt wie Marie war, sei das noch ganz anders gewesen.

„Wenn große Menschen heute kleine Menschen großziehen, liegt der Akzent auf Partnerschaft“

Im Nest sitzen zu bleiben, wäre für die Autorin gar nicht in Frage gekommen. Bei der 57-Jährigen habe es eine klare Grenze zwischen ihr und ihren Eltern gegeben und der feierliche Auszug stellte das tatsächliche Ende der Behütung dar. In der Beziehung zu ihrer Tochter und auch bei anderen ihrer Generation und deren Kindern beobachtet die Autorin aktuell eine Begegnung auf Augenhöhe. Kinder und vor allem Eltern streben Freundschaft an, was dazu führe, dass Kinder nicht mehr ausziehen wollen und Mütter – falls sie es doch tun – in eine Sinnkrise fallen.

„Wie man Kinder aufzieht und festhält, nicht wie man einander entkommt und neu begegnet, sind die beherrschenden Familienthemen unserer Kultur“ (S. 49), so Unverzagt. Dabei stellt sie sich die Frage, ob Eltern plus, also Freundschaft mit den Eltern, überhaupt möglich ist? Sie findet hier folgendes Bild:
„Es ist deshalb noch lange keine Einbahnstraße, auf der Eltern und Kinder miteinander unterwegs sind. Eher eine Wippe, auf der wir uns gegenübersitzen. Die lichten Momente gleicher Augenhöhe, es gibt sie durchaus. Doch sie sind winzig, flüchtig, köstlich und kippelig. Das ganze Ding bleibt immer in Bewegung und genau das macht ja einen Heidenspaß– beim Wippen und im Leben“ (S. 51)

Auch mal auf der Elternrolle bestehen

Aus dem Buch geht hervor, dass die Autorin die neu gewonnene Nähe innerhalb der Familie weder ablehnt, noch befürwortet. Sie meint aber, dass eine Asymmetrie bleiben wird und dass diese auch wichtig sei. Nur so hätten Kinder „ein Gegenüber, an dem sie wachsen und sich messen können, gegen das sich später auch zu rebellieren lohnt, um den eigenen Weg zu finden“ (S. 57). Unverzagt ermutigt Eltern dazu, sich auch mal ganz bequem auf das Elternsein zu berufen, statt aus jeder Frage des Jugendlichen einen Akt der uneingeschränkten Diplomatie zu machen. Das würde Kinder von klein auf in den Mittelpunkt stellen, aus Angst von ihnen abgelehnt zu werden.

Die Autorin sieht auch in dem Jugendwahnsinn, dem „Diktat des Ewig-jung-Seins“ (S. 60), unserer heutigen Zeit einen Grund für die Verbrüderung. Bleibt die Verbindung zum Kind bestehen, fühlten Eltern sich weiterhin jugendlich und zugehörig, weil sie bestens informiert sind über die neuesten Trends aus dem Netz und das, was den Jugendlichen beschäftigt.

Unverzagt sieht hier ein Problem, weil eine Art Abhängigkeit von den eigenen Kindern entstehe. Außerdem würde dadurch das Bild des Erwachsenwerdens massiv abgewertet, weil das plötzlich nichts mehr erstrebenswertes, sondern eines des unausweichlichen Verfalls darstelle, meint Susan Neiman, Philosophin. Hinzu käme ein Widerspruch: „[…] Die eine Hälfte drängt uns, ernsthafte Menschen zu werden, das Träumen aufzugeben […]. Die andere Hälfte überschwemmt uns mit Produkten und Vorschlägen, die uns jung halten sollen. Nur selten erhalten wir ein Bild, das Erwachsensein als Ideal darstellt […]“ (S. 64 f.), so Neiman. Die Verbindung bleibt deshalb lieber bestehen.

„Trennung light statt Abschieds-Leid“

Möglich ist das vor allem durch digitale Gadgets wie WhatsApp oder Skype. Ich verlasse zwar früher oder (eher) später das Nest, kann aber bei jedem Anflug von Unsicherheit oder Sehnsucht zwischenlanden, um nach Rat oder dem Weg zu fragen. Als Marie für zwei Jahre quer durch Neuseeland reiste, raus aus der Komfortzone und ran an die eigenen seelischen und körperlichen Grenzen, war es für Mutter und Tochter soweit. Die Kommunikation wurde beschränkt auf E-Mails, Briefe und Telefonate. Was teilt man nun miteinander und was behält man lieber für sich?

Marie verabschiedete sich recht rasch von WhatsApp und Facebook, um einzutauchen und neue Bekanntschaften schließen zu können. Für sie lassen Kommunikationsmedien keinen Raum für  Vertrauen und Gelassenheit, außerdem nehmen sie die Möglichkeit, den Ort, die Menschen und sich besser kennenzulernen. Dass das nicht von Anfang an reibungslos klappte und Marie auch Episoden der Verzweiflung auf ihrer Reise durchmachte, zeigen ihre ungeschönten und ehrlichen Schilderungen. Ihre Mutter kann der Trennung auch etwas Positives abgewinnen: „Die große räumliche Entfernung zwischen ihr und mir erlaubte auf einmal auch eine vorher nicht gekannte gedankliche Nähe, die dem späteren Schreiben dieses Buches den Boden bereitet hat – einer doppelten Perspektive auf das emotionale Epizentrum der Generation ziemlich beste Freunde“ (S. 9).

Marie (1)

„,Willst du was gelten, mach dich selten‘, ist ein Spruch, den meine Mutter mir beigebracht hat, noch bevor ich meinen ersten BH getragen habe“ (S. 31)

Marie schildert im Buch oft Situationen und Gespräche mit ihren Freunden und Reisebekanntschaften, aber auch wie sie selbst die Dinge erlebt. Gemeinsam mit Emma fragt sie sich zum Beispiel, „[…] ob Eltern bewusst ist, wie abhängig und anhänglich sie manchmal auf uns wirken?“ (S. 27). Sie wünscht sich eigensinnigere und eigenständigere Eltern, die ihre Kinder das machen lassen, worauf sie jahrelang vorbereitet wurden. Wie es ist, wenn Eltern nicht loslassen können, beschreibt Marie unter anderem so:

„Miri versucht, als letztes Kind auch noch die drei anderen Portionen Kartoffelpuffer ihrer längst ausgezogenen Geschwister zu verdrücken, nur weil ihre Mutter sich innerlich gegen eine angepasste Portionierung beim Kochen wehrt und noch nicht so ganz verstanden hat, dass sie als aktives Familienoberhaupt und Köchin für eine Großfamilie schon vor einiger Zeit abgedankt hat“ (S. 30)

Laut Marie fühlt sich ein Großteil in ihrem Alter den Eltern gegenüber verpflichtet und tut vieles nur ihnen zuliebe. Auf diese Weise würden die Sorgen der Mutter plötzlich zu den eigenen Sorgen werden, was sehr belastend sei – besonders dann, wenn die Mutter wie im Falle von Marie alleinerziehend ist. Nichtsdestotrotz käme für sie nicht in Frage, bei ihrer Lebensplanung Rücksicht zu nehmen. Sie wollte erfahren was es bedeutet, eine Reise ins Unbekannte anzutreten und kann heute sagen, wie es sich anfühlt, danach wieder nach Hause zurückzukehren. An der Beziehung zu ihrer Mutter habe sich seitdem nichts verändert. Es gäbe nach wie vor ganz viele Dinge, die am meisten Spaß mit ihr machen.

„Gelassenheit steht auf der Tür, die aus dem Dilemma führt und hinter der das Glück wartet […]“ (S. 107)

Noch einmal auf Null

Maries Erfahrung, dass sich in ihrer Gefühlswelt ihren Eltern gegenüber nichts verändert hat, lässt vielleicht aufatmen und auch die Autorin macht Mut. Sie spricht von „neue[n] Freuden wie die des frischen Blicks auf den jungen Menschen […]“ (S. 37), der sich nun auf seine ganz eigene Reise mache. In der Zeit nach dem Auszug würden die Kinder einen deutlichen Entwicklungsschub erleben, der besonders dann gelinge, wenn sich Eltern im entscheidenen Moment zurückziehen. „Wir stehen zum Anlehnen bereit und machen uns gleichzeitig überflüssig […]“ (S. 38), lautet der Arbeitsauftrag. Weiterhin rät Unverzagt, sich innerlich auf die Trennung vorzubereiten und Zeit dafür einzuplanen, sodass ein sanfter Übergang für Eltern und Kind geschaffen werden kann.

Auch Rituale wie ein gemeinsames Kistenpacken oder Ausmisten können helfen, einen feierlichen und würdigen Abschluss für die vielen Jahre unter einem Dach zu finden. Hat sich das Kind mitsamt Bett und Kleiderschrank verabschiedet sei das die Chance, das Kinderzimmer inklusive Terminkalender mit neuem Leben zu füllen. Rauf auf den Stepper, raus in die Natur, neue Wege gehen oder Altes wieder aufleben lassen und alles noch einmal auf Null stellen – so oder so ähnlich könnte das Motto in den folgenden Jahren heißen.

Marie (2)

Als Marie nach ihrer Neuseelandreise wieder bei ihrer Mutter einzieht, raten ihr die beiden älteren Geschwister, jetzt nach dem Probe-Nestflug endgültig loszufliegen. Bei diesem Gedanken wird der jungen Frau ganz mulmig, da sie ahnt, dass auf ihren Auszug bald der ihres kleinen Bruders folgen würde. Dann wäre ihre Mutter alleine und würde die vertraute Altbauwohnung sicher bald auflösen und damit den Ort, der für 15 Jahre Heimat hieß. Allerdings habe sie erkannt, dass letztendlich nicht der Ort entscheidet, wohin und ob Kinder zurückkehren, sondern die Menschen. „Warum also beschwören unsere Elternvögel das Bild von einem leeren Nest herauf […], anstatt freudestrahlend das Nest zu zertreten, den kleinen Ästen beim Fallen zuzusehen und dann in Richtung Norden zu fliegen, um sich irgendwann auf der anderen Seite der Welt wiederzutreffen?“ (S. 250), fragt Marie und bringt das Buch zu einem positiven Schluss.

Die Nestflucht aus zwei Perspektiven: Ein gelungenes Projekt von Gerlinde Unverzagt und ihrer Tochter Marie

„Murki, was ist los bei euch?“, steht auf meinem Handy, kurz bevor ich mit dem Lesen dieses Buches beginne. Ich hatte mich schon seit einer Woche nicht mehr bei meiner Mama gemeldet und spüre ihre stille Enttäuschung. Außer festzustellen, dass sie mal wieder ein wenig jammert und dass ich ja eigentlich auch sehr gerne mehr in ihrer Nähe wäre, habe ich in den letzten Jahren nie tiefgreifender über unsere Mutter-Kind-Beziehung nachgedacht. Jetzt da ich das aktuelle Buch von Gerlinde Unverzagt kenne, hat sich das geändert.

Die Autorin stellt zu ihren Erfahrungen mit der Nestflucht ihrer vier Kinder auch die anderer Eltern und ergänzt das mit Experten- und Psychologenmeinungen. Dadurch fühle ich mich gut informiert und finde spannend, wie groß und vor allem wichtig dieses Thema für viele Eltern und Kinder ist. Unverzagt ist humorvoll und zugleich sehr klar. Es gelingt ihr, treulose Jungvögel wie mich, als auch besorgte Vogelmütter wie meine Mama mit Lesestoff zu füttern. Ihre Tochter Marie bereichert das Buch und schafft lockere Lesemomente, indem sie durch persönliche Schilderungen vom Leben erzählt – ungeschönt und mit einem Augenzwinkern.

Schade finde ich, dass Männer in ihrer Vaterrolle nicht nur selten vor–, sondern auch schlecht wegkommen. Es wird suggeriert, dass Frauen durch ihre Kinder hoffen, ihren Partner an sich zu binden, was am Ende nicht klappen würde, da  „immer mehr Väter sich anschicken, von selbst das Weite zu suchen […]“ (S. 33). Hier und auch an anderen Stellen frage ich mich, ob der Leser noch schmunzeln darf oder schon muss.

von Loreen Friedrich

Buchautorin Gerlinde Unverzagt

Unsere Buchautorin: Gerlinde Unverzagt

wurde am 17.Mai 1960 in Marburg an der Lahn geboren. Inzwischen lebt die alleinerziehende Mutter von vier Kindern in Berlin – zwei ihrer nicht mehr ganz so kleinen Sprösslinge haben bereits den Auszug und damit den Schritt ins eigene Leben geschafft. Nun wird wohl auch bald Tochter Marie und der Jüngste nachziehen, wobei Gerlinde Unverzagt mit Sicherheit gut darauf vorbereitet ist. Langweilig wird ihr jedenfalls nicht. Als freiberufliche Autorin und Journalistin schrieb sie bereits zahlreiche Ratgeber und Sachbücher zu Themen aus Erziehung, Familie und Partnerschaft. Manchmal veröffentlicht sie auch unter dem Pseudonym Lotte Kühn.